Fortsetzung "Corona"

Dieser Teil des Forums befaßt sich mit politischen, sozialen und historischen Aspekten der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten.
Nauplios
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Frankreich im August 2016.
Am Strand von Nizza liegt eine Frau und nimmt ein Sonnenbad. Sie trägt schwarze Leggins. Darüber trägt sie eine hellblaue, langärmlige Hemdbluse und ein farblich dazu passendes Kopftuch. In Frankreich herrscht nach dem Attentat von Nizza in einigen Gemeinden ein Burkini-Verbot. Vier mit Schlagstöcken bewaffnete Polizisten umringen die Frau. Einer füllt einen Strafzettel aus. Die Frau trägt keinen Burkini. Sie muß ihr Oberteil ausziehen. - Die Bilder gehen um die Welt.

"Eine Woche zuvor hatte eine 34-jährige Frau am Strand in Cannes einen Strafzettel bekommen, weil sie angeblich 'unangemessen gekleidet' war. Auch sie trug keinen in Cannes verbotenen Burkini, sondern Leggings mit weiter Bluse und Kopftuch, das nur die Haare bedeckte. Eine Fernsehjournalistin wurde zufällig Zeugin der Szene und berichtete: 'Ich sah drei Polizisten, die den Strand absuchten, den Finger am Abzug ihres Tränengassprays. Dann gingen sie auf die Frau zu, die nur einen einfachen Hidschab um den Kopf trug.'" (Quelle)

Für die Moralisierung des Politischen steht im Sommer 2016 in Frankreich dieses Foto:


Burkini-Nizza-2.jpg
Burkini-Nizza-2.jpg (54.84 KiB) 4232 mal betrachtet




Nauplios
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 21:31

... aber zu behaupten Recht und Gesetz hätten überhaupt nichts (mehr) mit Moral oder Moralvorstellungen zu tun, halte ich für falsch und unsinnig.
Ja, das halte ich auch für falsch. Wie haben sie denn "miteinander zu tun"? - In Die Moral der Gesellschaft schreibt Luhmann:

"Wenn nun die Annahme zutrifft, daß die moderne Gesellschaft nicht mehr über Moral integriert sein kann und auch nicht mehr den Menschen über Moral ihre Plätze anweisen kann, dann muß die Ethik in der Lage sein, den Anwendungsbereich der Moral zu limitieren. (...) Angesichts dieser Sachlage ist es die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen." (Niklas Luhmann; Die Moral der Gesellschaft; S. 266)

Dieses "Miteinander-zu-tun-haben" wird von Luhmann ja in einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme beschrieben. Über die operative Geschlossenheit sozialer Systeme wie Politik, Wirtschaft, Erziehung, Wissenschaft, Recht, Kunst usw. hatten wir ja hier kürzlich schon gesprochen. Um dieses "Miteinander-zu-tun-haben" genauer zu entfalten, müßte man im Grunde den Ort dieser Theorie sozialer Systeme aufsuchen - was ja nicht selten und gerade im Fall der Systemtheorie als Zumutung empfunden wird (s. etwa den Erfahrungsbericht von Stefanie bezüglich Inklusion).

Moderne Gesellschaften sind nicht mehr über Moral integrierbar. Das kann man schon daran erkennen, daß ja niemand auf die Idee kommt, die unterschiedlichen Moralen, die es in diesen Gesellschaften gibt, an Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen. Ein Salafist aus Köln würde aufgrund seiner moralisch-religiösen Überzeugung das Rechtsfahrgebot akzeptieren, wohl auch Rücksichtnahme, nur Frauen am Steuer nicht. In der Flüchtlingsdebatte war ja oft das Argument zu hören, daß "oberhalb" aller moralischen und kulturellen Unterschiede das (Grund-)Gesetz für alle Geltung habe. Das heißt nicht, daß im Grundgesetz naturrechtliche Traditionen nicht hineinspielen würden (Stefanie hat darauf hingewiesen), nur ändert das nichts daran, daß es gerade das positive Recht war, was durch seine Autonomie, dadurch, daß es durch das Verfahren seiner Setzung Akzeptanz erfährt, daß das System Recht sich etwa aus christlichen Moralvorstellungen heraus(!)entwickelt hat. Du sollst nicht töten - gilt für den Christen und hat Geltung im säkularen Staat. Wenn man das mal umdreht, sieht man die "Errungenschaft", die in der "Emanzipation" des Rechts von der Moral liegt: in Gottesstaaten kann man für eheliche Untreue getötet werden, weil man gegen ein religiös beglaubigtes Moralgesetz verstoßen hat, welches zugleich staatliches Gesetz ist. In modernen, säkularen Staaten gibt es spezielle Clubs zur Anbahnung von Ehebrüchen.

Die Unterscheidung von Recht und Moral und die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Systems von Recht hat also durchaus Komfortsteigerungen für die Bürger bewirkt. Kardinal Woelki würde sagen: sie haben zum Verfall der Sitten beigetragen.

Apropos Kardinal: die katholische Kirche tut sich unendlich schwer mit der Aufarbeitung ihrer Mißbrauchskandale. Das liegt u.a. daran, daß die Kirche mit dem Codex Iuris Canonici ein eigenes Kirchenrecht, einschließlich Strafrecht, hat. Sexueller Mißbrauch wurde bis dahin unter "Verstöße gegen die Zölibatspflicht" behandelt. Deren Strafverfolgung erfolgte nach dem sogenannten Opportunitätsprinzip, d.h. die Verfolgung solcher "Verstöße gegen die Zölibatspflicht" stand im Ermessen des jeweiligen Vorgesetzten. (Inzwischen ist das geändert) - Die Moral von der Geschicht: Geistliche, die des sexuellen Mißbrauchs an Kindern schuldig waren, wurden "zur Strafe" versetzt. -

All das konnte funktionieren in einer Institution mit an Moral angeschlossener eigener Gerichtsbarkeit.




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Mo 6. Dez 2021, 02:54

Stefanie hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 21:34
Ein kaum bekannte gesetzliche Regelung.
Paragraph 1 STVO Straßenverkehrsordnung
(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
(2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Das Rücksichtnahmegebot und der Vertrauensgrundsatz. Gutes Benehmen, Rücksicht nehmen, sich anständig verhalten, vorsichtig sein. Ich weiß nicht, klingt doch ziemlich nach Moral. Goldene Regel und so. Deshalb steht es ganz am Anfang.
Ob da rechts oder links steht, ist egal. Es ist die Ausgestaltung dieses Grundsatz.
Gegenseitige Rücksichtnahme ... gutes Benehmen ... anständig sein ... die berühmten "guten Sitten" ... das sind die "unbestimmten Rechtsbegriffe", die sich in Gesetzestexten und Verordnungen finden. Natürlich haben sie "mit der Moral zu tun". - Aber das Entscheidende ist doch, daß der Gesetzgeber die Rücksichtnahme, den Anstand, das gute Benehmen nicht definiert! Er läßt diese Rechtsbegriffe "unbestimmt". Der Gesetzestext bestimmt eine Verkehrsregel, er bestimmt nicht, daß der Mann vorher der Frau die Wagentür aufzuhalten hat. - Die Straßenverkehrsordnung könnte ja auch regeln, daß Frauen grundsätzlich "grün" haben, damit im Straßenverkehr Höflichkeit einzieht. Das tut sie nicht.




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Mo 6. Dez 2021, 02:58

Stefanie hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 21:34

Das alte Scheidungsrecht war sowas von moralisch ...
Ist es nicht schön, daß es jetzt weniger moralisch ist? ;)




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Jörn Budesheim
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Mo 6. Dez 2021, 05:36

Burkart hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 21:57
z.B. fairere Steuern
Du gehörst schließlich zu den Reichen dieser Welt, wie viel Steuern möchtest du denn zahlen? Was ist dein Vorschlag?




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Mo 6. Dez 2021, 05:45

Stefanie hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 21:34
Gutes Benehmen, Rücksicht nehmen ...
Gibt es nicht im Recht auch ganz konkret den Bezug auf die "guten Sitten"?




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Stefanie
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Mo 6. Dez 2021, 05:58

Im BGB.
§ 138 Sittenwidriges Rechtsgeschäft; Wucher
(1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.
(2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen.

In Absatz 2 steht beispielhaft, wann gegen die guten Sitten verstoßen wird.
An anderer Stelle im BGB ist von Verkehrssitten die Rede, das meint aber etwas was anderes.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Nauplios hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 19:52
In diesem Imperativ geht es vielmehr um die Verteidigung einer Errungenschaft, nämlich der Trennung von Recht und Moral.
Recht und Moral sind verschiedene Dinge, das heißt aber nicht, dass sie getrennt sind oder sein sollten. Ein paar Beispiele: Recht wird festgelegt, gilt ab einem bestimmten Datum, kann geändert werden und wird gegebenenfalls mit Sanktionen durchgesetzt etc. All das gilt für das Richtige nicht ohne weiteres. Von daher sind das Recht und das Richtige verschiedene Dinge. Allerdings sollte sich das Recht am Richtigen orientieren. Von daher hängen Recht und das Richtige zusammen bzw sie sollten zusammenhängen. Das Recht sollte sich am Richtigen orientieren keineswegs von ihm getrennt sein.




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Stefanie
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Mo 6. Dez 2021, 06:00

Nauplios hat geschrieben :
Mo 6. Dez 2021, 02:58
Stefanie hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 21:34

Das alte Scheidungsrecht war sowas von moralisch ...
Ist es nicht schön, daß es jetzt weniger moralisch ist? ;)
Es ist weiterhin moralisch, nur liegt dem jetzt anderer Wertvorstellung zu Grunde.



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Nauplios hat geschrieben :
Mo 6. Dez 2021, 02:58
Ist es nicht schön, daß es [das Scheidungsrecht] jetzt weniger moralisch ist? ;)
Das ist ungefähr so sinnvoll wie die Frage: "Ist es nicht schön, daß das Scheidungsrecht jetzt weniger gerecht ist? ;)"




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Mo 6. Dez 2021, 06:27

Wenn das Recht und das Richtige wirklich getrennt wären und der zynische Slogan "keine Macht der Moral" seine Berechtigung hätte, dann würden wir beim Rückblick auf die Nazizeit einfach mit den Achseln zucken und sagen "keine Macht der Moral", wenn wir uns vor Augen führen, wie damals im Namen des Rechtes schlimmstes Unrecht begangen wurde. Recht und Moral waren bei den Nazis tatsächlich getrennt, das Recht war nur noch ein Mittel zur Durchsetzung des Führerwillens.

Jedem hier ist klar, dass das so nicht sein sollte und das zeigt unmissverständlich, wie problematisch die Idee ist, dass Recht und Moral getrennt sind.




Burkart
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Mo 6. Dez 2021, 06:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 6. Dez 2021, 05:36
Burkart hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 21:57
z.B. fairere Steuern
Du gehörst schließlich zu den Reichen dieser Welt, wie viel Steuern möchtest du denn zahlen? Was ist dein Vorschlag?
Wir zahlen nur Steuern in Deutschland, nicht in der ganzen Welt, soweit ich weiß ;) Also ist nur dies relevant. (Oder z.T. noch die EU von mir aus.)
Für die ganze Welt müsste man vieles erst umstellen, z.B. einheitliche Steuersätze (keine Steuerflucht mehr für Reiche und die Facebooks dieser Welt möglich, hurra!), aber letztlich auch wirtschaftlich und damit auch politisch vieles anpassen; davon sind wir Lichtjahre weit weg, sozusagen



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Ottington
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Mo 6. Dez 2021, 08:07

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 21:31
Nauplios hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 19:52
Deswegen: "Keine Macht der Moral". - Keine Macht der Moral ist ja nicht die Leugnung der Existenz von Moral. In diesem Imperativ geht es vielmehr um die Verteidigung einer Errungenschaft, nämlich der Trennung von Recht und Moral.
Wie entstehen denn Gesetze? Also aus welchen Gründen? Steht da nicht am Anfang immer eine Forderung? Und hat die auch was mit Moralvorstellungen zu tun?
Es ist gerade das positive, moralfreie Recht, das die Impfpflicht ermöglicht. Die Remoralisierung des Politischen würde entweder dazu führen, das wir uns auf das Richtige einigen müßten oder daß sich diese Frage nach dem Richtigen, weil es das Richtige ist, von selbst beantwortet. Im Fall der Impfpflicht ist beides nicht zu erwarten.
Ich sehe das anders. Eine Remoralisierung wäre ja nur möglich, wenn die Moral jemals aus dem Recht oder der Politik raus gewesen wäre.
Das war und ist sie aber wenn dann nur partiell.
Du sollst nicht töten.
Diesen moralischen Grundsatz haben wir in eine Reihe von Gesetzen gegossen.
Es mag sein, dass Rechtsgelehrte sich eine moralfreie Gesetzgebung wünschen (warum auch immer).... aber zu behaupten Recht und Gesetz hätten überhaupt nichts (mehr) mit Moral oder Moralvorstellungen zu tun, halte ich für falsch und unsinnig.
Das kann man aber nicht erkennen, wenn man Beispiele aus der Straßenverkehrsordnung bringt. Dazu müsste man schon mehr ins Eingemachte gehen.
Ich sehe das ähnlich. Moral ist ja nur die Grundlage für ein Denken und Handeln, das ein gemeinschaftliches Leben in Frieden und Freiheit sicherstellen soll. Moralvorstellungen müssen nicht nur aus irgendwelchen tradierten Normen und Geboten bestehen, die ein bärtiger Mensch in Steintafeln vom Berg geschleppt hat und von nun an gelten sollen. Sondern es sind auch selbstauferlegte Moralgesetze, die wir uns selber erarbeiten und als Richtlinie setzen. Moral in Eigenentwicklung - und verantwortung sozusagen.

Und gerade in diesem Sinne werden auch Gesetze geschaffen. Sie haben den Hintergrund ein friedliches und freies Zusammenleben zu sichern. Der Staat ist etwas, worauf wir alle uns einigen und unterwerfen, weil er als oberstes Organ genau die oben beschriebene Freiheit sichern soll. Denn sonst könnte mein Nachbar meine Freiheit durch sein Handeln begrenzen.
Damit basiert politisches Handeln nicht auf dessen Akzeptanz (die wird es in der Gesamtheit eh nie geben), sondern auf der moralischen Maxime, die schon Kant beschrieben hat: Handle stets so, dass die Maxime auch Gesetz sein könnte.




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Ottington
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Mo 6. Dez 2021, 08:22

Friederike hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 19:09
1+1=3 hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 18:28
Moral sollte damit doch nicht auf Interesse reduziert werden, es fiel mir bei meinen Ausführungen nur auf, dass damit etwas Bestimmtes erreicht werden soll, also auch (!) immer ein gewisses Interesse daran beteiligt ist. [...]
Was fehlt denn an Zutat, damit das Interesse zur Moral ergänzt wird und damit die "komisch" = unmoralisch "klingende" Aussage (Dein Beispiel @Ottington) zu einer moralisch klingenden Aussage wird?
"Richtig ist, was mir mehr nützt als es mich kostet" ist eine Maxime, die keine Moral in sich trägt. Eine solche Maxime wird in (näherer) Zukunft eine Gefahr für die Freiheit dessen sein, der in dieser Maxime seine größtmögliche Freiheit sieht. Anders gesagt: Wer so denkt, sägt auf dem Ast, auf dem er sitzt.




Nauplios
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Um mal ein Beispiel für die größtmögliche Überlappung von Recht, Moral und Politik zu geben (nein, nicht Afghanistan):

"Eine Trennung von Recht und Moral sollte es im NS-Staat nicht geben. Die NS-Ideologie gab die Inhalte von Recht, Moral und Politik einheitlich vor. Die Bereiche waren deckungsgleich. Zu den Gesetzen traten überpositive Normen der Moral, die sogenannte 'Sozialethik des deutschen Volkes' oder 'völkische Sittenordnung', deren Inhalt von der NS-Ideologie und somit vom Führerwillen bestimmt wurde, eine nationalsozialistische 'Rechtsidee', die den bestehenden positiven Normen eine 'neue Zielsetzung' gab, und anhand derer die der NS-Ideologie zuwiderlaufenden Normen korrigiert wurden. Das Recht sollte die nationalsozialistischen Moralvorstellungen widerspiegeln, es wurde 'ethisiert' bzw. 'moralisiert' bzw. 'ideologisiert' Dies geschah u.a. (...) durch die vermehrte Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln ('Materialisierung'), die die strafrechtlichen Normen unschärfer machten; Rechtsanwender mussten auf außerrechtliche Maßstäbe, namentlich auf durch die NS-Ideologie geprägte Moralnormen zurückgreifen." (Leon Augustin Hill; Der Dualismus von Recht und Moral im NS-Strafrecht und heute, in: "Göttinger Rechtszeitschrift" 2/2020; S. 129)

Der Aufsatz endet mit einer Betrachtung der Gegenwart und resümiert:

"Um das Recht an die 'Vielgestaltigkeit des Lebens' anzupassen, werden zwar oftmals unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet; im Strafrecht, dem 'schärfsten Schwert' des Rechtsstaats, sind hier jedoch von der Verfassung enge Grenzen gesetzt. Strafbarkeit an einer moralischen Wertung festzumachen ist erstens in einer pluralistischen Gesellschaft aufgrund der unterschiedlichen Wertvorstellungen kaum überzeugend, zweitens für den Bürger nicht vorhersehbar und daher an der Grenze zur verfassungswidrigen Unbestimmtheit (§ 240 II) bzw. zu unbestimmt (§ 211) im Sinne des Art. 103 II GG, problematisch im Hinblick auf Art. 97 I GG (Gesetzesbindung nicht Moralbindung) und viertens eine in Bezug auf Art. 1 III, 20 II 2, III GG unzulässige Gewaltenverschiebung vom Gesetzgeber auf den Richter."

"Die vorgenommene Untersuchung hat gezeigt, dass auch im heutigen Strafrecht Normen bestehen, die eine aus verfassungsrechtlichen Gründen bedenkliche Moralisierung des Strafrechts ermöglichen." (S. 136)

Mit all dem (hier beispielhaft am Strafrecht ausgeführt) ist keineswegs bestritten, daß naturrechtliche Vorstellungen - insbesondere nach 1945 - in der Rechtsprechung eine Rolle spielen. Im Grundgesetz ist das etwa bei der "Würde" des Menschen der Fall. Die Rechtsprechung kennt selbstverständlich, vornehmlich über die unbestimmten Rechtsbegriffe ("gute Sitten" u.ä.), den Bezug zur Moral. Die Moral findet auf diese Weise "Eingang" in das Recht. Das bestreitet übrigens auch Luhmann nicht. Zu sehen ist nur auch, daß die Moralisierung des Rechts mithilfe des Natur- bzw. des Vernunftrechts Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringt. Der Moralkodex der Katholischen Kirche stellt die Sittlichkeit des Menschen unter das Naturrecht. Das führt dann zu dem bekannten Argument, daß der Zweck der Sexualität die Fortpflanzung der Art ist, Homosexualität also verwerflich ist.

Wenn man naturrechtlich argumentiert, ist das nur so lange kommod wie die eigenen Vorstellungen von der Natur des Menschen bedient werden. Ansonsten kann man sich schnell in einer Gesellschaft wiederfinden, in der Homosexualität als widernatürlich unter Strafe gestellt ist oder Frauen nicht autofahren dürfen, weil es gegen ihre Natur ist. Die Moralisierung des Politischen kann dann dazu führen, daß Polizisten Strafzettel verteilen, wenn Frauen gegen die Bekleidungsvorschriften verstoßen. In Kabul sind die Bekleidungsvorschriften andere als in Nizza, doch bei Verstößen kommt in beiden Fällen die Polizei.

Das positive Recht ist insofern eine Errungenschaft, weil seine Normsetzung durch einen rechtsetzenden Akt erfolgt, der zwar auch an überpositiven Grundsätzen orientiert ist, als Setzung aber nicht auf vorgängige moralische Konsenseinholung angewiesen ist.

Es gibt Länder, in denen man für einen Kuß ins Gefängnis kommen kann. In Dubai zum Beispiel. Da hat die Moral alle Macht. ;)




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
So 5. Dez 2021, 19:52
Die Remoralisierung des Politischen würde entweder dazu führen, das wir uns auf das Richtige einigen müßten oder daß sich diese Frage nach dem Richtigen, weil es das Richtige ist, von selbst beantwortet. Im Fall der Impfpflicht ist beides nicht zu erwarten.
Die Remoralisierung des Politischen würde keineswegs dazu führen, dass wir uns auf das Richtige einigen müssten, sondern dazu, dass wir versuchen, uns am Richtigen zu orientieren, dass wir darum streiten, was richtig ist. Und zwar im Versuch, streitend, dem Richtigen näherzukommen. Remoralisierung des Politischen würde auch dazu führen, dass wir in Rechnung stellen, dass wir uns auch in moralischen Fragen irren können. Der Streit endet dann nicht zwingend im Konsens oder erst, wenn wir uns sicher sind, das Richtige getroffen zu haben, sondern in einer Abstimmung, das heißt er ist vorläufig beendet, Gesetze können schließlich wieder geändert werden. Die von dir stets hochgelobte provisorische Moral gibt es gar nicht. Was es aber gibt, sind provisorische moralische Ansichten und provisorische Gesetze, die aber zumindest versuchen, das Richtige zu treffen. Dabei stehen wir auch nicht einfach außerhalb der Moral, denn wenn wir um das Richtige mit Gründen streiten, machen wir bereits das Richtige. Das garantiert natürlich nicht, dass wir das Richtige auch treffen, deswegen sind die provisorischen Entscheidungen schließlich revidierbar.




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Nauplios hat geschrieben :
Mo 6. Dez 2021, 09:15
Da hat die Moral alle Macht.
Du argumentierst hier gegen dich selbst. Denn du findest es schließlich falsch, dass man für einen Kuss ins Gefängnis kommt. Würde man nur aufs positive Recht setzen dürfen, wäre damit alles okay.




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Mo 6. Dez 2021, 09:53

"Die strikte Trennung von Recht und Moral und die klare Überordnung des Rechts haben in Europa historisch ihren Ursprung in der Überwindung der religiös-konfessionellen Bürgerkriege durch den religionsneutralen, tendenziell 'säkularen' Staat der frühen Neuzeit. Was kann noch Inbegriff der wahren Moral oder einer moralisch bindenden Wahrheit sein, wenn auf demselben Territorium unvereinbare Wahrheits- und daraus hergeleitete Rechtsansprüche geltend gemacht werden? Thomas Hobbes gab darauf die bis heute aktuelle Antwort: Auctoritas, non veritas facit legem. Nur der Staat, der sich rechtlich auf die Sicherung der Bedingungen friedlichen Zusammenlebens beschränkt, vermag die verschiedenen religiösen und sittlichen Überzeugungen seiner Bürger zu achten und zu schützen." (Quelle)

Auch die "strikte Trennung von Recht und Moral" bedeutet nicht, daß Recht und Moral füreinander außer Sichtweite sind. Ganz im Gegenteil. Der Kuß wird allerdings zur Straftat, wenn die Moral zur Besatzungsmacht des Rechts wird. Das (und Ähnliches) meint Luhmann, wenn er sagt, es sei die Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen.




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Mo 6. Dez 2021, 09:57

Religion und Ideologien haben auch nichts in einem Rechtsstaat zu suchen. Aber wie schon gesagt, Moral besteht aus deutlich mehr.




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Mo 6. Dez 2021, 09:58

Karl Lauterbach wird neuer Gesundheitsminister. Politik und Moral liegen sich in den Armen. ;)




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