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Zur Theorie der Demokratie
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Worauf kommt es denn wirklich an? Es gibt eigentlich nur zwei Staatsformen: Solche, in denen es möglich ist, die Regierung ohne Blutvergießen durch eine Abstimmung loszuwerden, und solche, in denen das nicht möglich ist. Darauf kommt es an, nicht aber darauf, wie man diese Staatsform benennt. Gewöhnlich nennt man die erste Form »Demokratie« und die zweite Form »Diktatur« oder »Tyrannei«. Aber es steht nicht dafür, über Worte (wie DDR) zu streiten. Das Entscheidende ist allein die Absetzbarkeit der Regierung, ohne Blutvergießen.
Für diese Absetzbarkeit gibt es verschiedene Methoden. Die beste Methode ist die einer Abstimmung: Eine Neuwahl oder ein Votum in einem gewählten Parlament kann die Regierung stürzen. Darauf kommt es an.
Es ist daher falsch, wenn man die Betonung auf die Frage legt (wie es von Platon bis Marx und auch später immer wieder getan wurde): »Wer soll regieren? Das Volk (der Pöbel) oder die wenigen Besten? Die (guten) Arbeiter oder die (bösen) Kapitalisten? Die Mehrheit oder die Minderheit? Die Partei von links oder die Partei von rechts oder eine Partei der Mitte?« Alle diese Fragen sind falsch gestellt. Denn es kommt nicht darauf an, wer regiert, solange man die Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann. Jede Regierung, die man wieder loswerden kann, hat einen starken Anreiz, sich so zu verhalten, daß man mit ihr zufrieden ist. Und dieser Anreiz fällt weg, wenn die Regierung weiß, daß man sie nicht so leicht loswerden kann.
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Der Glaube, ein nach dem Proporz gewählter Bundestag oder ein Parlament sei ein besserer Spiegel des Volkes und seiner Wünsche, ist falsch. Er repräsentiert nicht das Volk und seine Meinungen, sondern lediglich den Einfluß der Parteien (und der Propaganda) auf die Bevölkerung am Wahltag. Und er macht es schwieriger, daß der Wahltag zu dem wird, was er sein konnte und sollte: ein Tag des Volksgerichts über die Tätigkeit der Regierung.
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Es gibt also keine gültige Theorie der Volksherrschaft; keine gültige Theorie, die den Proporz fordert. So müssen wir fragen: Wie wirkt sich der Proporz in der Praxis aus - 1. auf die Regierungsbildung, 2. auf die so entscheidend wichtige Möglichkeit, eine Regierung zu entlassen?
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Auch dann, wenn die Mehrheit der Wähler eine bestehende Mehrheitsregierung entlassen will, so kann sie das nicht unbedingt erreichen. Denn selbst wenn eine Partei, die bisher die absolute Mehrheit hatte (so daß sie verantwortlich gemacht werden konnte), ihre Mehrheit verliert, so wird sie unter einem Proporz höchstwahrscheinlich noch immer die größte Partei bleiben. Daher wird sie mit Unterstützung einer der kleinsten Parteien eine Koalitionsregierung bilden können. So wird der entlassene Führer der großen Partei weiter regieren - gegen den Mehrheitsbeschluß und auf Grund der Entscheidung einer kleinen Partei, die meilenweit davon entfernt sein kann, den »Willen des Volkes« zu repräsentieren.
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Mir scheint eine Form, die das Zweiparteiensystem möglich macht, die beste Form der Demokratie zu sein. Denn sie führt immer wieder zur Selbstkritik der Parteien. Wenn eine der beiden großen Parteien in einer Wahl eine richtige Schlappe erlitten hat, dann kommt es gewöhnlich zu einer radikalen Reform innerhalb der Partei. Das ist eine Folge der Konkurrenz und des eindeutigen Verdammungsurteils der Wähler, das nicht übersehen werden kann. So werden die Parteien durch dieses System von Zeit zu Zeit gezwungen, von ihren Fehlern zu lernen oder unterzugehen.
Meine Bemerkungen gegen den Proporz bedeuten nicht, daß ich allen Demokratien den Rat erteile, den Proporz aufzuheben. Ich wünsche nur der Diskussion darüber eine neue Richtung zu geben. Der Gedanke, daß aus der Idee der Demokratie die moralische Überlegenheit des Proporzsystems logisch abgeleitet werden kann und daß die kontinentalen Systeme wegen des Proporzes besser, gerechter oder demokratischer sind als die angelsächsischen Systeme, ist naiv und hält einer etwas eingehenderen Überlegung nicht stand.
Zusammenfassend: Die Ansicht, daß der Proporz demokratischer ist als das britische oder amerikanische System, ist unhaltbar, da sie sich auf eine überholte Theorie der Demokratie als Volksregierung berufen muß (die ihrerseits auf die sogenannte Souveränitätstheorie des Staates zurückgeht). Diese Theorie ist moralisch verfehlt und sogar unhaltbar: Sie ist durch die Theorie der Entlassungsgewalt der Majorität überholt.
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Dieses moralische Argument ist wohl noch wichtiger als das praktische Argument, daß wir nicht mehr als zwei voll verantwortliche und konkurrierende Parteien brauchen, um den Wählern die Macht zu geben, in ihrer Wahl über die Regierung zu Gericht zu sitzen. Der Proporz schafft die Gefahr, daß der Wahlentscheid der Mehrheit bagatellisiert wird und damit auch der Einfluß einer Wahlniederlage auf die Parteien - ein wohltätiger Einfluß, den die Demokratie brauchen kann. Und für einen klaren Mehrheitsentscheid ist es wichtig daß es eine möglichst gute und starke Oppositionspartei gibt. Sonst sind die Wähler oft gezwungen, eine schlechte Regierung weiter regieren zu lassen, weil sie Grund haben anzunehmen: »Es kommt nichts Besseres nach.«
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Widerspricht nicht meine Verteidigung des Systems der zwei Parteien der Idee einer offenen Gesellschaft? Ist nicht die Toleranz einer Vielheit von Meinungen und Theorien, also ein Pluralismus, charakteristisch für die offene Gesellschaft und ihre Wahrheitssuche, und soll sich dieser Pluralismus nicht in einer Vielzahl von Parteien ausdrucken?
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Meine Antwort: Es ist die Funktion einer politischen Partei, eine Regierung zu stellen oder als Opposition die Arbeit der Regierung kritisch zu überwachen. Zur kritischen Überwachung gehört es, die Toleranz der Regierung gegenüber den verschiedenen Meinungen, Ideologien und Religionen zu überwachen (soweit diese nicht intolerant sind: Denn Ideologien, die Intoleranz predigen, verlieren ihren Anspruch auf Toleranz). Manche Ideologien werden versuchen - mit oder ohne Erfolg-, eine Partei zu dominieren oder eine neue Partei zu gründen. So wird es ein Wechselspiel geben zwischen Meinungen, Ideologien, Religionen auf der einen Seite und den großen konkurrierenden Parteien auf der anderen Seite.