Ich und Wir

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
Hermeneuticus
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Di 29. Aug 2017, 19:03

Stefanie hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 12:17
Ansatzpunkt für mein grübeln ist seit geraumer Zeit der sog. Claim der Aktion Mensch "Das Wir gewinnt". Mich stört daran was, ohne im Moment genau zu wissen was.
Sag mal, Stefanie, kannst Du inzwischen genauer sagen, was Dich daran stört? Ich frage, damit die Diskussion nicht womöglich völlig von Deiner Frage abhebt.




Hermeneuticus
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Di 29. Aug 2017, 19:16

Friederike hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 13:59
Aber der Slogan mit dem "Das Wir gewinnt", der mißfällt mir auch. Dazu wäre meine Idee, Stefanie, daß dieser Spruch sehr an uniformierende Denkmuster erinnert, der Einheitsbrei der Mehrheiten, ein die Vielfalt ausschließendes "Wir" ... so in die Richtung assoziiere ich.
Hmmm, das assoziiere ich nicht mit dem Spruch. Schon gar nicht, weil er von der "Aktion Mensch" kommt, die sich einsetzt für "die Umsetzung von Inklusion, das heißt der gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft" (Zitat aus dem Wiki-Artikel). Es geht also um Solidarität. Und der Slogan soll m.E. ausdrücken, dass die Gesellschaft insgesamt - das Wir - davon profitiert, wenn wir die Inklusion von unverschuldet Benachteiligten vorantreiben. Inklusion soll also nicht verstanden werden als ein Almosen oder gar Opfer, sondern gewissermaßen als eine Investition, die letztlich uns allen zugute kommt.




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Friederike
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Di 29. Aug 2017, 19:56

Hermeneuticus hat geschrieben : Hmmm, das assoziiere ich nicht mit dem Spruch. Schon gar nicht, weil er von der "Aktion Mensch" kommt, die sich einsetzt für "die Umsetzung von Inklusion, das heißt der gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft" (Zitat aus dem Wiki-Artikel).
Als ich meine Assoziation notierte -ojemine *erbleich*- aber es ist wahr, ich wußte nicht, was die "Aktion Mensch" ist.




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Stefanie
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Di 29. Aug 2017, 20:13

Mein Beitrag ist weg. Futsch. Eine halbe Stunde tipperei ist weg. Wo ist mein Beitrag? Ich habe auf absenden geklickt.
Frust hoch zehn.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Stefanie
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Di 29. Aug 2017, 20:17

Ich tippe mal darauf, dass mir angezeigt wurde, das zwischenzeitlich ein neuer Beitrag erschienen ist, der von Friederike, und dann, habe ich falsch geklickt.



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Stefanie
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Di 29. Aug 2017, 21:15

2.Versuch:
Hermeneuticus:
Es geht also um Solidarität. Und der Slogan soll m.E. ausdrücken, dass die Gesellschaft insgesamt - das Wir - davon profitiert, wenn wir die Inklusion von unverschuldet Benachteiligten vorantreiben. Inklusion soll also nicht verstanden werden als ein Almosen oder gar Opfer, sondern gewissermaßen als eine Investition, die letztlich uns allen zugute kommt.
Das ist schon richtig so, so sieht es die Aktion Mensch. Aber:
Mir ist die Focussierung auf das "Wir" zu stark.
Die Menschen, um die es geht, müssen seit ihrer Geburt, seit einem Unfall, seit einer Krankheit um ein Stückchen Individualität und um jedes bißchen persönliche Freiheit kämpfen. In vielfacher Weise. Einfach in ein Kino gehen, in der Regel nicht möglich. Aus vielfältigen Gründen.
Inklusion soll meiner Meinung nach den Einzelnen, die Einzelne stärken, ihre Individulität fördern, sie autonom und autark machen. Das hat die mittelbare Folge, dass das Wir gestärkt wird. Eben mittelbar, durch starke autonome Individuen. Inklusion soll nicht in erster Linie die Gesellschaft stärken.
Den Focus auf das Wir zu setzen, übersieht diesen Punkt. Nicht der Einzelne/die Einzelne steht dabei im Vordergrund, sondern die Gesellschaft.
Schau Dir mal die Internetseiten von sozialen Organisationen in diesem Bereich und die Aktion Mensch Seite an. In der Regel werden Gruppenbilder gezeigt. Selten ein Person für sich alleine. Die Aktion Mensch fördert u.a. das gemeinsame Wohnen, und was ist mit dem Einzelwohnen?

Ich leugne keineswegs die Notwendigkeit von Erziehung und die Notwendigkeit einer sozialen Gesellschaft, so wie Du es beschreibst. Alleine kann der Mensch nicht leben.
Aber die Gesellschaft- das Wir- darf nicht übermächtig werden, so zusagen nicht übergriffig. Das Individuen nicht unterdrücken. Weder die persönliche Freiheit des einzelnen behindern noch sie verhindern.
Hannah Arendt schreibt, wir sind mit der Mitgift der Freiheit geboren. Wir haben sie also schon die Freiheit, wir bekommen sie nicht oder "erlernen" sie nicht.
Die gesellschaftlichen Kulturtechniken etc. sind nicht dazu da, jemanden erst zu ermöglichen, persönlichen Freiheit zu erlangen, sondern sie sollen dafür sorgen, dass die persönliche Freiheit erhalten bleibt. Ich finde das ist ein Unterschied.
Hat eine Gesellschaft - ein Wir- keine starken, autonomen und selbstbewussten Individuen ist das Wir zum scheitern verurteilt. Das Wir ist eine weiße einheitliche Masse, dem aufgrund des Fehlens von starken Individuen Gefahr läuft, wie Lemmlinge irgendwem widerspruchslos hinterherzulaufen. Die schwarzen Schafe in der einheitlichen Masse werden entweder ignoriert oder niedergeblökt. Bestenfalls.
Hatten wir schon alles in der Geschichte und haben es noch, wo Millionen von Menschen einem Diktator hinterlaufen, weil es keine starken Individuen gibt, die keine persönlichen Freiheit haben.
Das Wir kann ohne starke Individuen nicht überleben.

Konkret kritisiere ich an dem Slogan der Aktion Mensch folgendes.
Vorab die Aktion Mensch ist unglaublich wichtig. Sie macht Lobbyarbeit und fördert Projekte. Sie ist oft progressiver als andere Organisationen. Die Gesellschaft - das Wir- hat bislang in Deutschland so seine Probleme mit starken, autonomen Menschen mit Behinderung. Viel wird von der Gesellschaft vorgegeben, was ein Mensch mit Behinderung tun darf, wie er leben darf usw. Die neues Gesetzeslage wird dies noch verstärken. Das Wir bestimmte und bestimmt noch.
Einen Slogan auszuwählen, in dem das Wir im Vordergrund steht, zeigt, dass selbst die Aktion Mensch noch nicht vollständig von dem das "wir bestimmt" weg ist. Der Slogan ist zu angepasst, zu nett. Der einzelne Mensch mit Behinderung erscheint immer noch nicht direkt.

... und den Rest des verschusselten Beitrages bekomme ich nicht wieder hin.



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Jörn Budesheim
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Mi 30. Aug 2017, 05:57

Stefanie hat geschrieben :
Di 29. Aug 2017, 21:15
Mir ist die Focussierung auf das "Wir" zu stark.
Die Menschen, um die es geht, müssen seit ihrer Geburt, seit einem Unfall, seit einer Krankheit um ein Stückchen Individualität und um jedes bißchen persönliche Freiheit kämpfen. In vielfacher Weise. Einfach in ein Kino gehen, in der Regel nicht möglich. Aus vielfältigen Gründen.
Inklusion soll meiner Meinung nach den Einzelnen, die Einzelne stärken, ihre Individulität fördern, sie autonom und autark machen. Das hat die mittelbare Folge, dass das Wir gestärkt wird. Eben mittelbar, durch starke autonome Individuen. Inklusion soll nicht in erster Linie die Gesellschaft stärken.
Jetzt hast du mir auch ein Aha-Erlebnis verschafft, dann sind wir ja quitt :)

Dein Punkt ist wirklich sehr bemerkenswert. Ich schätze aber, dass die Zielgruppe des Slogans nicht die Menschen sind "um die es geht", wie du sagst, sondern die Menschen, die möglicherweise bereit sind Geld zu spenden... Deren Wir-Gefühl soll angesprochen werden, Ihnen soll gesagt werden, dass "wir" gewinnen, wenn man "ihnen" hilft. Was jetzt natürlich etwas zu negativ formuliert ist... Wenn man stattdessen ganz weg geht von dem Spenden Aspekt, dann könnte der Slogan bedeuten, dass Inklusion ein Gewinn für alle ist.




Hermeneuticus
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Mi 30. Aug 2017, 10:36

Stefanie hat geschrieben :
Di 29. Aug 2017, 20:13
Mein Beitrag ist weg. Futsch. Eine halbe Stunde tipperei ist weg. Wo ist mein Beitrag? Ich habe auf absenden geklickt.
Frust hoch zehn.
Hast Du ihn vielleicht versehentlich unter "Entwürfe" gespeichert?




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Stefanie
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Mi 30. Aug 2017, 11:19

Das wäre schön gewesen, wenn es so gewesen wäre. Schwamm drüber, das nächste Mal muss ich eben besser aufpassen.



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Stefanie hat geschrieben :
Di 29. Aug 2017, 21:15
Inklusion soll meiner Meinung nach den Einzelnen, die Einzelne stärken, ihre Individualität fördern, sie autonom und autark machen. Das hat die mittelbare Folge, dass das Wir gestärkt wird. Eben mittelbar, durch starke autonome Individuen. Inklusion soll nicht in erster Linie die Gesellschaft stärken.
Den Focus auf das Wir zu setzen, übersieht diesen Punkt. Nicht der Einzelne/die Einzelne steht dabei im Vordergrund, sondern die Gesellschaft.
Das kann ich so nicht sehen. "Wir" bildet nach meinem Verständnis nicht automatisch einen Gegensatz zur Individualität. Die Gemeinschaft, die "wir" sagt, kann doch auch aus starken Individuen bestehen. Und umgekehrt beweist sich individuelle Autonomie und Stärke nicht automatisch dadurch, dass das Individuum sich durch einen gelebten Gegensatz zur Gemeinschaft verwirklicht.

Du scheinst "Wir" und Individuum primär als Gegensatz zu verstehen - so, dass die Stärkung des Wir grundsätzlich auf Kosten des Individuums geht und umgekehrt. Dass das Individuum gerade durch die Einbindung in eine Gruppe - z.B. eine Wohngemeinschaft aus Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen und Interessen - gestärkt werden könnte, scheint für Dich ausgeschlossen zu sein. Aber denk doch z.B. mal an die immer beliebter werdenden Wohngemeinschaften von Rentnern: werden die gegründet, weil sich die Mitglieder danach sehnen, sich dem Wir zu unterwerfen? Oder nicht doch eher, weil sie sich davon ein besseres Leben als Individuum versprechen, als es z.B. das Einzelzimmer im Pflegeheim erlauben würde?
Ich leugne keineswegs die Notwendigkeit von Erziehung und die Notwendigkeit einer sozialen Gesellschaft, so wie Du es beschreibst. Alleine kann der Mensch nicht leben.
Aber die Gesellschaft- das Wir- darf nicht übermächtig werden, so zusagen nicht übergriffig. Das Individuen nicht unterdrücken. Weder die persönliche Freiheit des einzelnen behindern noch sie verhindern.
Diese Gefahr sehe ich nun ausgerechnet in unserer Konsumgesellschaft, die weitgehend auf Individualismus ausgelegt ist und immer mehr aus Single-Haushalten und Vereinsamten besteht, nicht wirklich. In vielen Bereichen wird bei uns das individuelle Leben auf eine Weise gefördert, die das Überleben der Menschheit insgesamt bedroht - siehe nur den Irrsinn des Individualverkehrs, für den kostbare und unersetzliche Ressourcen abgefackelt werden und der unsere Atemluft vergiftet. Oder schau Dir den Profi-Fußball an, der zwar ein Mannschaftssport ist und von "Vereinen" organisiert wird, aber immer mehr zu einem Geschäft wird, das der Selbstverwirklichung von Individuen (Spieler-Millionären und superreichen Sponsoren) dient. Oder schau Dir an, was in den letzten 5 Jahrzehnten aus der Solidarität unter Arbeitnehmern geworden ist. Oder oder oder...

In einem so großen Sozialverband wie einem Staat können Individuen ihre Interessen nur vertreten, wenn sie sich zusammenschließen. Das Individuum wird dagegen zum Spielball der Mächtigen. Wer z.B. gegenwärtig eine Wohnung sucht, der hat auf dem Papier natürlich die freie Wahl. Er kann sich überall niederlassen, von Kiel bis nach Füssen. Er findet auch jede Menge günstigen Wohnraum in Brandenburg und Meck-Pomm. Er hat die freie Wahl, ob er lieber 6 oder 20 oder 30 € Miete für den qm bezahlen möchte... Ist ein tolles Instrument der individuellen Selbstverwirklichung, so ein Wohnungsmarkt... :D
Hannah Arendt schreibt, wir sind mit der Mitgift der Freiheit geboren. Wir haben sie also schon die Freiheit, wir bekommen sie nicht oder "erlernen" sie nicht.
Worin genau besteht denn diese "Mitgift"? Und worin genau besteht denn die Freiheit, die ein Neugeborenes hat, ohne etwas dafür tun zu müssen? Sind wir Menschen einfach so frei, nur weil wir Menschen sind? Liegt sie in den Genen? Und wenn ja, wie ist sie da hineingekommen? Wie soll man sich das erklären, wenn man nicht göttliche Mächte mit höheren Plänen annimmt, die die Gattung Mensch aus der sie umgebenden Natur herausgehoben haben?

Das Wir ist eine weiße einheitliche Masse, dem aufgrund des Fehlens von starken Individuen Gefahr läuft, wie Lemmlinge irgendwem widerspruchslos hinterherzulaufen. Die schwarzen Schafe in der einheitlichen Masse werden entweder ignoriert oder niedergeblökt. Bestenfalls.
.
Genau, "Wir" sagen nur Lemminge, Schaf-, Gnu-, Büffelherden... "Wir" ist das ausschließende Gegenteil von "ich". (Siehe oben)




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Stefanie
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Mi 30. Aug 2017, 15:55

Nur kurz erst mal, mehr kann ich wohl erst in den nächsten Tagen bieten.

Ich habe das Gefühl, es muss eine Begrifflichkeit geklärt werden.
Was verstehen wir, Du, ich und andere unter Individualität, individuell und Individuum. Ich zumindest nicht z.B. dern individuellen Straßenverkehr.
Individualismus ist nicht falscher Egoismus.

Dass das Individuum gerade durch die Einbindung in eine Gruppe - z.B. eine Wohngemeinschaft aus Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen und Interessen - gestärkt werden könnte, scheint für Dich ausgeschlossen zu sein.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass ich im sozialen Bereich für Menschen mit Beeinträchtigungen arbeite. Ich kenne diese Wohngemeinschaften und andere Wohnformen, auch die stationären Wohnformen.
Viele sind glücklich in einer Wohngemeinschaft mit mehreren MitbewohnerInnen, entwickeln sich, viele sind glücklich in einer 2er WG zu leben, viele haben einen so hohen Unterstützungsbedarf, dass sie in einer stationären Wohnform leben.
Aber es gibt sehr sehr viele, deren sehnlichster Wunsch es ist, alleine zu wohnen um ihr Leben führen zu können.
Die Stärkung des Einzelnen besteht darin, jeden Einzelnen dazu zu ermutigen und zu befähigen, in der Wohnform zu leben, die zu ihm passt, die er oder sie sich wünscht. Das "Wir" bestimmt aber derzeit gewaltig mit, wo jemand leben kann, oder sogar soll, sei es die Angehörigen, die Fachleute oder die Kostenträger.
Ähnlich bei den Senioren. Die Unterstützung dafür, in der eigenen Wohnung bleiben zu können, ist bei uns noch defizitär. Manche entscheiden sich bewusst - weil sie Gesellschaft möchten und nicht alleine bleiben wollen- für Wohngemeinschaften. Andere dagegen wollen da bleiben, wo sie jetzt leben. Die wenigsten wollen in Altenheim der Standardart.
Auch hier scheint das "Wir" wesentlich darüber mitzubestimmen, wo Menschen mit Beeinträchtigung oder im Alter zu leben haben. Als die Wohngemeinschaften für Senioren aufkamen, gab (und gibt) es Widerstände, auch formalistische, wer bezahlt, wer überwacht, aber nicht doch, die brauchen doch Pflege usw. usw.. wo kommen wir denn hin, wenn jeder "Alter" jeder Mensch mit Beeinträchtigung da leben will, wo er will. (überspitzt formuliert).



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Jörn Budesheim
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Mi 30. Aug 2017, 16:46

Vor diesem Hintergrund mag einigen der Betroffenen der Slogan seltsam erscheinen, wenn im Alltag oft das "Wir bestimmt" :-( statt sie selbst.




Hermeneuticus
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Mi 30. Aug 2017, 19:31

Wird das jetzt ein Thread über die angemessene Betreuung von Pflege- und Hilfsbedürftigen? Da muss ich passen.




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Friederike
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Mi 30. Aug 2017, 19:35

Stefanie hat geschrieben :
Mi 30. Aug 2017, 15:55
Aber es gibt sehr sehr viele, deren sehnlichster Wunsch es ist, alleine zu wohnen um ihr Leben führen zu können. Die Stärkung des Einzelnen besteht darin, jeden Einzelnen dazu zu ermutigen und zu befähigen, in der Wohnform zu leben, die zu ihm passt, die er oder sie sich wünscht. Das "Wir" bestimmt aber derzeit gewaltig mit, wo jemand leben kann, oder sogar soll, sei es die Angehörigen, die Fachleute oder die Kostenträger.
Das Idealziel, so schließe ich aus all dem, was Du bisher aufgrund Deiner Erfahrungen berichtet hast, wäre eine Stärkung der Autonomie, und zwar bis zur maximal möglichen Entfaltungsgrenze. Das wäre eine Individualitätsförderung, die wirklich das Individuum und die individuellen Eigenarten in den Vordergrund stellt.




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Alethos
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Do 31. Aug 2017, 20:26

Stefanie hat geschrieben :
Mi 30. Aug 2017, 15:55

Ich habe das Gefühl, es muss eine Begrifflichkeit geklärt werden.
Was verstehen wir, Du, ich und andere unter Individualität, individuell und Individuum.
Ja, das bestimmt und auch, was wir unter dem Wir verstehen, das müssten wir klären. Ich sehe keine einheitliches Wir, das sich von allem anderen als eine homogene Masse abgrenzen liesse. Wir, das können wir zwei sein. Wir, das können unsere Freundschaften sein. Wir, das können wir in der Firma sein etc.

Das vielgestaltige Wir funktioniert in der Regel anders als ein einzelner Mensch. Es entwickelt gruppendynamische Kräfte und führt in der Regel kein Subjekt mit, es hat auch kein Zentrum. Das wir ist entpersonalisiert. Die vielgestaltigen Wir entwickeln exzentrischen Kräfte und können den Einzelnen mitreissen, kaltlassen, berühren oder unberührt lassen. Man kann mitten im Wir stehen oder ausserhalb als Zuschauer. Als Angewiderter oder als Begeisterter. Als Zuschauer oder als Passivmitglied. Dieses Wir, das man in 'Wir sind Deutschland' ausdrückt, das gibt es nirgends ausser in dem Gefühl und in der Idee, die jeder für sich selbst damit verbindet. Ich kann das als Schweizer nur als Aussenstehender sagen, das ist klar. Aber wenn ich mir die föderalistische Schweiz, geprägt von ihrem durchdringenden Liberalismus, anschaue, in welchem Eigenverantwortung als höchstes politische Ideal auf allen föderalen Ebenen gelebt wird, dann sehe ich dieses Kommunitäre als einheitlichen Block nirgends realisiert, das uns als Wir umfassen und durchdringen könnte.

Von der Wortbedeutung her liesse sich ein Individuum als die kleinstmögliche Menge Wir beschreiben. Das Selbstbewusstsein, das ein auf sich selbst reflektiertes Ich bedeutet, ist ja in diesem Sinne auch ein Wir?



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Fr 1. Sep 2017, 05:51

Alethos hat geschrieben :
Do 31. Aug 2017, 20:26
'Wir sind Deutschland'
Das erinnert mich an ein Kunstwerk auf der aktuellen documenta 14. Nämlich dass Banner des Kölner Künstlers Hans Haacke auf dem in zwölf Sprachen "Wir (alle) sind das Volk" steht.

Interessant ist dabei, finde ich, dass er damit eine "singuläre" geschichtliche Erscheinung "ausdehnt" wird und quasi nebenbei eine wichtige Unterscheidung mit ins Spiel bringt, nämlich die zwischen "wir" und "alle". Denn "alle" hat andere Konnotationen als "wir", damit könnte auch gemeint sein: jeder einzelne: "Das vielgestaltige Wir funktioniert in der Regel anders als ein einzelner Mensch." Das andere kann als Funktion dann einfach die bloße Addition der Einzelnen haben...




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Fr 1. Sep 2017, 13:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 1. Sep 2017, 05:51
Alethos hat geschrieben :
Do 31. Aug 2017, 20:26
'Wir sind Deutschland'
Das erinnert mich an ein Kunstwerk auf der aktuellen documenta 14. Nämlich dass Banner des Kölner Künstlers Hans Haacke auf dem in zwölf Sprachen "Wir (alle) sind das Volk" steht.
Mich erinnert dieser Beitrag wiederum an ein etwas anderes, eher politisch konnotiertes Objekt, das im Moment in Deutschland für den Verein 'Mehr Demokratie' auf Tournee geht: der 'Wer ist der Souverän?'-Spiegel.

Man liest die Frage auf dem Spiegelrand und beantwortet sich die Frage mit dem Blick in den Spiegel gerade selbst. Das ist aber ein trügerischer Blick ins Leere. Denn man sieht im Spiegel sich selbst, den Wähler, das Individuum. Aber man sieht nicht das Volk. Man sieht keinen Souverän. Man sieht kein Wir, sondern nur sich selbst und man muss sich zuerst als Teil dieses Wirs denken, um sich der eigenen demokratischen Handlungsmacht bewusst zu sein.

Ganz generell: Wir-Sein ist eine sonderbare Form von 'in-der-Mehrheit'
sein. Nicht eine, die ein Mehr an Zahl meint, sondern ein Mehr an Legitimation. Das Wir, zu dem man sich zugehörig fühlt, geniesst in der Regel eine höhere Bedeutungskraft als alle anderen Wir für das Individuum, das sich dazu zählt. Es hat etwas Exklusives und Beiheimatendes zugleich. 'Mia san mia' ist vielleicht die deutlichste Erscheinungsform :) Zurecht fragt sich da der nach Bayern zugezogene Engländer: 'Mia who?'



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Stefanie
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Mo 4. Sep 2017, 22:49

Sorry, ich hinke etwas hinterher.
Hermeneuticus:
Wird das jetzt ein Thread über die angemessene Betreuung von Pflege- und Hilfsbedürftigen? Da muss ich passen.
Nein, es waren Beispiele, was passiert wenn das Wir zu sehr über das Individuum bestimmt.

Das Wir kann eine begrenze Gruppe sein, die innerhalb von "allen" besteht.
Das "Wir sind das Volk" bezog sich demnach nur die, die es konkret betraf, die Deutschen in der ehemaligen DDR.
Das "Wir (alle) sind ein Volk" ist eine Erweiterung, die auch andere einzelne oder auch Gruppen mit einbezieht.

Das geht auch in die Richtung:
Alethos:
Nicht eine, die ein Mehr an Zahl meint, sondern ein Mehr an Legitimation. Das Wir, zu dem man sich zugehörig fühlt, geniesst in der Regel eine höhere Bedeutungskraft als alle anderen Wir für das Individuum, das sich dazu zählt. Es hat etwas Exklusives und Beiheimatendes zugleich.
"Wir Deutschen" ist was anderes als "Wir alle". Zu "Wir Deutschen" fühlen sich die meisten zugehörig und ist in der heutigen Zeit schon fast Exklusiv, leider. Es hat für viele ein Mehr an Legitimation als "Wir alle". Letzteres erweitert die Gruppe, was manche als Bedrohung ansehen.
Bei vielen geht schon nicht "Wir sind Europa".

Ich wollte was zur Demokratie schreiben, und bin dabei bei der "offenen Gesellschaft" gelandet. Logisch, ich las ja auch Popper.
Eine offene Gesellschaft geht u.a. vom Individuum aus. Jeder/Jede einzelne hat und trägt Verantwortung - als Ich- für sich, für sein Handeln und für die Gesellschaft. Das schließt nicht aus, im Gegenteil, dass sich die Individuum zusammenschließen zu einer Gruppe, zu einem "Wir", weil sie dadurch ein Mehr an Legitimation erhalten. Aber nicht nur zu einer einer Gruppe "Wir", sondern zu verschiedenen. Das Merkmal einer offenen Gesellschaft ist auch Pluralität, im einzelnen wie im Wir.
Die geschlossene Gesellschaft geht von einem Kollektiv aus. Ein einzige "Wir" Gruppe. Die Verantwortung der "Ich" in dieser Gruppe werden an das Kollektiv, an das einzige "Wir" abgegeben. Keine Pluralität. In einer geschlossenen Gesellschaft hat der Einzelne das "Ich" nicht die Wahlfreiheit auszusteigen aus der Gesellschaft, auszusteigen aus einer Gruppe "Wir" und sich einer anderen Gruppe "Wir" anzuschließen.

Der Slogan "Das Wir gewinnt" hinterlässt bei mir den Eindruck, alle einzelnen sind eine einzige Gruppe "Wir". Das stimmt so nicht. Die unterschiedlichen Gruppen "Wir" haben unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Bedürfnisse, sie vereint aber Grundsätze wie Menschenrechte, Chancengleicheit und Möglichkeiten für jedes Ich in den "Wirs".

Ich habe zugegebenermaßen eine Kollektiv Sperre.



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Mo 11. Sep 2017, 13:42

Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 29. Aug 2017, 12:23
Gut, der Ausdruck "Vorrang" ist erläuterungsbedürftig. Ich meine ihn im Sinne von "notwendiger Voraussetzung". Explizit: Ohne ein funktionierendes soziales Umfeld würde kein menschliches Individuum a) überleben und b) zu einer selbstbestimmten Person heranwachsen können.
So kaufe ich das. Mich hatte in der Tat die Vokabel "Vorrang" gestört. Sie kann auch als hierarchische Überordnung verstanden werden. Dann treffen die von mir geäußerten Bedenken zu.




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Jörn Budesheim
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Di 3. Okt 2017, 13:25

Stefanie hat geschrieben :
Mo 4. Sep 2017, 22:49
Nein, es waren Beispiele, was passiert wenn das Wir zu sehr über das Individuum bestimmt.
Hegel hat geschrieben : [... Der Geist ist die] absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein[e], die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist. [...]
Der Herr und Knecht-Thread hat mich noch mal hierher geführt und zwar wegen der Sache mit dem "Vorrang".

Man sollte sich vielleicht fragen, in welcher Hinsicht man einen Vorrang sieht - wenn man denn einen sieht. Wenn man zu diesem Zweck zwischen einer ethischen und ontologischen Perspektive unterscheidet, dann kann man vielleicht vermeiden, dass der Begriff des Vorrangs irgendwie anrüchig klingt. Das Zitat von dir ist eher aus einer ethischen Perspektive zu verstehen, während das was Hermeneuticus (vermutlich) meinte wohl eher (sozial)ontologisch zu verstehen ist.

Wer einen ontologischen Vorrang des "Wir" sieht, vertritt damit nicht automatisch die These eines normativen, wertenden - oder wie man es auch ausdrücken mag - Vorrangs des "Wir". Wer also sagt, dass das individuelle "Ich" in seinem Sein/Werden vom "Wir" abhängt, geht damit also keineswegs in eine Richtung, die zugleich sagen muss, das "Wir" wäre auch in einem wertenden Sinne vorrangig.




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