Schematische Ostrakisierung

Dieser Teil des Forums befaßt sich mit politischen, sozialen und historischen Aspekten der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten.
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AndreaH
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So 7. Aug 2022, 01:34

Nauplios hat geschrieben :
Sa 30. Jul 2022, 17:59
Die Vorstellung, daß die Rezeption der Quellen die Quellen der Rezeption schafft führt auf den Gedanken der Ursprünglichkeit, auf den einer Ursprungsquelle, aus der heraus die erste Rezeption erfolgt.

"Eine Betrachtungsweise wie die hier vorzuschlagende sucht nicht historisch oder philologisch zu klären, was 'der Mythos' ursprünglich oder in einer bestimmten Phase unserer Geschichte bzw. Vorgeschichte gewesen sein mag; vielmehr wird er als immer schon in Rezeption übergegangen verstanden. Wenn man meint, eine solche Betrachtungsweise sei sekundär und daher auch von sekundärem Interesse, so geht man von einem Unterschied zwischen dem Objekt und seinen Verständnisweisen aus, den die Naturwissenschaften verbindlich gemacht haben, in denen jedes Resultat über einen Gegenstand seine Vorgänger verdrängt und einem 'nur noch' historischen Interesse überliefert. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften haben die wirkenden Werke keinen Vorrang vor den Resultaten ihrer Wirkung, weil und sofern es keine besondere Dignität ihres Ursprunges - zum Beispiel in einer Metaphysik der Kunst als originärer Hervorbringung, sei es mithilfe der Musen, der Magie oder der Inspiration, sei es durch das Genie selbst - mehr gibt. Produktion und Rezeption sind äquivalent, sofern die Rezeption sich zu artikulieren vermochte. Um so etwas wie die 'Rückgewinnung des verlorenen Sinnes' geht es gerade nicht. (...) Das Ursprüngliche bleibt Hypothese, deren einzige Verifikationsbasis die Rezeption ist. (...) Die Antithese von schöpferischer Ursprünglichkeit und hermeneutischer Nachläufigkeit ist unbrauchbar ..." (Hans Blumenberg; Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos; in: "Terror und Spiel"; S. 28)

In die Dimension des Ursprungs können wir nicht zurück. Selbst wenn wir es könnten, wäre dort nichts zu holen, was uns einen "eigentlichen Sinn" erschließen lassen würde. Immer schon sind wir - auch dort, wo wir produzieren - in Rezeption eingebettet. Das ist eigentlich Rezeptionsästhetik in nuce.
In meiner Lehrzeit sagte mir einmal mein damaliger Chef: "Andrea, wenn du etwas verstehen und lernen möchtest, solltest du zuhören können!"
Er sagte es nicht etwa, weil ich ihm ins Wort viel.
Er wollte mir vielmehr die Wichtigkeit aufzeigen, dass wenn man jemanden vor sich hat, der sich auf einem Gebiet besser auskennt oder der Erfahrungen gesammelt hat, demjenigen sollte man zuhören können.
Sich selbst zurückzunehmen fällt nicht immer leicht, doch es lohnt sich, denn der Fokus verändert sich.
Daher habe ich derzeit meinen Schwerpunkt auf das Lesen gelegt. ;) Ich lese gerne bei euch mit!
Ich finde "Geschichte" selbst interessant, ihr einfach zuhören und sie wahrzunehmen ohne sie zu bewerten.
Manchmal entsteht dann wie bei einem Mosaik ein Bild.




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Jörn Budesheim
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So 7. Aug 2022, 10:05

Lesen ist gut.

Schreiben ist aber auch nicht schlecht. ;)

Beim Schreiben "zwingt" man sich dazu, das, was man vielleicht bloß vage oder implizit denkt, in Form zu bringen. Das kann, muss aber natürlich nicht, z.b ein Klärungsprozess sein.




Nauplios
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AndreaH hat geschrieben :
So 7. Aug 2022, 01:34

Daher habe ich derzeit meinen Schwerpunkt auf das Lesen gelegt. ;) Ich lese gerne bei euch mit!
Liest Du denn nur "bei uns mit" oder liest Du auch anderes, Andrea? ;)




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AndreaH
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Neben meiner Lektüre lese ich hauptsächlich bei euch mit. :)




Timberlake
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Mo 8. Aug 2022, 00:35

AndreaH hat geschrieben :
So 7. Aug 2022, 01:34

In meiner Lehrzeit sagte mir einmal mein damaliger Chef: "Andrea, wenn du etwas verstehen und lernen möchtest, solltest du zuhören können!"
und in meiner Lehrzeit sagte ich mir damals selbst : Timberlake, wenn du jemanden etwas verstehen und lernen lassen möchtest, spolltest du Fragen stellen können .
  • Die Mäeutik des Sokrates
    Die Geburtshilfe, die Sokrates leistet, besteht in seiner Technik des zielführenden Fragens. Mit ihr bringt er seine Gesprächspartner dazu, vorhandene irrige Vorstellungen zu durchschauen und aufzugeben. Das führt oft dazu, dass sie in eine Ratlosigkeit (Aporie) geraten. Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommen sie aber auf neue Gedanken. Diese werden wiederum mittels der Fragetechnik auf ihre Stimmigkeit überprüft. Schließlich gelingt es dem mäeutisch Befragten, entweder den tatsächlichen Sachverhalt selbst zu entdecken oder sich zumindest der Wahrheit anzunähern. Diese Hilfe beim Suchen und Finden von Erkenntnissen, wobei auf Belehrung konsequent verzichtet wird, erscheint in Platons Darstellung als spezifisch sokratische Alternative zur konventionellen Wissensvermittlung durch Weiterreichen und Einüben von Lehrstoff.
.. zielführendes Fragen, um seine Gesprächspartner dazu zu bringen , vorhandene irrige Vorstellungen zu durchschauen und aufzugeben. Damit diese "Mäeutik des Sokrates" funktioniert, sollte der Gesprächspartner allerdings auch antworten. Platons Dialoge, im Allgemeinen und der von Platon beschriebene Dialog zwischen Menon und Sokrates , bezüglich .... eines Sklaven , den Sokrates auf diese Weise Mathematik erklärt ... , im Besonderen, geben dafür ein beredtes Zeugnis ab.
AndreaH hat geschrieben :
So 7. Aug 2022, 01:34

Sich selbst zurückzunehmen fällt nicht immer leicht, doch es lohnt sich, denn der Fokus verändert sich.
Daher habe ich derzeit meinen Schwerpunkt auf das Lesen gelegt. ;) Ich lese gerne bei euch mit!
Ich finde "Geschichte" selbst interessant, ihr einfach zuhören und sie wahrzunehmen ohne sie zu bewerten.
Manchmal entsteht dann wie bei einem Mosaik ein Bild.


Um dazu auf das Thema dieses Threads zurück zu kommen und du gerne bei uns mitgelesen hast , du also über unseren Dialog informiert bist ..
Timberlake hat geschrieben :
Di 2. Aug 2022, 20:26
Was würdest du denn meinen, mit wem von uns beiden würdest du die Rolle des Theophan bzw. des Adrast besetzen?

Dazu ein Tipp ... wenn man deine , wie auch Nauplios Beiträge , mit den meinen vergleicht, von welchen könnte man die Aufrichtigkeit , im Umgang mit der Naziverganheit , im Allgemeinem und bezüglich dem Umgang mit Hans Robert Jauss , im Besonderen lernen ...
was würdest du denn meinen , mit wem von uns würdest du die Rolle des Theophan bzw. des Adrast besetzen! ( Um den Kontext dieser Frage zu verstehen, bitte diesen Beitrag zur Gänze wieder aufrufen) Von @Erasmus bzw. @Nauplios bekam ich bisher keine Antwort auf diese Frage und ich denke mal mit gutem Grund. Kann doch auch das Schweigen .auf eine Frage , gleichfalls ein beredtes Zeugnis ablegen.

Aus den von dir beschriebenen o.g. Gründen , brauchst du natürlich nicht anworten. In dem du von einem Fokus sprichst, der sich verändert habe und ich mit meinen Beiträge , eben genau das, bezüglich der hier diskutierten "Schematische Ostrakisierung" , gemäß der Mäeutik des Sokrates bezweckt habe , so solllte sich diese Frage eigentlich schon erübrigt haben. ;)
Zuletzt geändert von Timberlake am Mo 8. Aug 2022, 00:56, insgesamt 3-mal geändert.




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AndreaH
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 7. Aug 2022, 10:05
Lesen ist gut.

Schreiben ist aber auch nicht schlecht. ;)

Beim Schreiben "zwingt" man sich dazu, das, was man vielleicht bloß vage oder implizit denkt, in Form zu bringen. Das kann, muss aber natürlich nicht, z.b ein Klärungsprozess sein.
Das stimmt! Schreiben fordert doch noch einmal anderes die Denkprozesse.




Nauplios
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AndreaH hat geschrieben :
Mo 8. Aug 2022, 00:28
Neben meiner Lektüre lese ich hauptsächlich bei euch mit. :)
Ich hatte mit meiner Frage die verwegene Vorstellung verbunden, etwas mehr über den Gegenstand dieser Lektüre in Erfahrung zu bringen. :o ;)




Timberlake
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Mo 8. Aug 2022, 00:59

Nauplios hat geschrieben :
Mo 8. Aug 2022, 00:45
AndreaH hat geschrieben :
Mo 8. Aug 2022, 00:28
Neben meiner Lektüre lese ich hauptsächlich bei euch mit. :)
Ich hatte mit meiner Frage die verwegene Vorstellung verbunden, etwas mehr über den Gegenstand dieser Lektüre in Erfahrung zu bringen. :o ;)
Dann sollte doch bitteschön der Gegenstand dieser Lektüre , auch das Thema dieses Threads zum Gegenstand haben. Alles andere wäre indes für mich mit einer "verwegene Vorstellung" verbunden. ;)




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AndreaH
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Mo 8. Aug 2022, 22:49

Timberlake hat geschrieben :
Mo 8. Aug 2022, 00:35
AndreaH hat geschrieben :
So 7. Aug 2022, 01:34

In meiner Lehrzeit sagte mir einmal mein damaliger Chef: "Andrea, wenn du etwas verstehen und lernen möchtest, solltest du zuhören können!"
und in meiner Lehrzeit sagte ich mir damals selbst : Timberlake, wenn du jemanden etwas verstehen und lernen lassen möchtest, spolltest du Fragen stellen können .
  • Die Mäeutik des Sokrates
    Die Geburtshilfe, die Sokrates leistet, besteht in seiner Technik des zielführenden Fragens. Mit ihr bringt er seine Gesprächspartner dazu, vorhandene irrige Vorstellungen zu durchschauen und aufzugeben. Das führt oft dazu, dass sie in eine Ratlosigkeit (Aporie) geraten. Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommen sie aber auf neue Gedanken. Diese werden wiederum mittels der Fragetechnik auf ihre Stimmigkeit überprüft. Schließlich gelingt es dem mäeutisch Befragten, entweder den tatsächlichen Sachverhalt selbst zu entdecken oder sich zumindest der Wahrheit anzunähern. Diese Hilfe beim Suchen und Finden von Erkenntnissen, wobei auf Belehrung konsequent verzichtet wird, erscheint in Platons Darstellung als spezifisch sokratische Alternative zur konventionellen Wissensvermittlung durch Weiterreichen und Einüben von Lehrstoff.
.. zielführendes Fragen, um seine Gesprächspartner dazu zu bringen , vorhandene irrige Vorstellungen zu durchschauen und aufzugeben. Damit diese "Mäeutik des Sokrates" funktioniert, sollte der Gesprächspartner allerdings auch antworten. Platons Dialoge, im Allgemeinen und der von Platon beschriebene Dialog zwischen Menon und Sokrates , bezüglich .... eines Sklaven , den Sokrates auf diese Weise Mathematik erklärt ... , im Besonderen, geben dafür ein beredtes Zeugnis ab.
AndreaH hat geschrieben :
So 7. Aug 2022, 01:34

Sich selbst zurückzunehmen fällt nicht immer leicht, doch es lohnt sich, denn der Fokus verändert sich.
Daher habe ich derzeit meinen Schwerpunkt auf das Lesen gelegt. ;) Ich lese gerne bei euch mit!
Ich finde "Geschichte" selbst interessant, ihr einfach zuhören und sie wahrzunehmen ohne sie zu bewerten.
Manchmal entsteht dann wie bei einem Mosaik ein Bild.


Um dazu auf das Thema dieses Threads zurück zu kommen und du gerne bei uns mitgelesen hast , du also über unseren Dialog informiert bist ..
Timberlake hat geschrieben :
Di 2. Aug 2022, 20:26
Was würdest du denn meinen, mit wem von uns beiden würdest du die Rolle des Theophan bzw. des Adrast besetzen?

Dazu ein Tipp ... wenn man deine , wie auch Nauplios Beiträge , mit den meinen vergleicht, von welchen könnte man die Aufrichtigkeit , im Umgang mit der Naziverganheit , im Allgemeinem und bezüglich dem Umgang mit Hans Robert Jauss , im Besonderen lernen ...
was würdest du denn meinen , mit wem von uns würdest du die Rolle des Theophan bzw. des Adrast besetzen! ( Um den Kontext dieser Frage zu verstehen, bitte diesen Beitrag zur Gänze wieder aufrufen) Von @Erasmus bzw. @Nauplios bekam ich bisher keine Antwort auf diese Frage und ich denke mal mit gutem Grund. Kann doch auch das Schweigen .auf eine Frage , gleichfalls ein beredtes Zeugnis ablegen.

Aus den von dir beschriebenen o.g. Gründen , brauchst du natürlich nicht anworten. In dem du von einem Fokus sprichst, der sich verändert habe und ich mit meinen Beiträge , eben genau das, bezüglich der hier diskutierten "Schematische Ostrakisierung" , gemäß der Mäeutik des Sokrates bezweckt habe , so solllte sich diese Frage eigentlich schon erübrigt haben. ;)
;) ich bin in der Philosophie autodidaktisch unterwegs Timberlake. Aus diesem Grund bin ich auch nicht der optimalste Gesprächspartner für dich.
Daher passt für mich "das Zuhören" wie angegossen und für dich "das Fragen" stellen.




Timberlake
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Sa 26. Aug 2023, 13:29

AndreaH hat geschrieben :
Mo 8. Aug 2022, 22:49

;) ich bin in der Philosophie autodidaktisch unterwegs Timberlake. Aus diesem Grund bin ich auch nicht der optimalste Gesprächspartner für dich.
Daher passt für mich "das Zuhören" wie angegossen und für dich "das Fragen" stellen.
.... Ok ..

AndreaH hat geschrieben :
So 7. Aug 2022, 01:34

In meiner Lehrzeit sagte mir einmal mein damaliger Chef: "Andrea, wenn du etwas verstehen und lernen möchtest, solltest du zuhören können!"
Wenn ich das mit dem " nicht der optimalste Gesprächspartner" .. verstehen und lernen möchte , so sollte vermutlich auch ich zuhören können. Denn wer nicht zuhören kann, wird über kurz oder lang " schematisch" mit dem konfrontiert wofür die "Ostrakisierung" steht .. dem Scherbengericht.

Nauplios hat geschrieben :
Mo 25. Jul 2022, 18:27
"Hätte nicht diese schematische Ostrakisierung stattgefunden, dann hätte er eher über seine Vergangenheit gesprochen." (Dieter Henrich; Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie; S. 101)

"Was mich zu der Entscheidung gebracht hat, in die Waffen-SS einzutreten, war keine wirkliche Anhängerschaft an die Nazi-Ideologie." (Hans Robert Jauss im Gespräch mit Maurice Olender; Le Monde; 06. September 1996)
In sofern sich auch hier die Frage stellt : Hätten sich nicht auch diese Herren ihr Scherbengericht durch zuhören können ersparen können?
Nauplios hat geschrieben :
Di 26. Jul 2022, 02:01
"Ein abgeschossener Arm, eine Fliegerbombe in einer friedlichen Stadt, ein Massengrab - alles für sich betrachtet ist sinnlos (...) Aber ist das Kämpfen sinnlos, das Bestehen einer Gefahr, die unerschütterliche Haltung vor dem Tod, die Kameradschaft im Graben? Sieh, hier gibt es einen ganz persönlichen Sinn für mich und auch für dich einmal." (Hans Robert Jauß am 20.11.1942 in einem Feldpostbrief an seinen Bruder Gerhard.)
Wenn gleich in Anbetracht der "ohrenbetäubenden" Nazipropaganda ein " hinsehen können" , hin zu einem abgeschossenen Arm, einer Fliegerbombe in einer friedlichen Stadt, einem Massengrab .. wohl eher dazu geeignet gewesen wäre.



  • "Ulrich Wilhelm Graf von Schwanenfeld hat die Gräuel im Osten mit eigenen Augen gesehen. Vor seiner Hinrichtung bestimmt er in seinem Testament , dass in seinem Forst in Ostpreußen ein Holzkreuz gesetzt werde, mit folgender Inschrift :
    • Hier ruhen 1400 Christen und Juden. Gott sei ihrer Seele und ihren Mördern gnädig
    "



Um eine schematisch Ostrakisierung von vorneherein zu vermeiden , worauf sollten wir denn in unserer Zeit hinhören bzw. insehen können? Dazu nur mal zum Vergleich..





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Quk
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Sa 26. Aug 2023, 16:40

Guten Tag,

die ersten zwei Seiten dieses Fadens habe ich vollständig gelesen und die restlichen überflogen. Gemäß den ersten Zeilen des Fadens ist sein Zweck, "die Frage, wie wir Vergangenheit erfahren und erinnern ins Allgemeine aufzuweiten." Auf dem Weg dorthin scheint der Faden, sofern ich ihn nicht missverstehe, hermeneutisch nicht voranzukommen. Wie wäre es mit der folgenden Abkürzung? -- (Übrigens, wenn es um historische Kausalitäten geht, so sind selbige meiner Auffassung nach hauptsächlich psychologische Kettenreaktionen; kurz: Es geht letztendlich um psychologische Thesen.)

Bei dieser Ausweitung ins Allgemeine stoße ich zunächst auf den Wunsch, jene menschliche Inkonsistenz -- also "anfangs brutal, später sanft" -- nicht nur erklären zu wollen aus reiner Neugierbefriedigung, sondern auch dank dieser Erklärung zukünftig solche Inkonsistenzen zu verhindern; zu verhindern mittels sozialpsychologisch fundierten Strategien oder durch was auch immer. "Mehr Bildung!" wird da gerne gerufen. Oder "Arbeitslosigkeit bekämpfen!" und so weiter, dann enstünden auch keine faschistoiden Auswüchse. Solche Maßnahmen halte ich auch für wichtig, allgemein, aber ihren Einfluss gegen faschistoide Auswüchse im speziellen halte ich für gering, da diese von vorn herein emotionale und keine rationalen Wurzeln haben.

Also, Frage: Sehe ich das richtig, dass der Faden letztendlich Erklärungen finden will, durch welche er wiederum Möglichkeiten ersinnen kann, solche schockierenden, unberechenbaren Inkonsistenzen zukünftig berechenbar zu machen und somit vorzeitig aufzuhalten? Damit solche Gräuel wie im Dritten Reich niemals mehr enstehen können?

Ich weiß nicht, wie man das aufhalten kann. Aber bezüglich ihrer Erklärung möchte ich folgendes als Ergänzung vorschlagen:

Wir kennen diese Milliarden Jahre lange, evolutive Umformungen vom Einzeller zum Mehrzeller über Reptilien zum Menschen. -- Wenn in der Gebärmutter ein Mensch entsteht, geht er sozusagen im Zeitraffer diese ganze Umformung noch einmal durch. Einzeller, Kaulquappe, und so weiter. Nach neun Monaten ist der Körper schlüpfbereit. Hier kommt mein Punkt: Nach dem Schlüpfen macht auch sein Geist eine Entwicklung durch. Im Zeitraffer. Allerdings umfasst der nicht Milliarden von Jahre, sondern nur ein paar Jahrtausende oder Jahrhunderte der jüngsten Menschheitsgeschichte. Antike, Mittelalter, Neuzeit. Da liegt also der Säugling auf dem Teppich und spielt mit groben Holzklötzen, fühlt ihre Form mit dem Mund und so weiter, wie Steinzeitmenschen, die mit Faustkeilen hantieren. Der Säugling hat eine ganz primitive Vorstellung von der Welt. Er meint, sie endet dort, wo seine Sichtweite endet. Irgendwann ist er fünf Jahre alt. Dann sieht er Bilder von Rittern, Cowboys, Appachen, Soldaten; sieht deren Pistolen, die Peng machen, und darüber staunt er so sehr, dass er sie mit Spielzeugpistolen freudestrahlend nachahmt. Spätestens mit neun sieht er auch Filme von sterbenden Rittern und Cowboys; das fasziniert ihn ebenfalls und spielt nach, wie sie fallen und stöhnen. Den tatsächlichen Schmerz in einer realen Situation, den die Filme nicht direkt vermitteln können, den spürt das nachspielende Kind noch nicht. Es hat zunächst, aus mir unerklärlichen Gründen, nur eine Freude an den brutalen Aktionen an sich, nicht an deren persönlichen und sozialen Folgen. Das Kind hat noch keine eigene Erfahrung mit Brutalität, daher kann es noch keine fortgeschrittene Empathie mit dem brutal behandelten Menschen haben. Im Lauf seines weiteren Lebens macht er aber die Erfahrungen -- mehr oder weniger -- je nach Umfeld, und das ermöglicht das Fortschreiten seiner Empathie. Ich rede jetzt nicht über Typen, die einen angeborenen Hang zu Brutalitäten haben, sondern über durchschnittliche, friedfertige Typen. Kaum einer macht solche altertümlichen Peng-Peng-Phasen nicht durch. So, und hier stelle ich nun meine Vermutung in den Raum: Bei manchen Menschen endet die Peng-Peng-Phase in der Pubertät, bei anderen Mitte zwanzig, bei Härtefällen mit vierzig oder fünfzig, und bei gewissen Exemplaren nie. Und keine sozialpsychologische oder historische These kann diese innere Entwicklung erklären. Hierfür bedarf es einer neuen akademischen Disziplin, glaube ich, oder zumindest einer Interdisziplin der vorhandenen Fächer.

Wenn meine ergänzende Erklärung stimmt, war das bei Jauß eher eine Zeitlupe als ein Zeitraffer.




Timberlake
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So 27. Aug 2023, 00:56

Quk hat geschrieben :
Sa 26. Aug 2023, 16:40

Also, Frage: Sehe ich das richtig, dass der Faden letztendlich Erklärungen finden will, durch welche er wiederum Möglichkeiten ersinnen kann, solche schockierenden, unberechenbaren Inkonsistenzen zukünftig berechenbar zu machen und somit vorzeitig aufzuhalten? Damit solche Gräuel wie im Dritten Reich niemals mehr enstehen können?
Um zu sehen, welche Erklärungen der Faden letztendlich finden will , halte ich zunächst einmal das Zitat für wesentlich, mit dem in diesem Thrread gleich zu Anfangs eingestiegen wurde und zwar ..
Nauplios hat geschrieben :
Mo 25. Jul 2022, 18:27

"Hätte nicht diese schematische Ostrakisierung stattgefunden, dann hätte er eher über seine Vergangenheit gesprochen." (Dieter Henrich; Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie; S. 101)
.. von daher wird zunächst einmal eine Erklärung dafür gefunden , warum Dieter Henrich erst so spät über seine Vergangenheit gesprochen hat und zwar auf Grund einer schematische Ostrakisierung. In dem hier von einer Nazivergangenheit die Rede und ostrakisieren das Entfernen und Verbannen von Personen bezeichnet, so hätte man also Dieter Henrich auf Grund dieser Vergangenheit entfernt und verbannt. Weil der gleichen schematisch stattgefunden hat , wäre davon alle betroffen, die sich in ihrer Vergangenheit den Nazis, wie auch immer , angedient hätten.


Soweit die Ausgangslage.
Quk hat geschrieben :
Sa 26. Aug 2023, 16:40
Guten Tag,

die ersten zwei Seiten dieses Fadens habe ich vollständig gelesen und die restlichen überflogen. Gemäß den ersten Zeilen des Fadens ist sein Zweck, "die Frage, wie wir Vergangenheit erfahren und erinnern ins Allgemeine aufzuweiten." Auf dem Weg dorthin scheint der Faden, sofern ich ihn nicht missverstehe, hermeneutisch nicht voranzukommen. Wie wäre es mit der folgenden Abkürzung? -- (Übrigens, wenn es um historische Kausalitäten geht, so sind selbige meiner Auffassung nach hauptsächlich psychologische Kettenreaktionen; kurz: Es geht letztendlich um psychologische Thesen.)

Völlig richtig , von daher geht es um die Frage , wie wir Vergangenheit erfahren und erinnern. Im Speziellen, wie bei der Nazivergangenheit und im Allgemeinen , um das Speziele darauf hin aufzuweiten. "Verallgemeinert" würde es sich dabei wohl tatsächlich hauptsächlich um psychologische Kettenreaktionen handeln .

Dazu passend ...




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Quk
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So 27. Aug 2023, 01:27

Timberlake hat geschrieben :
So 27. Aug 2023, 00:56
... eine Erklärung dafür gefunden , warum Dieter Henrich erst so spät über seine Vergangenheit gesprochen hat ...
Mit "seine" meinst Du die Vergangenheit Henrichs oder die Jaußens?




Timberlake
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So 27. Aug 2023, 02:23

Quk hat geschrieben :
So 27. Aug 2023, 01:27
Timberlake hat geschrieben :
So 27. Aug 2023, 00:56
... eine Erklärung dafür gefunden , warum Dieter Henrich erst so spät über seine Vergangenheit gesprochen hat ...
Mit "seine" meinst Du die Vergangenheit Henrichs oder die Jaußens?
Gute Frage ...
Timberlake hat geschrieben :
So 27. Aug 2023, 00:56

Nauplios hat geschrieben :
Mo 25. Jul 2022, 18:27

"Hätte nicht diese schematische Ostrakisierung stattgefunden, dann hätte er eher über seine Vergangenheit gesprochen." (Dieter Henrich; Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie; S. 101)
.. von daher wird zunächst einmal eine Erklärung dafür gefunden , warum Dieter Henrich erst so spät über seine Vergangenheit gesprochen hat und zwar auf Grund einer schematische Ostrakisierung.
.. ich denke mal , dass Dieter Henrich mit " dann hätte er eher seine Vergangenheit gesprochen" tatsächlich Jaußen gemeint hat . Insofern hätte ich also hier nicht Henrichs, sondern Jaußen meinen müssen. Somit muss es also heißen ..
  • ".. von daher wird zunächst einmal eine Erklärung dafür gefunden , warum Jaußen erst so spät über seine Vergangenheit gesprochen hat und zwar auf Grund einer schematische Ostrakisierung"
Danke für den Hinweis.




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Jörn Budesheim
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So 27. Aug 2023, 08:29

Ich glaube nicht, dass es Nauplios in diesem Thread wirklich nur um Jauß ging. Jauß war, wie Nauplios schreibt, nur ein Beispiel, es hätte vielleicht (spekuliere ich) auch um den vermeintlichen oder tatsächlichen Rassismus von Kant gehen können. Jauß NS-Vergangenheit scheint also nicht unbedingt der Kern des Themas zu sein, sondern der Blick auf die Vergangenheit, also das Verständnis von Geschichte und die Grenzen dieses Verständnisses. Aber natürlich nicht Geschichte im Allgemeinen, sondern etwas Spezifischeres: die Frage, wie eine historische Hermeneutik mit Befunden von Unmenschlichkeit in der Geschichte umgeht...

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Schließlich war Hans Robert Jauß nicht irgendwer, sondern ein Romanist und Literaturtheoretiker von Weltrang. Jauß war zusammen mit Hans Blumenberg und anderen auch Initiator der Gruppe "Poetik und Hermeneutik". Ich habe hier nicht zufällig Blumenberg hervorgehoben. Erstens war Blumenberg Jude und zweitens ist er für Nauplios eine zentrale Figur der neueren Philosophiegeschichte. Es gibt hier im Forum mehrere Threads von Nauplios, die sich mit ihm und seinem Werk (besondere natürlich der Metaphorologie) beschäftigt haben.

Das Thema, (so schwierig es für mich auf den Punkt zu bringen ist) das Nauplios in diesem Faden anspricht, zieht sich durch seine Beiträge hier im Forum und taucht immer mal wieder auf. Im folgendem zitiert er zum Beispiel Blumenberg: "Ich [Blumenberg] war mit Erich Rothacker befreundet. Ich mochte ihn. Ich habe gefragt, was er zwischen 1933 und 1945 alles getan habe. Ich bin trotzdem bis zu seinem Tode mit ihm befreundet geblieben. Ich wollte nicht sein, was ich nicht zu sein brauchte: das Weltgericht." Der Ausdruck "Weltgericht" hat eine gewisse Nähe zum Titel dieses Fadens, dem Scherbengericht. Wobei es beim Scherbengericht darum ging, die Angeklagten aus der Gemeinschaft zu verbannen.

Hier zwei Zitate, die das, was ich über den Sinn und Zweck dieses Fadens spekuliere, unterstützen sollen.
Nauplios hat geschrieben :
Di 26. Jul 2022, 15:02
Es geht am Beispiel von Jauß um die Sicht auf die Vergangenheit, in seinem Fall um die Sicht auf die NS-Vergangenheit. Zwei der großen Themen des Romanisten Jauß waren ja die Zeit und die Erinnerung. Seinen letzten Vortrag hielt Jauß am 15. Februar 1997: "Das Verstehen von Geschichte und seine Grenzen". Jauß konnte seinen Vortrag nicht beenden, da er bereits todkrank war; sein Nachfolger Karlheinz Stierle übernahm das für ihn. Zwei Wochen später starb er.

"Die noch verbliebene Frage, wie eine historische Hermeneutik mit Befunden von Unmenschlichkeit in der Geschichte fertig wird, die sich aller Sinnkonstitution versagen, möchte ich nicht mehr selbst beantworten." (Hans Robert Jauß; "Das Verstehen von Geschichte und seine Grenzen", in: "Probleme des Verstehens"; S. 210)

Ich gehe nicht davon aus, daß wir in diesem Thread die von Jauß angesprochene "historische Hermeneutik" leisten können, auch nicht, daß die "verbliebene Frage" hier beantwortet werden kann. Vielleicht lassen sich einzelne Aspekte dieser Hermeneutik ansprechen - vor dem Hintergrund der Jauß'schen Biographie und vor dem Hintergrund dessen, was Jauß als Initiator gemeinsam mit Hans Blumenberg, Clemens Heselhaus, Reinhart Koselleck, Dieter Henrich, Manfred Fuhrmann, Siegfried Kracauer u.a. dann in der Gruppe "Poetik und Hermeneutik" entwickelte.
Nauplios hat geschrieben :
Mo 1. Nov 2021, 19:37
Hans Blumenberg, nach dem Jargon der Nazis "Halbjude" und in den letzten Kriegsmonaten einem Arbeitslager entkommen, schreibt über das NSDAP-Mitglied Erich Rothacker, Leiter der Abteilung "Volksbildung" im Reichsministerium für Propaganda von Goebbels:

"Ich war mit Erich Rothacker befreundet. Ich mochte ihn. Ich habe gefragt, was er zwischen 1933 und 1945 alles getan habe. Ich bin trotzdem bis zu seinem Tode mit ihm befreundet geblieben. Ich wollte nicht sein, was ich nicht zu sein brauchte: das Weltgericht."

Blumenberg hat Wert darauf gelegt, daß sein Umgang mit Männern wie Rothacker und Carl Schmitt ("Kronjurist des Dritten Reiches") oder Hans Robert Jauss (Offizier der Waffen-SS) kein Maßstab für andere Verfolgte des Nazi-Regimes sein braucht. Er wollte kein "Weltgericht" sein und war befreundet mit einem Mann, der den Nazis die "rassisch-biologische Fundamentaltheorie" lieferte, die ihn [Blumenberg] beinahe das Leben gekostet hätte.




Timberlake
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Registriert: Mo 16. Mai 2022, 01:29
Wohnort: Shangrila 2.0

So 27. Aug 2023, 17:34

Nauplios hat geschrieben :
Mo 25. Jul 2022, 18:27

Der 09. November 2014 markiert in der causa Jauss ein wichtiges Datum. An diesem Abend fand im Audimax der Universität Konstanz eine denkwürdige Theateraufführung statt. Gegeben wurde Gerhard Zahners Stück "Die Liste der Unerwünschten", Szenen aus dem Leben von Hans Robert Jauß mit Luc Feit in der Rolle des Hans Robert Jauß.

Zahners Stück, die Umstände seiner Aufführung an der Universität Konstanz, das Gutachten Westemeiers sowie die Reaktionen darauf und die Vorgeschichte zum "Fall Jauß" will ich in diesem Thread kurz darstellen, um die Frage, wie wir Vergangenheit erfahren und erinnern ins Allgemeine aufzuweiten.


Übrigens ...
Quk hat geschrieben :
Sa 26. Aug 2023, 16:40
Guten Tag,

die ersten zwei Seiten dieses Fadens habe ich vollständig gelesen und die restlichen überflogen. Gemäß den ersten Zeilen des Fadens ist sein Zweck, "die Frage, wie wir Vergangenheit erfahren und erinnern ins Allgemeine aufzuweiten." Auf dem Weg dorthin scheint der Faden, sofern ich ihn nicht missverstehe, hermeneutisch nicht voranzukommen. Wie wäre es mit der folgenden Abkürzung? -- (Übrigens, wenn es um historische Kausalitäten geht, so sind selbige meiner Auffassung nach hauptsächlich psychologische Kettenreaktionen; kurz: Es geht letztendlich um psychologische Thesen.)
... .. „ psychologische Kettenreaktionen; kurz psychologische Thesen" würden das meiner Meinung nach genau tun und zwar die Frage, wie wir Vergangenheit erfahren und erinnern , ins Psychologische und damit in das Allgemeine auf weiten. Deshalb sei an dieser Stelle .. noch mal .. das Zitat erwähnt , dass ich dazu passend fand ..

Quk hat geschrieben :
Sa 26. Aug 2023, 16:40

Bei dieser Ausweitung ins Allgemeine stoße ich zunächst auf den Wunsch, jene menschliche Inkonsistenz -- also "anfangs brutal, später sanft" -- nicht nur erklären zu wollen aus reiner Neugierbefriedigung, sondern auch dank dieser Erklärung zukünftig solche Inkonsistenzen zu verhindern; zu verhindern mittels sozialpsychologisch fundierten Strategien oder durch was auch immer. "Mehr Bildung!" wird da gerne gerufen. Oder "Arbeitslosigkeit bekämpfen!" und so weiter, dann enstünden auch keine faschistoiden Auswüchse. Solche Maßnahmen halte ich auch für wichtig, allgemein, aber ihren Einfluss gegen faschistoide Auswüchse im speziellen halte ich für gering, da diese von vorn herein emotionale und keine rationalen Wurzeln haben.

Also, Frage: Sehe ich das richtig, dass der Faden letztendlich Erklärungen finden will, durch welche er wiederum Möglichkeiten ersinnen kann, solche schockierenden, unberechenbaren Inkonsistenzen zukünftig berechenbar zu machen und somit vorzeitig aufzuhalten? Damit solche Gräuel wie im Dritten Reich niemals mehr enstehen können?


.. demnach würde man jene menschliche Inkonsistenz , die zu einer Schematische Ostrakisierung führt , vorzeitig aufhalten in dem man das nicht tut, von dem später der Stolz sagen könnte , das habe ich nicht getan. Nur leider ist es eben auch jener Stolz , der einen das tun lässt.
Nauplios hat geschrieben :
Di 26. Jul 2022, 01:05

Am 22. Juni 1941 überfiel Nazi-Deutschland die Sowjetunion. Jauß schreibt am 27. Juni in einem Feldpostbrief: "Es ist ja fast wie ein Naturgesetz, wie sich uns ein Nachbar nach dem andern zum Kampfe stellt, wie wir uns mit jedem erst messen müssen, ehe wir als neue Größe aufsteigen können." (Westemeier; S. 62)

.. im Fall Jauß ein Stolzsein darauf , dass man sich zum Kampfe stellt , um als neue Größe aufsteigen zu können. Was wäre denn gewesen , wenn seiner Zeit unter den Nazis Deutschland tatsächlich zur neue Größe aufgestiegen wäre? Vor dem Hintergrund "allgemeiner" psychologischer Kettenreaktionen nur mal so als Hypothese !

Zuletzt geändert von Timberlake am So 27. Aug 2023, 18:23, insgesamt 11-mal geändert.




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Quk
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So 27. Aug 2023, 17:43

»Das habe ich getan«, sagt mein Gedächtnis. »Das kann ich nicht getan haben« – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach."
Friedrich Nietzsche ..Jenseits von Gut und Böse
Klar, die Emotion ist da stärker als der Verstand. Deshalb können emotionale Streitpunkte nur emotional bestritten werden, denke ich. Rationale Argumente haben da keine Chance.




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Jörn Budesheim
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Herrschaftsfreie Diskussion, aber keine kritische Theorie

Die Arbeitsgruppe «Poetik und Hermeneutik» war ein Zentrum der intellektuellen deutschen Nachkriegsgeschichte. Einige Teilnehmer blicken zurück: Teils mit Behagen, teils mit Beklemmung.

«Poetik und Hermeneutik» – unter diesem schillernden Titel fanden zwischen 1963 und 1994 regelmässig Kolloquien einer von Hans Robert Jauss, Hans Blumenberg, Wolfgang Iser und Clemens Heselhaus begründeten Forschungsgruppe statt; die Arbeitsergebnisse wurden in insgesamt siebzehn Tagungsbänden mit Textvorlagen, Diskussionsbeiträgen und Statements veröffentlicht. Die Thematik der Kolloquien lag im Schnittpunkt von Literaturwissenschaft und Philosophie, der Bezug auf die ästhetische Moderne war Programm, und durch Hinzuziehung anderer Fachrichtungen – zuvörderst der Geschichte, Kunstgeschichte und Linguistik – gewann die Gruppe ein Profil, das man heute «interdisziplinär» nennen würde.

mehr: https://www.nzz.ch/feuilleton/debatte-h ... -ld.142840




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"Ostrakisieren" heißt laut fremdwort.de "entfernen und verbannen von Personen". Eine andere Quelle sagt: "Durch das Scherbengericht (Ostrakismos) konnten die Athener des 5. Jahrhunderts v. Chr. einen Mitbürger ohne weitere Begründung verbannen."

Aber was ist eine schematische Ächtung? Die Google-Suche nach "Schematische Ostrakisierung" führt zu diesem Thread - aber nicht nur, denn im Wiki, das hier ausnahmsweise als Quelle dient, findet sich auch das Zitat, das dem Thread seinen Titel gab, hier also noch mal:"Für Jauß muss es wohl eine akademische Überlebensfrage gewesen sein. Hätte nicht diese schematische Ostrakisierung stattgefunden, dann hätte er eher mehr über seine Vergangenheit gesprochen ... Es ist natürlich ein Makel und erregt Verdacht, Mitglied in dieser Organisation gewesen zu sein. Aber wenn der bloße Umstand, dass man ‚dabei‘ war, ausreicht, die Karriere ganz unmöglich zu machen – dann hält man den Mund. Was sollte man anderes tun?" (Dieter Henrich)

In diesem Zitat geht es nicht nur um Jauß, sondern auch um diejenigen, die urteilen, und zwar, so Dieter Henrich, nur schematisch, d.h. ohne nähere Betrachtung der Umstände. Zugespitzt formuliert geht es in diesem Faden vielleicht vielmehr um "uns", die wir versuchen, uns ein Urteil zu bilden. Wie können wir das tun? Dazu noch mal das Zitat von Jauß, das Nauplios gepostet hat: "Die noch verbliebene Frage, wie eine historische Hermeneutik mit Befunden von Unmenschlichkeit in der Geschichte fertig wird, die sich aller Sinnkonstitution versagen, möchte ich nicht mehr selbst beantworten." (Hans Robert Jauß; "Das Verstehen von Geschichte und seine Grenzen", in: "Probleme des Verstehens"; S. 210)

Nochmal Blumenberg: "Ich war mit Erich Rothacker befreundet. Ich mochte ihn. Ich habe gefragt, was er zwischen 1933 und 1945 alles getan habe. Ich bin trotzdem bis zu seinem Tode mit ihm befreundet geblieben. Ich wollte nicht sein, was ich nicht zu sein brauchte: das Weltgericht."




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Jörn Budesheim
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Die Fälle Haftmann* und Nolde sind vergleichbar. Von einer schematischen Verfemung kann man in diesen Fällen meines Erachtens heute kaum mehr sprechen. Beide Fälle sind meines Wissens inzwischen recht gut erforscht. Da tun sich Abgründe auf. Gerade zu Nolde habe ich mir einige Videos mit Dokumentationen und Vorträgen angesehen, die unter anderem seine eigenen systematischen Versuche der Geschichtsfälschung gut dokumentieren. Aber die Frage, wie mit seinem Werk umzugehen ist, ist für mich unklar.

*Eine Schau im Deutschen Historischen Museum zeigt, wie stark die ersten Ausgaben der documenta von einem Kriegsverbrecher beeinflusst wurden. Das habe auch dazu geführt, dass Werke von Nazi-Opfern nicht gezeigt worden seien, sagt Co-Kuratorin Julia Voss. mehr




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