Diesen offenen Brief haben bekannte MedizinerInnen und PolitikwissenschaftlerInnen, PädagogInnen und Soziologen unterschrieben.
1
Gemeinsamer Aufruf
zum Umgang mit der Covid-19-Pandemie:
Beobachtungen und Anregungen
für die verantwortlichen Akteure in Deutschland
Die Situation
Die vierte Welle der Coronapandemie baut sich vor unseren Augen mit voller Kraft auf.
Die Inzidenz erreicht die höchsten Werte seit dem Beginn der Pandemie – Tendenz
steigend. Schon jetzt sterben in unserem Land 700 Menschen pro Woche – Tendenz
steigend. Jeder Tag des Abwartens kostet Menschenleben. Zeit für einen Aufruf.
Wir erinnern die Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger unseres Landes
in Bund und Ländern an ihre Verantwortung für das Wohlergehen der Bevölkerung. Als
grundlegende Werte stehen Gesundheit und Freiheit des Menschen miteinander nicht
in Konflikt, sondern bedingen sich gegenseitig. Sie beide zu erhalten und zu fördern ist
Aufgabe der drei demokratischen Gewalten.
Wir blicken in großer Sorge auf die kommenden Wochen und Monate. Die derzeitige
pandemische Situation hat das Potential, die Situation aus dem Frühjahr und
vergangene Wellen in den Schatten zu stellen. Einmal mehr ist der Zeitpunkt für
frühzeitiges Handeln allen Warnungen zum Trotz verstrichen. Das Infektionsgeschehen
breitet sich unkontrolliert aus. Das Gesundheitssystem läuft Gefahr,
zusammenzubrechen. Das Personal in den Krankenhäusern ist müde und quittiert den
Dienst. Auch im ambulanten Bereich steigen die Patientenzahlen; die
Infektionssprechstunden sind überfüllt. Die Arbeitslast liegt auch dort seit Monaten über
100%.
Wir empfinden eine tiefe Enttäuschung über die Gefährdung des gesellschaftlichen
Zusammenhalts und über den wiederholt nachlässigen Umgang mit dem Wohlergehen
der Menschen, die auf den Schutz des Staates angewiesen sind. Es ist für uns
unverständlich, dass die Verantwortungsträger dieses Landes eine solche Situation
zugelassen haben, obwohl wir inzwischen über wichtige und wirksame Instrumente
verfügen, um dem Sars-CoV-2-Virus Einhalt zu gebieten: Es sind zuallererst die
Impfstoffe als effektivste Vorbeugung, die uns im Unterschied zu vielen anderen
Ländern in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Es sind aber auch das Wissen
und die Erfahrung mit diesem Erreger, die eine effizientere Pandemiebekämpfung
hätten ermöglichen können.
Eine Vielzahl von entsprechenden Handlungsempfehlungen wurde von uns und
anderen Wissenschaftler*innen deutlich kommuniziert, aber leider nur zögerlich,
unvollständig oder nicht nachhaltig umgesetzt. Im Gegenteil: für die
Pandemiebekämpfung zentrale und dringend notwendige Infrastrukturen wie z. B. die
Kontaktrückverfolgung oder die Test- und Impfzentren wurden wieder zurückgebaut.
Auch in der vierten Welle gelingt das Pandemiemanagement nicht so, wie man es
angesichts des Wohlstandes und der technologischen und administrativen
Möglichkeiten Deutschlands erwarten sollte. Stattdessen verlagert die Politik durch ihr
passives Abwarten zunehmend die Verantwortung, die vierte Welle zu brechen, ins
Private, das heißt in den Ermessensspielraum jedes einzelnen Menschen. Solch eine
Haltung ist bei nationalen Gesundheitskrisen dieses Ausmaßes nicht angebracht.
Appell und Anregungen
Wir appellieren deshalb eindringlich an die politisch Verantwortlichen in Bund, Ländern
und Kommunen, jetzt ihrer Verantwortung umfassend gerecht zu werden. Das
bedeutet erstens, die Realität anzuerkennen: Dieses Virus wird die Welt noch eine
Weile in Atem halten. Es wird nicht einfach verschwinden. Auch im “endemischen”
Zustand, so es diesen erreicht, wird es wahrscheinlich immer wieder heftige
Infektionswellen verursachen, sofern die Impfraten nicht deutlich gesteigert werden.
Zwischen der Inzidenz und den nachfolgenden Zahlen für Krankenhausaufenthalte,
Intensivpatienten, Verstorbene und Langzeitgeschädigte wird es immer einen klaren
Zusammenhang geben. Er kann sich zwar quantitativ ändern, wird sich aber nie
entkoppeln. Im Sinne eines Frühwarnsystems bleiben Inzidenzwerte – zusammen mit
anderen Parametern – unverzichtbar.
Zweitens bedeutet Verantwortung eine aufrichtige, besonnene und vor allem
kohärente Kommunikation, die den Bürgerinnen und Bürgern vertraut, ihnen aber
auch unangenehme Wahrheiten zumutet sowie klare und konsistente
Verhaltensrichtlinien vorgibt. Dass eine solche Kommunikation sowie einheitliche
verbindliche Regelungen weiterhin fehlen, untergräbt das Vertrauensverhältnis
zwischen Regierung und Bevölkerung, beschädigt somit auch das Vertrauen in die
Maßnahmen – unter anderem in das Impfen – und trägt dadurch erheblich zur
Verlängerung der Pandemie bei.
Drittens bedeutet Verantwortung, sich der deutschen und europäischen Rolle in der
globalen Pandemiebekämpfung bewusst zu werden. Die grundlegende Bedingung
dafür, diese Rolle auszufüllen, ist die Kontrolle der Pandemie in der eigenen Region.
Nicht nur verhindert man dadurch, dass sich Infektionen von Europa aus in andere
Länder ausbreiten. Man schafft auch mehr Kapazitäten, um einen Beitrag dazu zu
leisten, COVID-19 auch auf globaler Ebene effektiv und schnell zu beenden. Dieser
Beitrag muss unter anderem darin bestehen, die globale Impf-Ungleichheit abzubauen,
indem Länder des globalen Südens mit Impfstoffen versorgt und beim Aufbau einer
Impf-Infrastruktur angemessen unterstützt werden.
3
Schließlich bedeutet Verantwortung, die Pandemiebekämpfung dauerhaft und
transparent auf die Erkenntnisse und Instrumente zu gründen, die verschiedene
wissenschaftliche Disziplinen in den vergangenen beiden Jahren erarbeitet haben. Sie
ermöglichen eine präventive Pandemiepolitik und verhindern den Kontrollverlust, der
dann reaktive, hektische Maßnahmen nach sich zieht.
Mit geringfügigen Anpassungen an einige aktuelle Entwicklungen sind bisherige
Handlungsempfehlungen weiterhin gültig, weshalb wir an dieser Stelle keine
zusätzlichen detaillierten Vorschläge machen. Vielmehr konzentrieren wir uns im
Folgenden auf generelle Anregungen.
Wir halten es für notwendig, dass die Pandemiebekämpfung eine stärkere
Sachgrundlage erhält. Unbestritten ist, dass die Entscheidungsgewalt über den
grundsätzlichen Kurs in der Pandemiebekämpfung sowie einzelne Maßnahmen viel
stärker als bisher beim Parlament liegen muss. Unbestritten ist jedoch auch, dass die
Entscheidungen viel stärker als bisher an wissenschaftlichen Erkenntnissen
ausgerichtet werden müssen. Es wäre zu überlegen, ob eine solche Sachgrundlage
von einem professionellen Krisenstab erarbeitet, öffentlich kommuniziert und nach
politischer Abstimmung mit entsprechender Management-Kompetenz umgesetzt wird.
Diesem Stab sollten neben Fachexpert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen,
darunter die Virologie, die Medizin und die Öffentliche Gesundheit, unbedingt auch
Personen aus der Praxis angehören, die über extensive operative Leitungs- und
Management-Erfahrung – etwa in Kliniken oder in erfolgreichen Unternehmen –
verfügen.
Wir halten es für notwendig, eine professionell gestaltete Kommunikationsoffensive
auf den Weg zu bringen, welche das Vertrauen stärkt, die Bürger*innen sachgerecht
informiert und aufklärt und damit der Desinformation – allzu häufig mit tödlichen Folgen
– etwas entgegensetzt.
Wir halten es für notwendig, nach tragfähigen – gesellschafts- und
gesundheitspolitischen – Lösungen für den Konflikt zu suchen, der sich zwischen der
großen Mehrheit der Menschen, die eine aktive, vorausschauende und nachhaltige
Pandemiepolitik befürworten und einer Minderheit, die die Pandemiebekämpfung als
solche ablehnt, aufgebaut und zugespitzt hat.
Für nicht zielführend halten wir es hingegen, nicht sachlich begründete Zeitpunkte
als Ende der Pandemie zu benennen. Das Ende der Pandemie ist eine faktische
Feststellung, keine politische Festlegung. Niemand kann seriös voraussagen, wann die
Pandemie enden wird. Wohl aber können Sie Einiges tun, um ihr Ende zu
beschleunigen.
Wir danken Ihnen im Voraus für Ihre Antworten und vor allem für Ihr Handeln.
Deutschland, 12. November 2021
Unterzeichnerinnen und Unterzeichner
Prof. Dr. Ralf Bartenschlager
Virologie, Universitätsklinikum
Heidelberg
Prof. Dr. Menno Baumann
Pädagogik, Fliedner-
Fachhochschule Düsseldorf
Dr. Markus Beier
Allgemeinmedizin, Vorsitzender
Bayerischer Hausärzteverband
Dr. med. Martin Andree
Berghäuser
Pädiatrie, Florence-Nightingale-
Krankenhaus Düsseldorf
Prof. Dr. Melanie Brinkmann
Virologie, Technische Universität
Braunschweig
Prof. Dr. Dirk Brockmann
Physik, Humboldt Universität zu
Berlin
Prof. Dr. Heinz Bude
Soziologie, Universität Kassel
Prof. Dr. Ulf Dittmer
Virologie, Universität Duisburg-
Essen
Prof. Dr. Isabella Eckerle
Virologie, Universität Genf
Prof. Dr. Christine S. Falk
Immunologie, Medizinische
Hochschule Hannover
Prof. Dr. Nicole Fischer
Virologie, Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf
Prof. Dr. Jörg Haier, LL.M.
Onkologische Chirurgie,
Medizinische Hochschule
Hannover
Prof. Dr. Michael Hallek
Innere Medizin, Universität zu
Köln
Prof. Dr. Susanne Herold
Infektiologie, Justus-Liebig-
Universität Gießen
Dr. med. Georg Hillebrand
Pädiatrie, Klinikum Itzehoe
Prof. Dr. med. Uwe Janssens
Internistische Intensivmedizin, St.-
Antonius-Hospital Eschweiler
Prof. Dr. Christian Kähler
Physik, Universität der
Bundeswehr München
Prof. Dr. Thomas Kamradt
Immunologie, Friedrich-Schiller-
Universität Jena
Prof. Dr. med. Christian
Karagiannidis
Intensivmedizin, Universität
Witten/Herdecke
Prof. Dr. Michael M. Kochen
Innere Medizin, Universität
Freiburg
Prof. Dr. Dr. h.c. Ilona Kickbusch
Global Public Health, Graduate
Institute Geneva
Prof. Dr. Thorsten Lehr
Klinische Pharmazie, Universität
des Saarlandes
Prof. Dr. Maximilian Mayer
Politikwissenschaft, CASSIS,
Universität Bonn
Prof. Dr. Thomas Martens
Pädagogische Psychologie,
Medical School Hamburg
Prof. Dr. Armin Nassehi
Soziologie, Ludwig-Maximilians-
Universität München
Prof. Dr. Michael Meyer-Hermann
Physik, Helmholtz Zentrum für
Infektionsforschung Braunschweig
Prof. Dr. Andreas Peichl
Ökonomie, ifo Institut und Ludwig-
Maximilians-Universität München
Martin Pin
Notfallmedizin, Florence-
Nightingale-Krankenhaus
Düsseldorf
Prof. Dr. Elvira Rosert
Politikwissenschaft, Universität
Hamburg und IFSH
Prof. Dr. med. Dominik Schneider
Pädiatrie, Klinikum Dortmund
Prof. Dr. Matthias Schneider
Physik, TU Dortmund
Dr. med. Jana Schroeder
Virologie, Stiftung Mathias-Spital
Rheine
Prof. Dr. Norbert Suttorp
Infektiologie, Charité –
Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Carsten Watzl
Immunologie, TU-Dortmund
Prof. Dr. Friedemann Weber
Virologie, Justus-Liebig Universität