François Jullien: "Es gibt keine kulturelle Identität"

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Tarvoc
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Das lateinische Wort cultura bedeutet u.A. wortwörtlich Anpflanzung oder Bepflanzung.



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Friederike
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Do 8. Mär 2018, 18:58

Tarvoc hat geschrieben :
Do 8. Mär 2018, 18:49
Der Witz hier besteht ja darin, dass genau diejenigen, die auf ökonomischer Ebene die Ursachen des Zerfalls der Kleinfamilie befördert haben (Thatcherismus und Reaganomics), sich auf kultureller Ebene den Schutz der Familie und ihrer "Werte" (als hätte jede Familie die selben Wertvorstellungen) auf die Fahne schreiben.
Falls in dem von T.I. Verlinkten erläutert wird, warum Thatcherismus usw. den Zerfall der Kleinfamilie befördert haben, dann sage es mir, und ich lese nach. Falls nicht, dann hilf mir bitte auf die Sprünge. Ich kriege den Zusammenhang nicht gebacken. :oops:




Tosa Inu
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Do 8. Mär 2018, 21:50

Tarvoc hat geschrieben :
Do 8. Mär 2018, 18:49
Der Witz hier besteht ja darin, dass genau diejenigen, die auf ökonomischer Ebene die Ursachen des Zerfalls der Kleinfamilie befördert haben (Thatcherismus und Reaganomics), sich auf kultureller Ebene den Schutz der Familie und ihrer "Werte" (als hätte jede Familie die selben Wertvorstellungen) auf die Fahne schreiben.
Ja, das würde ich unterschreiben.
Die ganzen Aufrufe zur Optimierung und Felxibilisierung des Arbeitsmarktes sind recht einseitig auf Kosten des Arbeitnehmers, der selbstverständtlich 24/7 zu Diensten ist, gerne auch 200 km zur Arbeit fährt und 2 Jahres Verträge akzeptiert, falls Du sowas in der Art meintest.
Mein Punkt ist nur, dass das kein Selbstläufer ist und die Reaktion eben nicht war, dass die Leute sich lachend über den Boden gerollt haben, wenn einer mit solchen Forderungen kam, sondern jeden Mist mitgemacht haben. Freiwillig und gerne optimiert man sich zu Tode und mein Punkt ist wiederum die Frage, wie es dazu kommen konnte. Die Klasse der Abgehängten hat es ja vorher in dem Umfang nicht gegeben und da reicht es m.E. nicht zu sagen, die Ursünde waren die Webstühle und der Sargnagel Schröders Agenda 2010. Dazwischen ist ja einiges passiert und vor allem einiges schief gelaufen, in einer Zeit in der wir alle auf Fortschrittsoptimismus gebürstet waren.
Beides schließt sich nicht aus, aber ich kenne jetzt so ziehmlich jede Wendung des Neoliberalismus-Bashings und das allein, ist es einfach nicht.



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Tarvoc
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Sa 10. Mär 2018, 11:08

In den knapp drei Jahrzehnten seit dem Fall der Sowjetunion, also seit dem Wegfall des letzten großen alternativen Entwurfes zum Kapitalismus, sind die Leute einfach zunehmend apathischer geworden, und zwar nicht nur in Deutschland. Der langsame Niedergang der Sozialdemokratie als "drittem Weg" begann ja auch in etwa genau zu dem Zeitpunkt. Ich sage nicht, dass das die einzige Ursache ist, aber der zeitliche Zusammenfall ist doch kaum zu übersehen.



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Sa 10. Mär 2018, 12:23

Das setzt einen Schluss voraus, der m.E. erst noch belegt werden müsste und den zumindest ich so nicht sehe.
Er suggeriert m.E., dass eine sehr große Zahl der Menschen bei uns heimlich oder offen bestimmte Hoffnungen auf den Kommunismus gelegt hätten und ich glaube, dass das nicht stimmt. Auch glaube ich, dass der gesellschaftliche Zersetzungsprozess bei uns bereits eher eingesetzt hat und bereits Anfang bis Mitte der 1980er eine recht starke Dynamik hatte, in der der recht ungebrochene Fortschrittsoptimismus langsam (und dann in der Folge immer schneller, aufgrund bestimmer Katastrophen, die Tschernobyl und die symbolträchtige Explosion der Challenger) zu bröckeln begann, mit den Grünen gründete sich eine tendenziell fortschrittsskeptische Partei bereits Anfang der 80er auch die Global 2000 Ergebnisse des Club oft Rome galten immer weniger als die Übertreibungen extremistischer Spinner, sondern drangen in der Mainstream ein.

1989/90 hatte man 'endlich' einen Grund, warum es im Westen nicht mehr so rund lief, die Ossis waren es, die man pampern musste und die dann auch noch undankbar waren: Besserwesssi/Motzki. Es ist ein offeness Geheimnis, dass die Grünen im Mainstream angekommen sind, Protest ist heute sicher nicht mehr grün, sondern rechts oder eben diese komische Melanche aus ostalgischer Putinliebe, Antiamerikanismus, m.E. berechtigten Beschwerden sogenannter Wendeverlierer, die man schlicht vergessen hat und bis heute kalt und herzlos behandelt. Der linke Protest, von dem die Linken immer meinen, es sei ihr ureigenstes Gebiet, hat nie so richtig gezündet und das gerade auch in Phasen, in denen man meinte, jetzt müsste eigentlich die Sternstuden der Linken angebrochen sein.



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Friederike
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Sa 10. Mär 2018, 18:58

Tarvoc hat geschrieben :
Sa 10. Mär 2018, 11:08
In den knapp drei Jahrzehnten seit dem Fall der Sowjetunion, also seit dem Wegfall des letzten großen alternativen Entwurfes zum Kapitalismus, sind die Leute einfach zunehmend apathischer geworden, und zwar nicht nur in Deutschland.
Über welchen Zeitraum sprecht Ihr? Deine Beobachtung und Begründung sowie der gesellschaftliche "Zersetzungsprozeß", von dem Du @T.I. gesprochen hast, beziehen sich auf die achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Und davor, bevor der Identitätsverlust begonnen hat, der "Niedergang" der Kleinfamilie? Das wären die Jahre nach dem 2. Weltkrieg, also ungefähr 30 Jahre oder bezieht Ihr die Zeit vor dem oder den Weltkriegen mit ein? Mir kommt ersteres reichlich kurz vor, wenn man kulturelle Identitäten thematisiert, und falls letzteres der Fall sein sollte, dann finde ich Eure Diagnosen und Erklärungen unzureichend, weil die durch die Kriege entstandenden gesellschaftlichen Umbrüche überhaupt nicht berücksichtigt werden.




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Tarvoc
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So 11. Mär 2018, 03:09

Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 10. Mär 2018, 12:23
Er suggeriert m.E., dass eine sehr große Zahl der Menschen bei uns heimlich oder offen bestimmte Hoffnungen auf den Kommunismus gelegt hätten und ich glaube, dass das nicht stimmt.
Nicht in "den Kommunismus", und ganz sicher nicht in den Sowjetkommunismus, sondern vielmehr in die Möglichkeit einer Alternative zum entfesselten globalen Kapitalismus überhaupt. Wie ich ja beschrieben hatte, setzte in etwa Anfang der Neunziger auch der schleichende Verfallsprozess sämtlicher "Dritten Wege" (Sozialdemokratie, etc.) ein. Es geht hier weniger darum, dass die Leute auf der ideologischen Ebene irgendwelche Hoffnungen in die Sowjetunion gehegt hätten, sondern darum, dass auf der materiellen Ebene der Zerfall der Sowjetunion als Ereignis einen weltweiten Prozess der Zerstörung von Alternativen zum globalisierten Kapitalismus markiert, der sich keineswegs nur auf den Sowjetkommunismus beschränkt.



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So 11. Mär 2018, 07:37

Friederike hat geschrieben :
Sa 10. Mär 2018, 18:58
Über welchen Zeitraum sprecht Ihr? Deine Beobachtung und Begründung sowie der gesellschaftliche "Zersetzungsprozeß", von dem Du @T.I. gesprochen hast, beziehen sich auf die achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Und davor, bevor der Identitätsverlust begonnen hat, der "Niedergang" der Kleinfamilie? Das wären die Jahre nach dem 2. Weltkrieg, also ungefähr 30 Jahre oder bezieht Ihr die Zeit vor dem oder den Weltkriegen mit ein? Mir kommt ersteres reichlich kurz vor, wenn man kulturelle Identitäten thematisiert, und falls letzteres der Fall sein sollte, dann finde ich Eure Diagnosen und Erklärungen unzureichend, weil die durch die Kriege entstandenden gesellschaftlichen Umbrüche überhaupt nicht berücksichtigt werden.
Gute Fragen und Anmerkungen, denn über das genaue Zeitfenster habe ich mir vorher auch noch keine Gedanken gemacht, jetzt aber und man kann das glaube ich ziemlich gut eingrenzen. Der ganze Gedanke, den ich irgendwann mal in Häppchen gelesen habe, wird am besten bei Diana Diamond zusammengefasst:
„Horkheimer, Adorno und Lasch führen das Auftauchen des Narzissmus als dominanten Charakterzug und die Ausweitung Narzisstischer Persönlichkeitsstörungen als vorherrschende Psychopathologie auf den Zusammenbruch väterlicher Autorität und die Verwässerung mütterlicher Fürsorge im Zuge veränderter familiärer Strukturen und ökonomischer Produktionsprozesse zurück. Die Übernahme elterlicher Funktionen durch Medien, Schule und Sozialeinrichtungen haben zu einer Verwässerung elterlicher Autorität und zur Beeinträchtigung der Fähigkeit von Kindern geführt, starke psychische Identifizierungen mit ihren Eltern auszubilden. Autorität und Autonomie des Vaters werden mehr und mehr durch die Trivialisierung seiner Rolle im Produktionsprozess unterminiert, während Effektivität und Fürsorge der Mutter durch die zunehmende Professionalisierung von Kindererziehung und den Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung ihrer Rolle als Trägerin dieser Qualitäten (d.h. Liebe, Zärtlichkeit, Gegenseitigkeit) infrage gestellt werden – Qualitäten, die einer Reduzierung des Menschen auf ein bloßes Anhängsel von Produktionsprozessen entgegenstehen.

Nach Auffassung von Horkheimer, Adorno und Lasch interferiert dieser Schwund elterlicher (insbesondere väterlicher) mit ödipalen und präödipalen Internalisierungsprozessen. Der Ödipuskomplex dient in den Augen dieser Theoretiker nicht nur als Medium zur Internalisierung, sondern auch als Fundament moralischer Autonomie, die ihrerseits zum Hort gesellschaftlichen Widerstands werden kann. Viele Mitglieder unserer Gesellschaft, so die These, entbehrten aufgrund der Abwesenheit des Vaters von zu Hause sowie seiner Machtlosigkeit innerhalb der sozialen Welt einer starker Identifikationsfigur, was den Verlust eines starken Ichs zur Folge habe, das normalerweise den langwierigen Auseinandersetzungen mit einem geliebten und verehrten, wenngleich gefürchteten Vater entspringt. Vielmehr sei der Einzelne, so Lasch (1982), seinen primitiven Phantasien über einen unnötig strengen und strafenden Vater ausgeliefert, mit dem Ergebnis, dass auch das Über-Ich seine primitiven personifizierten Qualitäten behalte und auf die soziale Welt projiziere, die dann als gefährlich und irrational erscheine. Der Zusammenbruch väterlicher Autorität als zentrales Sozialisationsmoment machen so den Weg frei für die direkte Manipulation des Ich durch Massenmedien, Schule, Peergroups und politische Führer. Das Ich-Ideal entspringe nicht der Auseinandersetzung mit dem Vater, sondern einem unterentwickelten Ich bzw. dem direkten Einwirken von Kräften außerhalb der Familie. Eine derartige Aufpfropfung des Ich-Ideals auf das entstehende Ich prädisponiere zu dessen rascher Reprojektion auf äußere Figuren, sowie zu Regressionen, die mit einer Verdichtung von Ich und Ich-Ideal in Richtung narzisstischer Pathologie einhergehen.“
(Diana Diamond, Narzissmus als klinisches und gesellschaftliches Phänomen, in: Otto F Kernberg (Herausgeber), Hans P Hartmann (Herausgeber), Narzissmus: Grundlagen – Störungsbilder – Therapie, Schattauer 2009, S. 190 f)


Daraus ergeben sich die Zutaten, anhand derer sich die Frage nach dem Zeitraum beantworten lässt: Wegbrechen der ödipalen Struktur:
"Die Übernahme elterlicher Funktionen durch Medien, Schule und Sozialeinrichtungen haben zu einer Verwässerung elterlicher Autorität und zur Beeinträchtigung der Fähigkeit von Kindern geführt, starke psychische Identifizierungen mit ihren Eltern auszubilden."
Dazu muss es natürlich überhaupt erst mal Massenmedien, Schulen und Sozialeinrichtungen geben. Durch Kriege traumatisierte Väter gab es vermutlich nach jedem Krieg, die allgemeine Schulpflicht in Deutschland ab 1919, davor jedoch, uneineitlich, als Folge von Luthers Wirken eine Alphabetisierung vor allem der protestantischen Regionen, auf der anderen Seite aber natürlich noch kein so breites und für jeder der lesen konnte erschwingliches Angebot an Medien, die also längst noch keine Massen erreichten.
Neuigkeiten waren, wenn mal der Ozeandampfer aus der neuen Welt kam. Sozialeinrichtungen sind glaube ich auch noch kein solides Gegengewicht gewesen.
Die Wirksamkeit der Medien ist klar erforscht, Geschriebenes wirkt weniger, als das gesprochene Wort und noch mehr wirken Bilder und dann bewegte Bilder.
Zudem war das Lesen von Zeitungen nicht für KInder, sondern vermutlich eher den Männern vorbehalten. Das Radio, der Volksempfänger, wird hier viel geändert haben und eben die Kindergärten.
So ob 1875 begann zudem die wirtschaftliche Ahängigkeit der Frauen von den Männern zu sinken, mit dramatischen Folgen für die Demographie, nun wurden aus 6-8 Kindern pro Frau nun "nur noch" 3-4, was ein dramatsicher Einbruch, aber auf hohem Niveau war und insofern überhaupt nicht bemerkt wurde. Kriege,Pille und die 'böse Frauenbeewgung' sind damit verglichen Marginalien. Meine Großeltern der einen Seite, bei so um 1900 geboren, gingen beide zur Schule, also wird schon vor der Einführung der Schulpflicht der Besuch üblich gewesen sein.
Der heute als klasisch geltenden Familie wird attestiert so ab 1850 entstanden zu sein, was aber nicht bedeutet, dass der Vater vorher keine Autorität hatte. Nach allem was ich darüber weiß, hatte er diese (in Europa) schon immer und in einem weitaus größeren Maße und gegen das Klischee hat vor allem das Christentum diese Position aus der Zeit der Griechen und Römer entschieden symmetrsicher gestaltet.
Der zweite Weltkrieg ist sicher eine Zäsur und ungefähr ab dort wird ja auch wieder der schleichende Niedergang der Familie gesehen. Nun hatten die abwesenden Väter und die Mütter ihre Konkurrenz durch Massenmedien, Schulen und Kindergärten, aber vermutlich dimmte sich in der letzten Phase des Aufstiegs der Kleinfamilie schon die erstarkende Konkurrenz mit ein, vielleicht so ab 1900?

Was meinst Du?

Der andere Punkt ist der, den Tarvoc wohl meint und er ist hier noch mal aufgeführt:
"Autorität und Autonomie des Vaters werden mehr und mehr durch die Trivialisierung seiner Rolle im Produktionsprozess unterminiert, während Effektivität und Fürsorge der Mutter durch die zunehmende Professionalisierung von Kindererziehung und den Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung ihrer Rolle als Trägerin dieser Qualitäten (d.h. Liebe, Zärtlichkeit, Gegenseitigkeit) infrage gestellt werden – Qualitäten, die einer Reduzierung des Menschen auf ein bloßes Anhängsel von Produktionsprozessen entgegenstehen."
So weit ich das sehe, sind das sich ergänzende Prozesse, wobei man auf Seiten der Linken eben die Rolle der Produktionsprozesse betont und es immer schön, aber nicht oft zu finden ist, wenn der Rest nicht aktiv geleugnet oder mit Klischees und Vorurteilen übergossen wird: Die bürgerliche Kleinfamilie und das Bildunsgbürgertum ist ja nicht selten das heimliche Feindbild der Linken, weil dieses, durch das kritiklose Inhalieren eines angeblich "falschen Bewusstseins" angeblich sediert wird.
Ich meine, nur wenn man beides betrachtet, wird die Sache rund, denn den Neolirakismus zu verdammen und klammheimlich den Untergang des Bürgertums zu beklatschen, sind Bewegungen, die sich aus dieser Sicht ausschließen, aber natürlich zur DNA vieler Linker gehört, ebenso, wie genau das immer wieder zu verleugnen und zu behaupten, man hätte gar nichts verstanden, aber hier muss sich dann jeder selbst sein Urteil bilden.



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So 11. Mär 2018, 08:07

Tarvoc hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 03:09
Nicht in "den Kommunismus", und ganz sicher nicht in den Sowjetkommunismus, sondern vielmehr in die Möglichkeit einer Alternative zum entfesselten globalen Kapitalismus überhaupt.
Ich bleibe dennoch skeptisch, dass die einzige und irgendwie dann im Zweifel doch lieber gewünschte Alternative der Kommunimsus in irgendeiner Form gewesen wäre.
In der kapitalistischen Hölle aufgewachsen, würde ich ehrlich gesagt diese noch jedem kommunistischen Himmel, der je auf Erden exstierte vorziehen, bei weitem.
Tarvoc hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 03:09
Wie ich ja beschrieben hatte, setzte in etwa Anfang der Neunziger auch der schleichende Verfallsprozess sämtlicher "Dritten Wege" (Sozialdemokratie, etc.) ein.
Da kann man nicht leugnen, aber ich vermute, es liegt gnaz einfach daran, dass dieser dritten Wege keine waren, sondern in der Mehrzahl einfach der neolberalen Doktrin Glauben geschenkt wurde, dass, wenn erst genug Kohle verdient wird, die sozialen Verbesserungen als Kollateraleffekt so sicher wie das Amen in der Kirche kommen und das ist nicht passiert, statt dessen brach die Mittelschicht immer mehr weg.
Heute sind wir in der Situation, dass Deutschland immer reicher wird, aber auch die Möglichkeit des sozialen Abstiegs immer größer wird, weiter ist bekannt, dass sozialer Aufstieg in Deutschland inzwischen extrem schwer geworden ist und nicht etwa die Leistung zählt, sondern das Elternhaus.
Und, ein wesentliches Element: Die Stimmung ist schlecht. Der Optimismus ist zum großen Teil verpufft.
Tarvoc hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 03:09
Es geht hier weniger darum, dass die Leute auf der ideologischen Ebene irgendwelche Hoffnungen in die Sowjetunion gehegt hätten, sondern darum, dass auf der materiellen Ebene der Zerfall der Sowjetunion als Ereignis einen weltweiten Prozess der Zerstörung von Alternativen zum globalisierten Kapitalismus markiert, der sich keineswegs nur auf den Sowjetkommunismus beschränkt.
Kann sein, aber ich sehe einen gezähmten Kapitalismus nicht als Problem an und ich halte die Behauptung für falsch, dass er nicht zu zähmen sei.
Weiter muss man Wirtschaft und Finanzwirtschaft unterscheiden, wo diese ganzen Spekulationsblasen, der Derivatehandel und die Wetten auf Niedergänge laufen und der uns sicher den nächsten Crash bescheren wird, ich habe aber keine Ahnung, wie sich das entwickelt und ob man diesen Bereich irgendwann abstoßen kann.

Aber, hier geht es ja um kulturelle Identität und sicher ist es problematisch ein weiteres Mal zu erleben, wie ein System, dem man blind vertraute nicht hält, was es verspricht. Ein höherer Grad an Individualität ist jedoch recht gut, damit besser klar zu kommen, als in einer Welt, die stärker auf ein Wir eingeschworen ist und an einen kollektiven Mythos glaubt. Wenn der dann plazt ist oft alles weg.



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Alethos
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So 11. Mär 2018, 11:09

Ich werde das Gefühl nicht los, dass überhaupt nicht mehr über das eigentliche Thema geredet wird. Ein jeder bringt sich mit seinem Lieblingsthema ein: ein wenig Psychologie hier, ein wenig Marxismus da :) Dabei wäre das Thema es wert, dass wir es in die Tiefe und Breite gehend angingen, und dazu bietet sich Julliens interessante These als Hintergrund an, vor welchem wir die Begriffe Identität, Kultur, Kulturwandel, Migration, Eigenes und Fremdes etc. reflektieren können?

Beim Begriff Kultur denke ich zunächst an Zugehörigkeit. Man ist als Individuum Teil von etwas, das grösser ist als man selbst. Zugehörigkeit des Individuums zu einem Verband, eines Verbands zu Bündnissen und von Bündnissen zur Geografie, die sie betreffen. Zugehörigkeit meint sozusagen das Narrativ der sich zueinander verhaltenden Geschichten. Aus diesen sich aufeinander beziehenden Momenten der Individualität, der Historizität, der Lokalität erwächst die Gemeinschaft als ein Verständnis des kulturellen Miteinanders.

Das, was man gemeinsam erlebt hat, erlernt hat, aber auch das, was man gemeinsam hat, z.B. den öffentlichen Raum, die Geschichte des Verbands, in den man hineingeboren wird, die Fülle von soziotechnischen Praktiken: all das setzt uns in den Rahmen der Kultur, zu der wir zugehörig sind.

Nun können wir auf der Grundlage eines solchen Kulturbegriffs, der sich nicht aus der Homogenität seiner Form, sondern aus der Heterogenität seines Inhalts ergibt, schliessen, dass die Identität in diesem Zusammenhang kaum Gleichförmigkeit bedeuten kann. Zugehörigkeit bedeutet vielmehr eine Identifizierungsleistung, d.h. die Zuschreibung eines Merkmals (eines Teils, einer Praktik, eines Individuums etc.) als zu dieser Kultur zugehörig.

Das impliziert aber, dass Kulturidentität keinen dialektischen Begriff meinen kann. Identität ergibt sich nicht durch Abgrenzung von nicht-p, sondern durch ein Zusammenspiel verschiedener Teile in einem Grösseren. Das Eigene identifiziert sich demnach aber auch nicht als das Nichtfremde. Kulturidentität wird, so verstanden, nicht in der Abgrenzung zu etwas Anderem entwickelt, sondern in der Synthese der vielfältigen Kräfte, die gemeinschaftsbildend sind.

Und das, meine ich, hat Jullien darzustellen versucht: Dass Ressourcen kulturstiftende Potenziale sind, die wir nutzen können, um unsere historisch und geografisch gewachsenen Selbstbilder miteinander weiterzuentwickeln.

Und dazu gehört nun die Denkalternative, das Eigene ist nicht aus der Identität heraus zu verstehen, sondern als Ressource, die in einem gewissen Abstand liegt, zu der man auch aufrücken kann, um ihr Potenzial nutzbar zu machen. Nicht in einem kolonialen, sondern in einem kooperativen Sinn.
Zuletzt geändert von Alethos am So 11. Mär 2018, 11:39, insgesamt 1-mal geändert.



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So 11. Mär 2018, 11:38

Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:09
Nun können wir auf der Grundlage eines solchen Kulturbegriffs, der sich nicht aus der Homogenität seiner Form, sondern aus der Heterogenität seines Inhalts ergibt, schliessen, dass die Identität in diesem Zusammenhang kaum Gleichförmigkeit bedeuten kann.
Das ist ja nur eine These.
Natürlich ist unsere Kultur durch eine gewisse Heteogenität definiert, aber eben auch durch Homogenität im Bezug auf bestimmte Einstellungen, die immer wieder diskutiert werden, z.B. vor dem Hintergrund des omnipräsenten Migrationsthemas. Passt der Islam zu Deutschland; Ja, Nein, Vielleicht?
Wäre Heterogenität nun der einzige Kitt, wäre der Rechtsruck in der Gesellschaft, der ja nun mal da ist, nicht da. Oder?
Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:09
Zugehörigkeit bedeutet vielmehr eine Identifizierungsleistung, d.h. die Zuschreibung eines Merkmals (eines Teils, einer Praktik, eines Individuums etc.) als zu dieser Kultur zugehörig.

Das impliziert aber, dass Kulturidentität keinen dialektischen Begriff meinen kann.
Wieso? Wir begreifen uns ja gerade in weiten Teilen als pluralistische Kultur, in der jeder kann, wie er will, wenn es nur Pluralist ist. Das ist ja durchaus auch eine kulturelle Identifikation, das muss nicht nur Bratwurst und Tatort sein.
Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:09
Identität ergibt sich nicht durch Abgrenzung von nicht-p, sondern durch ein Zusammenspiel verschiedener Teile in einem Grösseren. Das Eigene identifiziert sich demnach aber auch nicht als das Nichtfremde. Kulturidentität wird, so verstanden, nicht in der Abgrenzung zu etwas Anderem entwickelt, sondern in der Synthese der vielfältigen Kräfte, die gemeinschaftsbildend sind.
Doch, ich denke, dass die Identifikation mit x zugleich die Nichtidentifikation mit nicht-x meint.
Ich bin für Toleranz und Pluralismus, heißt ja zugleich gegen Intoleranz und eine bestimmte Ideologie zu sein.
Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:09
Und das, meine ich, hat Jullien darzustellen versucht: Dass Ressourcen kulturstiftende Potenziale sind, die wir nutzen können, um unsere historisch und geografisch gewachsenen Selbstbilder miteinander weiterzuentwickeln.
Das passiert ja auch ständig, Kultur ist nun wirklich nichts starres, aber die Kämpfe und Krämpfe beim kulturellen Umbruch gehören eben auch dazu. Früher war man ein geisteskranker Extremist, wenn man gesagt hat, dass wir die Umwelt nicht schamlos aufbeuten dürfen, heute nennen einen dieselben Leute Extremisten, wenn man das Thema Klima nicht mindestens hysterisch zu interpretieren bereit ist.
Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:09
Und dazu gehört nun die Denkalternative, das Fremde ist nicht als das Nichteigene zu verstehen, sondern als Ressource, die in einem gewissen Abstand liegt, zu der man auch aufrücken kann, um ihr Potenzial nutzbar zu machen. Nicht in einem kolonialen, sondern in einem kooperativen Sinn.
Klar, ich sehe das eigentlich auch so, sah die Migrationsbewegung, wenn man sie nutzt, als Chance, sehe das im Grunde auch weiterhin so, dennoch darf man nicht verkennen, dass eine breite Minderheit das nicht so sieht, dazu kommt, dass man in Deutschland schnell als Nazi gilt, wenn man Probleme benennt und es wie immer die ganze Palette gibt.

Ich plädiere immer dafür, dass wir in Deutschland mal alle gemeinsam diskutieren, wie wir in Zukunft leben wollen und wie auf keinen Fall und zwar über das was Recht ist hinaus, in den Bereich der Moral hinein. Ich habe aber inzwischen nicht mehr die Illusion, die ich anfangs hatte, dass das irgendwann passieren wird. Und Werte sind je zentrale Bausteine der kulturellen Identifikation.



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So 11. Mär 2018, 11:51

Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 08:07
Tarvoc hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 03:09
Nicht in "den Kommunismus", und ganz sicher nicht in den Sowjetkommunismus, sondern vielmehr in die Möglichkeit einer Alternative zum entfesselten globalen Kapitalismus überhaupt.
Ich bleibe dennoch skeptisch, dass die einzige und irgendwie dann im Zweifel doch lieber gewünschte Alternative der Kommunimsus in irgendeiner Form gewesen wäre.
Das steht da auch nicht. Du kannst gerne weiterhin bezweifeln, was niemand je behauptet hat.
Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 08:07
Tarvoc hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 03:09
Wie ich ja beschrieben hatte, setzte in etwa Anfang der Neunziger auch der schleichende Verfallsprozess sämtlicher "Dritten Wege" (Sozialdemokratie, etc.) ein.
Da kann man nicht leugnen, aber ich vermute, es liegt gnaz einfach daran, dass dieser dritten Wege keine waren, sondern in der Mehrzahl einfach der neolberalen Doktrin Glauben geschenkt wurde, dass, wenn erst genug Kohle verdient wird, die sozialen Verbesserungen als Kollateraleffekt so sicher wie das Amen in der Kirche kommen und das ist nicht passiert, statt dessen brach die Mittelschicht immer mehr weg.
Wie? Wofür oder wogegen argumentierst du hier gerade? Das ist genau der Verfallsprozess, von dem ich gesprochen habe. Dass die Sozialdemokratie dem Neoliberalismus anheim fiel, liegt ganz sicher nicht daran, dass sie schon immer nichts anderes war als Neoliberalismus, denn das stimmt einfach nicht.
Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 08:07
Kann sein, aber ich sehe einen gezähmten Kapitalismus nicht als Problem an und ich halte die Behauptung für falsch, dass er nicht zu zähmen sei.
Das ist ein völlig anderes Thema, über das hier in diesem Thread niemand gesprochen hat.
Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 08:07
Weiter muss man Wirtschaft und Finanzwirtschaft unterscheiden [...]
Warum nicht gleich schaffendes und raffendes Kapital?

Man kann natürlich den Kapitalismus gedanklich in Einzelteile zerlegen und so tun, als bestünden diese Einzelteile unabhängig voneinander, und dann jeden einzelnen Teil nach irgendwelchen äußerlichen Moralkrierien evaluieren. Nur dummerweise haben sich die "schlechten" Teile nicht zufällig zusammen mit denen entwickelt, die man aus welchen Gründen auch immer für "gut" befindet. Warum zum Beispiel Finanzspekulation zum Kapitalismus notwendig dazugehört, kannst du im dritten und vierten Kapitel von Marx' Kapital nachlesen (das gibt's übrigens auch online). Bzw. eigentlich folgt das schon aus der Geldform selbst. Das ist aber Off-Topic hier, deshalb belasse ich es mal bei diesen Hinweisen.
Zuletzt geändert von Tarvoc am So 11. Mär 2018, 11:57, insgesamt 3-mal geändert.



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So 11. Mär 2018, 11:53

@"Tosa Inu"

Ich denke, wir stehen erst am Anfang einer kulturellen, ethnischen Durchmischung, die nicht aufzuhalten ist. Auch die 'breite Minderheit' kann dagegen wohl nichts unternehmen, dass die Welt den Menschen gehört und nicht den Grenzen. Und auch nationale Populismen sind im Grunde nur Abwehrreaktionen gegen die unaufhaltsame Bewegung des Zusammenwachsens von Menschen zu Gemeinschaften ganz anderer Ordnungen als nationale.

Man kann darüber diskutieren, ob man das gut findet oder nicht, und wir sollten uns bei diesen Diskussionen auch nicht in verschiedene Schubladen stecken und sie mit was auch immer für Bezeichnungen anschreiben. Aber es wäre naiv von der Annahme auszugehen, dass kulturelle Identität dadruch stark bleiben kann, dass sie bleibt, wie sie immer war. Es wäre, um es etwas platt auszudrücken, irrig zu glauben, wir hätten das Internet erschaffen, um nationale und kulturelle Identitäten zu zementieren, anstatt sie neu zu definieren.



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So 11. Mär 2018, 11:54

Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:09
Ich werde das Gefühl nicht los, dass überhaupt nicht mehr über das eigentliche Thema geredet wird.
Vermutlich weil "Kultur" einfach so schwer greifbar ist. Von "Identität" ganz zu schweigen.



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So 11. Mär 2018, 12:01

Tarvoc hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:51
Warum nicht gleich schaffendes und raffendes Kapital?
:shock:
In Zukunft werde ich Dir nicht mehr antworten.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Tosa Inu
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So 11. Mär 2018, 12:13

Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:53
Und auch nationale Populismen sind im Grunde nur Abwehrreaktionen gegen die unaufhaltsame Bewegung des Zusammenwachsens von Menschen zu Gemeinschaften ganz anderer Ordnungen als nationale.
Naja, man sollte Sprache, nationale Mythen und vor allem den Mangel an übergeorndneten Attraktoren nicht unterschätzen. Ich denke auch, dass sie bestimmmte transnationale Zonen hier und da bilden könnten, wie Ökoregionen, Spielerparadiese, was auch immer da entstehen wird, aber meistens beginnt man sich erst später für sowas wie die eigenen Wurzeln (auch die kulturellen) zu interessieren.
Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:53
Man kann darüber diskutieren, ob man das gut findet oder nicht, und wir sollten uns bei diesen Diskussionen auch nicht in verschiedene Schubladen stecken und sie mit was auch immer für Bezeichnungen anschreiben. Aber es wäre naiv von der Annahme auszugehen, dass kulturelle Identität dadruch stark bleiben kann, dass sie bleibt, wie sie immer war.
Das glaube ich auch nicht, ich glaube nur, dass das Wegbrechen weiterer Identifikationsmöglichkeiten ein ziemliches Desaster ist.
Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:53
Es wäre, um es etwas platt auszudrücken, irrig zu glauben, wir hätten das Internet erschaffen, um nationale und kulturelle Identitäten zu zementieren, anstatt sie neu zu definieren.
Das zu verstehen ist dann aber doch eine psychologische Frage. ;)



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Tarvoc
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So 11. Mär 2018, 12:22

Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 12:01
:shock: In Zukunft werde ich Dir nicht mehr antworten.
:mrgreen: Das war zugegebenermaßen ein wenig frech von mir. Natürlich meine ich nicht, dass du das vertrittst. Wenn du mir deshalb nicht mehr antworten willst, werde ich wohl damit leben müssen.

Aber im Ernst: Sich eine moderne kapitalistische Wirtschaft ohne Finanzspekulation und Derivatenhandel vorzustellen funktioniert aus vielerlei Gründen nicht.



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Friederike
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So 11. Mär 2018, 12:54

Tosa Inu hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:38
Alethos hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 11:09
Und dazu gehört nun die Denkalternative, das Fremde ist nicht als das Nichteigene zu verstehen, sondern als Ressource, die in einem gewissen Abstand liegt, zu der man auch aufrücken kann, um ihr Potenzial nutzbar zu machen. Nicht in einem kolonialen, sondern in einem kooperativen Sinn.
Klar, ich sehe das eigentlich auch so, sah die Migrationsbewegung, wenn man sie nutzt, als Chance, sehe das im Grunde auch weiterhin so, dennoch darf man nicht verkennen, dass eine breite Minderheit das nicht so sieht, dazu kommt, dass man in Deutschland schnell als Nazi gilt, wenn man Probleme benennt und es wie immer die ganze Palette gibt. Ich plädiere immer dafür, dass wir in Deutschland mal alle gemeinsam diskutieren, wie wir in Zukunft leben wollen und wie auf keinen Fall und zwar über das was Recht hinaus, in den Bereich der Moral hinein. Ich habe aber inzwischen nicht mehr die Illusion, die ich anfangs hatte, dass das irgendwann passieren wird. Und Werte sind je zentrale Bausteine der kulturellen Identifikation.
Alethos faßt ganz kurz und präzise, wenn ich ihn richtig verstehe (sorry @Alethos, ich red' über Deinen Kopf hinweg), den Ansatz von Jullien zusammen. Das Wort "kulturelle Identität" taucht denn folgerichtig in dem obigen Zitat auch gar nicht auf. Du führst es nun zwar wieder in die Debatte ein, was ja auch Dein gutes Recht ist, nur denke ich, daß es uns nicht weiter bringt, wenn wir genau auf der Ebene und mit den Termini das Gespräch fortsetzen, die im gesellschaftlichen Bereich -Deutschlands- bisher die öffentliche Auseinandersetzung sowieso dominiert haben: "Identität", "Werte", "Moral". Es geht Jullien doch gerade darum, diese Verhakelungen aufzubrechen und anstelle dessen etwas Neues -im theoretischen Rahmen-auszuprobieren. Daß es breite Minderheiten (oder meintest Du breite Mehrheiten?) gibt, die weniger die Chance im Blick haben denn vermeintlich drohende Verluste, mag ja sein und ist wohl auch so, was für eine Funktion hat diese Beobachtung aber innerhalb oder für Deine persönliche Sichtweise der Chance? Und dieselbe Frage oder besser denselben Einwand habe ich gegen das von Dir beschriebene Phänomen der "Nazifizierung". Was bedeutet es für Deine Argumentation? Die gesellschaftlichen Widerstände, die Du siehst, wären mE der beste Grund, das alte Denkmuster der Identität wenigstens probeweise beiseitezulegen.




Tosa Inu
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So 11. Mär 2018, 13:14

Friederike hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 12:54
... die öffentliche Auseinandersetzung sowieso dominiert haben: "Identität", "Werte", "Moral".
Ich wäre ja froh gewesen, habe aber keine Auseinadersetzung dieser Art gefunden. Wo war die und wie war das Ergebnis?
Friederike hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 12:54
Daß es breite Minderheiten (oder meintest Du breite Mehrheiten?) gibt, die weniger die Chance im Blick haben denn vermeintlich drohende Verluste, mag ja sein und ist wohl auch so, was für eine Funktion hat diese Beobachtung aber innerhalb oder für Deine persönliche Sichtweise der Chance?
Minderheit. Ich denke, eien Minderheit ist gegen Einwanderung, aber vielleicht eine 20 - 30% Minderheit.
Für mich bedeutet es, dass die Chancen eher nicht gesehen werden und ich finde die Integrationspolitik in Deutschland eher traditionell missraten.
Friederike hat geschrieben :
So 11. Mär 2018, 12:54
Und dieselbe Frage oder besser denselben Einwand habe ich gegen das von Dir beschriebene Phänomen der "Nazifizierung". Was bedeutet es für Deine Argumentation? Die gesellschaftlichen Widerstände, die Du siehst, wären mE der beste Grund, das alte Denkmuster der Identität wenigstens probeweise beiseitezulegen.
Was sollte an die Stelle treten? Die Interessengemeinschaft jener, die an einem Strang ziehen wollen? Das wäre m.E. das was auch bei einer Wertediskussion rauskommen müsste, würde sie denn geführt.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Friederike
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So 11. Mär 2018, 13:31

offtopic: @T.I., nur eine grundsätzliche Anmerkung zur Freu'dschen Theorie, speziell dem ödipalen Teil. Meiner Auffassung nach ist der "Ödipuskomplex" derart patriarchal kontaminiert ... nee, Symptom einer patriarchisch strukturierten Gesellschaft, daß ich ihn für gesellschaftsbezogene Analysen nicht in Anspruch nehme, es sei denn in kritischer Absicht.




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