Schematische Ostrakisierung

Dieser Teil des Forums befaßt sich mit politischen, sozialen und historischen Aspekten der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten.
Nauplios
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Mi 27. Jul 2022, 01:10

"Protokollnotiz zur Sitzung des Fachbereichsrates vom 30. Oktober 2013

TOP 5: Mitteilungen

Der Fachbereichssprecher berichtet, daß der in Konstanz ansässige Rechtsanwalt Gerhard Zahner ein Theaterstück über die bereits seit den 1990er Jahren bekannte Vergangenheit von Hans Robert Jauß als Mitglied der Waffen-SS von 1939 bis 1943 geschrieben habe. Die Ausführungen von Herrn Zahner gegenüber dem Rektor und in einem Interview [gemeint ist das Interview Zahners mit online-Lokalpostille seemoz vom 21.10.2013] wiesen jedoch auf bislang nicht bekannte Sachverhalte in dieser Angelegenheit hin." (Dokument Nr. 6/ S. 158)




Nauplios
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Mi 27. Jul 2022, 01:24

"Protokollnotiz zur Sitzung des Fachbereichsrates vom 30. Oktober 2025

TOP 007: Mitteilung

Der Fachbereichssprecher berichtet, daß der in Nauplia ansässige Musiker Nauplios eine Ode in Hexametern über die bereits seit den 1990er Jahren bekannte Vergangenheit von Hans Robert Jauß als Mitglied der Volksschule in Wangen von 1928 bis 1932 geschrieben habe. Die Ausführungen von Herrn Nauplios gegenüber dem Rektor und in einem Interview mit der Heimatzeitung Einer geht noch wiesen jedoch auf bislang nicht bekannte Sachverhalte in dieser Angelegenheit hin."




Nauplios
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Mi 27. Jul 2022, 20:33

Der Blick auf eine vergangene Gegenwart - es muß nicht ausschließlich die Gegenwart einer Biographie wie der von Jauß sein - hat es immer mit dem zu tun, was Aby Warburg im Anschluß an Nietzsche und Burckhardt "Nachleben" genannt hat und wir vor einiger Zeit in einem Thread über die "Unreinheit der Zeit" schon mal angesprochen hatten. Die Zeit spült das Vergangene an den Strand der Erinnerung; von "mnemischen Wellen" war bei Warburg die Rede und Jacob Burckhardt schreibt:

"Neben allem Wissensstoff der Erde behauptet sich, wie ein Grundakkord, der immer wieder hindurchtönt, die Geschichte der alten Welt, das heißt aller derjenigen Völker, deren Leben in das unsrige eingemündet ist." (Jacob Burckhardt; Historische Fragmente; S. 6) -

Hat die Geschichte ein Ziel? Ist ihr ein Telos eingeschrieben? Ist die Geschichte an einen Zweck gebunden? - Hegel war dieser Auffassung: "Eine Geschichte ohne solchen Zweck und ohne solche Beurtheilung wäre nur ein schwachsinniges Ergehen des Vorstellens, nicht einmal ein Kindermährchen, denn selbst die Kinder fordern in den Erzählungen ein Interesse, das ist einen wenigstens zu ahnden gegebnen Zweck und die Beziehung der Gegebenheiten und Handlungen auf denselben." (Encyplopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse; Paragraph 549)

Nun haben ja Schopenhauer, Burckhardt und besonders Nietzsche diese Hegelsche Geschichtsteleologie kritisiert. Hier läge ein möglicher Anknüpfungspunkt, die Betrachtung von der individuellen Verstrickung von Jauß aufzuweiten auf eine geschichtstheoretische Betrachtungsweise.




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Stefanie
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Mi 27. Jul 2022, 21:31

Geschichte ist das erzählen und weitergeben von Ereignissen.
Ohne das wären wir nicht viel. Wüssten nichts von unsere Herkunft, hätten keine Basis, kein Wissen, keine Erinnerung. Keine Identität. Das ist mein Zweck.
Das englische Wort History, hat das Wort Story im Wort, die Geschichte.
Geschichte umfasst nicht nur die Politik, Kriege, Frieden, Soziales, Religionen, sondern auch Kunst, Kultur, Sport, Musik jedweder Art und die Geschichte im privaten.
Es war mir immer rätselhaft, wie man das Schulfach Geschichte langweilig finden konnte. Es war mein absolutes Lieblingsfach. Ich hatte kurz erwogen, Geschichte als Nebenfach zu studieren, aber davon Abstand genommen, weil dafür weitere Scheine in Fremdsprachen notwendig waren. Ich bin eine Fremdsprachenniete, außer Latein, habe aber viel vergessen.



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Stefanie
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Mi 27. Jul 2022, 21:36

Nauplios hat geschrieben :
Di 26. Jul 2022, 20:17
Stefanie hat geschrieben :
Di 26. Jul 2022, 18:20

"Die noch verbliebene Frage, wie eine historische Hermeneutik mit Befunden von Unmenschlichkeit in der Geschichte fertig wird, die sich aller Sinnkonstitution versagen, möchte ich nicht mehr selbst beantworten." (Hans Robert Jauß; "Das Verstehen von Geschichte und seine Grenzen", in: "Probleme des Verstehens"; S. 210)

Also beim lesen dieser Aussage war ich erstmal sprachlos,
Ich zitiere diese Passage mal etwas großflächiger:

"Die noch verbliebene Frage, wie eine historische Hermeneutik mit Befunden von Unmenschlichkeit in der Geschichte fertig wird, die sich aller Sinnkonstitution versagen, möchte ich nicht mehr selbst beantworten. Hier bin ich bisher nur zu einer Vermutung gelangt, die ich noch nicht zureichend begründen könnte und darum zur Diskussion stelle. Sie lautet: wenn uns das Unmenschliche in der Geschichte - die bittere Wahrheit des homo homini lupus - unerklärlich bleibt, wenn wir nicht verstehen können, daß der Mensch im Unterschied zum Tier seinesgleichen Böses antut, ist dann vielleicht das Böse selbst das Unerklärliche, auf welche das Verstehen als seine letzte Grenze stößt?" (Hans Robert Jauß; Probleme des Verstehens; S. 210)

Der Historiker Wolfgang Schuller interpretiert diese Stelle so:

"Das Fragezeichen kann hier natürlich nicht beantwortet werden. Es gibt aber Anlaß, die weitere Frage aufzuwerfen, ob denn das Verstehen das einzige und letztgültige intellektuelle Vorgehen ist, des Bösen innerlich Herr zu werden, denn auch darum sollte es ja gehen. (...) Es war wohl das Nichtverstehenkönnen des Bösen dasjenige, was Jauß daran gehindert hat, über das, dem er ohne zusätzliche individuelle Schuld von 1939 bis 1945 gedient hatte, ruhig und als ob es bloß ein Anderes wäre, zu berichten und es in seinem letzten Grund zu verstehen. Es war eben nicht einfach das Andere, sondern es war seine eigene existentielle, nach wie vor traumatische Erfahrung. Dieses Schweigen, weit entfernt von jeder Art eines ihm vorschnell und zu Unrecht angelasteten Vertuschens oder Ableugnens, sollte ihm zugute gehalten und akzeptiert werden." (Wolfgang Schuller; Anatomie einerKampagne; S. 134) -
O.k. Das liest sich jetzt anders.
Frage: Was meint Schuller, aus den die Tastatur immer Schnuller machen will, mit diesen Teil:
"über das, dem er ohne zusätzliche individuelle Schuld von 1939 bis 1945 gedient hatte, "
Jauß hatte keine individuelle Schuld, oder wie meint er das?



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Burkart
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Mi 27. Jul 2022, 22:58

Stefanie hat geschrieben :
Mi 27. Jul 2022, 21:31
Geschichte ist das erzählen und weitergeben von Ereignissen.
Ohne das wären wir nicht viel. Wüssten nichts von unsere Herkunft, hätten keine Basis, kein Wissen, keine Erinnerung. Keine Identität. Das ist mein Zweck.
Das englische Wort History, hat das Wort Story im Wort, die Geschichte.
Geschichte umfasst nicht nur die Politik, Kriege, Frieden, Soziales, Religionen, sondern auch Kunst, Kultur, Sport, Musik jedweder Art und die Geschichte im privaten.
Es war mir immer rätselhaft, wie man das Schulfach Geschichte langweilig finden konnte. Es war mein absolutes Lieblingsfach. Ich hatte kurz erwogen, Geschichte als Nebenfach zu studieren, aber davon Abstand genommen, weil dafür weitere Scheine in Fremdsprachen notwendig waren. Ich bin eine Fremdsprachenniete, außer Latein, habe aber viel vergessen.
Das kann ich dir erklären, warum ich Geschichte gehasst habe: Das lag zum einen am Lehrer und sein Hausaufgaben-Abfrageverhalten mit seinem roten Buch. Einer wurde jede Stunde herausgepickt; das Lernen aller Anderen war dann für die Katz... sodass ich den Sinn des Lernens irgendwie nicht einsah ;)
Ok, aber auch inhaltlich war es in der Schule fast nur Geschichte der Politik. Kunst und Sport war nie ein Thema, Musik nur im Fach Musik, Kultur auch kaum und leider noch viel weniger Geschichte von Natur und Technik, Mathematik u.ä. Und was interessiert einen Mathematik-Interessierten wie mich damals, wie irgendwelche Könige hießen und warum wer wen nicht mochte und bekämpfte...



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Nauplios
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Do 28. Jul 2022, 00:35

Stefanie hat geschrieben :
Mi 27. Jul 2022, 21:31
Geschichte ist das erzählen und weitergeben von Ereignissen.
Ohne das wären wir nicht viel. Wüssten nichts von unsere Herkunft, hätten keine Basis, kein Wissen, keine Erinnerung. Keine Identität. Das ist mein Zweck.
Das englische Wort History, hat das Wort Story im Wort, die Geschichte.
Geschichte umfasst nicht nur die Politik, Kriege, Frieden, Soziales, Religionen, sondern auch Kunst, Kultur, Sport, Musik jedweder Art und die Geschichte im privaten.
Es war mir immer rätselhaft, wie man das Schulfach Geschichte langweilig finden konnte. Es war mein absolutes Lieblingsfach. Ich hatte kurz erwogen, Geschichte als Nebenfach zu studieren, aber davon Abstand genommen, weil dafür weitere Scheine in Fremdsprachen notwendig waren. Ich bin eine Fremdsprachenniete, außer Latein, habe aber viel vergessen.
Wenn man sich dieses "Erzählen von Ereignissen" anschaut, dann fällt auf, daß Geschichten im Laufe der Zeit - innerhalb bestimmter Grenzen - unterschiedlich erzählt werden. Das beginnt oft schon beim eigenen Verlauf des Lebens, vorausgesetzt, dieses Leben hat eine gewisse Dauer. Das betrifft nicht feste Daten (Tag der Einschulung, das erste Auto, der erste Kuß ...); solche Daten gehören in der Regel zum festen Kern; doch eine Erzählung, die etwa mündlich weitergegeben wird, läßt sich ohnehin gar nicht auf vollkommen identische Weise erzählen und selbst wenn es so wäre, hätten sich womöglich die Bedeutungen einzelner Wörter im Laufe der Zeit geändert. Das Wort "Backfisch" würden junge Leute heute nicht mehr verstehen. Meine Schüler:innen verstehen das Wort "hurtig" nicht. "Es geht hurtig durch Fleiß" - "Was bedeutet "hurtig"?

Abenteuer, Unfälle, Streiche, Rendezvous ... ein Zwanzigjähriger erzählt sie anders als ein Sechzigjähriger. Er akzentuiert anders, läßt vielleicht das eine weg, schmückt die Erzählung dafür mit anderem aus. Und es kommt auch darauf an, wem man etwas erzählt: den Eltern oder Gleichaltrigen. Nimmt man dann noch hinzu, daß es mehrere Personen gibt, die am vergangenen Geschehen beteiligt waren und unterschiedliche Perspektiven einbringen und unterschiedliche Erinnerungen haben, kann so eine Erzählung schnell viele Versionen bekommen. Die historischen Daten bleiben, sie werden dadurch nicht anders; das Vergangene ist in seinem faktischen Bestand mit sich identisch. Aber das, was erinnert wird, kann davon abweichen. Das erinnernde Ich und das erinnerte Ich sind unterschiedlich. Und damit ist man wieder bei Jauß; denn das ist genau seine These, die er dann zu einem literaturtheoretischen Konzept ausbaut, welches eng mit seinem Namen verbunden ist: Rezeptionsästhetik.

Der Begriff "Herkunft" erweist sich in dem Zusammenhang als ergiebig; darin steckt ein Kommen, ein Sich-Her-Begeben, mit dem gleich mehrere Erzählungen verbunden sein können, die soziale Herkunft, die berufliche Herkunft, die philosophische Herkunft, die geographische Herkunft u.ä. (Die Frage "Wo kommst du her?" hat ja vor einiger Zeit im Forum eine Nahtoderfahrung gemacht.)

All das spricht dafür, die Geschichte (die Lebensgeschichte eines Einzelnen so wenig wie die Geschichte) nicht als eine pure Abfolge singulärer Ereignisse zu verstehen, die auf der Schnur der Zeit wie Perlen aufgereiht sind, sondern als Ineinander von Zusammenhängen, als Arrangement von Verstrickungen, die zu erzählen eine Quelle voraussetzt, welche die Erzählung speist, damit diese ihrerseits wieder zu einer Quelle für weitere Erzählungen werden kann: "Die Rezeption der Quellen schafft die Quellen der Rezeption." (Hans Blumenberg) - Nennt man diesen Zusammenhang dann Sinn-Zusammenhang ist die "Historische Hermeneutik" nicht mehr weit.




Nauplios
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Do 28. Jul 2022, 01:36

Burkart hat geschrieben :
Mi 27. Jul 2022, 22:58

Das kann ich dir erklären, warum ich Geschichte gehasst habe: Das lag zum einen am Lehrer und sein Hausaufgaben-Abfrageverhalten mit seinem roten Buch. Einer wurde jede Stunde herausgepickt; das Lernen aller Anderen war dann für die Katz... sodass ich den Sinn des Lernens irgendwie nicht einsah ;)
Ok, aber auch inhaltlich war es in der Schule fast nur Geschichte der Politik. Kunst und Sport war nie ein Thema, Musik nur im Fach Musik, Kultur auch kaum und leider noch viel weniger Geschichte von Natur und Technik, Mathematik u.ä. Und was interessiert einen Mathematik-Interessierten wie mich damals, wie irgendwelche Könige hießen und warum wer wen nicht mochte und bekämpfte...
Genauso ist es mir in der Schule auch ergangen. Das Fach Geschichte war mit Langeweile und Überdruss verbunden. Es lag darin kein Sinn (!), weil die rein historischen Daten keinen Zusammenhang ergaben und keinen Bezug zur Gegenwart hatten. Das Buch der Geschichte war eines ohne Text. Man lernte, wieviel Kapitel dieses Buch hatte, wieviel Abschnitte jedes Kapitel hatte, wieviele Zeilen jeder Abschnitt hatte, wieviel Wörter jede Zeile hatte ... aber es gab keinen Text. - Man lernte, welches Reich wann untergegangen war, wer wem auf welchem Thron folgte, wer wen ermordet hatte, und wann es zu welcher Schlacht gekommen war, aber darüberhinaus stiftete das Ganze keinerlei Zusammenhang.

Noch sinnloser war nur noch ein anderes Fach: Philosophie. :o ;) Ich erinnere mich, daß die letzten beiden Stunden am Freitag Philosophie auf dem Stundenplan stand. Die Geburtsstunde von Fridays for future liegt im Café Schmitz! Dieses Café war auch der Schauplatz für eine Episode aus Edgar Reitz' Filmepos "Die zweite Heimat". Aber das ist eine andere Geschichte.




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NaWennDuMeinst
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Do 28. Jul 2022, 01:45

Burkart hat geschrieben :
Mi 27. Jul 2022, 22:58
Und was interessiert einen Mathematik-Interessierten wie mich damals, wie irgendwelche Könige hießen und warum wer wen nicht mochte und bekämpfte...
Lustig. Ich fragte mich immer wo hinter den nackten, öden Zahlen eigentlich die Menschen und Geschichten sind.

In letzter Zeit habe ich leider immer nur mit Historikern zu tun, die die Geschichte entstellen wollen. Die berufen sich auch sehr gerne darauf, dass man Geschichte umfassender verstehen müsste, womit sie letztlich einfach nur meinen: Ihnen zugewandt.
Alles andere, der lästige "Rest" ist dann "Fliegenschiss".
So kann man das natürlich auch machen. Die Geschichte wehrt sich ja nicht. Das tun nur Menschen.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

Nauplios
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Do 28. Jul 2022, 02:21

Stefanie hat geschrieben :
Mi 27. Jul 2022, 21:36

"Es war wohl das Nichtverstehenkönnen des Bösen dasjenige, was Jauß daran gehindert hat, über das, dem er ohne zusätzliche individuelle Schuld von 1939 bis 1945 gedient hatte, ruhig und als ob es bloß ein Anderes wäre, zu berichten und es in seinem letzten Grund zu verstehen. Es war eben nicht einfach das Andere, sondern es war seine eigene existentielle, nach wie vor traumatische Erfahrung. Dieses Schweigen, weit entfernt von jeder Art eines ihm vorschnell und zu Unrecht angelasteten Vertuschens oder Ableugnens, sollte ihm zugute gehalten und akzeptiert werden." (Wolfgang Schuller; Anatomie einer Kampagne; S. 134) -


O.k. Das liest sich jetzt anders.
Frage: Was meint Schuller, aus den die Tastatur immer Schnuller machen will, mit diesen Teil:
"über das, dem er ohne zusätzliche individuelle Schuld von 1939 bis 1945 gedient hatte, "
Jauß hatte keine individuelle Schuld, oder wie meint er das?
Ja, das ist kurzum das Ergebnis, zu dem Wolfgang Schuller in seiner Rekonstruktion kommt. Und eine "individuelle Beteiligung" von Jauß kann ja auch Westemeier trotz aller Akribie nicht belegen. "Das, dem er ohne zusätzliche individuelle Schuld von 1939 bis 1945 gedient hatte", war die Waffen-SS gewesen. Jauß, so Schuller, habe dieser verbrecherischen Organisation zwar gedient, sich dabei aber nicht schuldig gemacht - zumindest nicht nachweislich. - Schuller, inzwischen auch schon verstorben, war Althistoriker. Für ihn gibt es im Krieg noch so etwas wie Tapferkeit. Es gibt ja Zeugnisse (s. Westemeier), in denen Jauß von Vorgesetzten und Untergebenen gerade wegen seiner Furchtlosigkeit und Tapferkeit gerühmt wird; er hat dafür entsprechende Auszeichnungen bekommen. In unseren Ohren klingt das natürlich verstörend, wenn ein Mitglied der Waffen-SS, mit der wir in erster Linie Kriegsverbrechen an unschuldigen Menschen, Wachmannschaften von Konzentrationslagern, Massaker an Zivilisten u.ä. assoziieren, sich durch Tapferkeit und Mut auszeichnet. Ich gebe noch mal ein Beispiel für Schullers Blick auf Jauß:

"Der Mut, mit dem ein Soldat mit Gegnern kämpfte, die sich wehren konnten, und der dabei sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, wird von Heutigen nur noch selten als Wert verstanden und womöglich als kaum etwas anderes als Vorstufe zum Verbrechen betrachtet." (Schuller; S. 115)

" ... mit Gegnern kämpfte, die sich wehren konnten ..." ?? - Wir "Heutigen" können dieser "Erzählung" vom mutigen und tapferen Soldaten der Waffen-SS nicht folgen. Unser Narrativ verweist uns bei der Waffen-SS auf Dachau, Auschwitz ... Im übrigen war ja der gesamte Krieg, mit dem Hitlers Wehrmacht und die SS Europa überzog ein Angriffs- und Vernichtungskrieg. Damit stellt sich für uns die Frage nach dem Mut, nach der Tapferkeit nicht mehr. -

In Platons gleichnamigem Dialog, in dem der Heerführer Laches, auftritt, geht es vor dem Hintergrund der Kampfhandlungen des Peloponnesischen Krieges auch um die Tapferkeit als besondere soldatische Tugend. An Platos Tapferkeit nehmen wir keinen Anstoß. - Wie gesagt, Schuller war Althistoriker.




Nauplios
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Do 28. Jul 2022, 02:56

"Jauß hatte bis zu seinem Lebensende verschwiegen, dass er über Jahre Mitglied der Waffen-SS war." (Gregor Dotzauer am 14. 10. 2018 im Tagesspiegel) - Link

Die Erzählung des deutschen Feuilletons. ;)




Nauplios
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Do 28. Jul 2022, 13:35

Einen aus meiner Sicht klugen Text zur Sache Hans Robert Jauß hat Aleida Assmann geschrieben. Er steht auf der Seite der Universität Konstanz:

Zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Hans Robert Jauß

Unten auf der Seite befinden sich Links zu Presseinformationen, Interviews u.ä., die in der Angelegenheit eine besondere Rolle gespielt haben.

Aleida und Jan Assmann bekamen 2018 den "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels". Die Laudatio hielt Hans Ulrich Gumbrecht, der bei Jauß promoviert wurde und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter war. Gumbrecht hatte 2011 in der ZEIT eine bittere Bilanz gezogen ("Mein Lehrer, der Mann von der SS") und sich auch in seiner Laudatio (ohne den Namen Jauß direkt zu nennen) zur damnatio memoriae von Jauß bekannt. Die Freundschaft zu Aleida Assmann, die ihm darin nicht folgt, ist davon wohl unbeeinträchtigt geblieben.




Nauplios
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Do 28. Jul 2022, 18:58

In Adornos Negativer Dialektik ist an einer Stelle die Rede von:

"Nachlebender Mythos inmitten einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit" (S. 302)

Auch hier gibt es ein "Nachleben" (ein Terminus, der ja auch schon bei Warburg in Gebrach ist). Adorno spricht von der "Menschheit"; ähnlich hatte es schon Freud vermutet (Totem und Tabu), der ja dann die Latenz von individuellen Früherlebnissen betont, deren "Nachleben" gegebenenfalls in Form späterer Wiederholungszwänge die Psychoanalyse aufdeckt.




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Stefanie
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Do 28. Jul 2022, 19:55

Als ich meine Begeisterung für das Fach Geschichte kundtat, hatte ich beim Schreiben damit gerechnet, dass es auch andere Ansichten gibt. Aber gleich drei negative Erfahrungen? Da habt ihr wohl im Lotteriespiel der Lehrkräfte Nieten gezogen.
Vielleicht lag es daran, dass das Gymnasium, auf das ich ging, ein junges, neugegründetes Gymnasium, mein Jahrgang war erst der dritte Abschlussjahrgang (oder war es der vierte, nee der dritte egal). Bis auf wenige Ausnahmen bestand das Kollegium aus jungen Lehrerinnen und Lehrer. Jahreszahlen abfragen, selten. Unsere Lehrer im LK Geschichte hatte klar gemacht, es geht nicht um das Abfragen von Daten, oder wann welche Schlacht war. Klar ein paar Daten sollte man schon wissen. Es ging um die Zusammenhänge, die Entwicklung von der Antike bis heute. Das war bei allen Lehrerinnen und Lehrer so, die ich in Geschichte hatte. Die größte "Niederlage", die er und wir mit ihm hatten, war als wir im Zuge russischen Revolution auch Marx und Lenin behandelten, und die Klausur dazu ziemlich schief ging. Bei allen eine Note schlechter als sonst. Der Lehrer trocken, das war wohl nichts, das habe ich Ihnen wohl nicht richtig erklärt.



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Stefanie
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Do 28. Jul 2022, 20:35

Nauplios hat geschrieben :
Do 28. Jul 2022, 00:35

Wenn man sich dieses "Erzählen von Ereignissen" anschaut, dann fällt auf, daß Geschichten im Laufe der Zeit - innerhalb bestimmter Grenzen - unterschiedlich erzählt werden. Das beginnt oft schon beim eigenen Verlauf des Lebens, vorausgesetzt, dieses Leben hat eine gewisse Dauer. Das betrifft nicht feste Daten (Tag der Einschulung, das erste Auto, der erste Kuß ...); solche Daten gehören in der Regel zum festen Kern; doch eine Erzählung, die etwa mündlich weitergegeben wird, läßt sich ohnehin gar nicht auf vollkommen identische Weise erzählen und selbst wenn es so wäre, hätten sich womöglich die Bedeutungen einzelner Wörter im Laufe der Zeit geändert. Das Wort "Backfisch" würden junge Leute heute nicht mehr verstehen. Meine Schüler:innen verstehen das Wort "hurtig" nicht. "Es geht hurtig durch Fleiß" - "Was bedeutet "hurtig"?

Abenteuer, Unfälle, Streiche, Rendezvous ... ein Zwanzigjähriger erzählt sie anders als ein Sechzigjähriger. Er akzentuiert anders, läßt vielleicht das eine weg, schmückt die Erzählung dafür mit anderem aus. Und es kommt auch darauf an, wem man etwas erzählt: den Eltern oder Gleichaltrigen. Nimmt man dann noch hinzu, daß es mehrere Personen gibt, die am vergangenen Geschehen beteiligt waren und unterschiedliche Perspektiven einbringen und unterschiedliche Erinnerungen haben, kann so eine Erzählung schnell viele Versionen bekommen. Die historischen Daten bleiben, sie werden dadurch nicht anders; das Vergangene ist in seinem faktischen Bestand mit sich identisch. Aber das, was erinnert wird, kann davon abweichen. Das erinnernde Ich und das erinnerte Ich sind unterschiedlich. Und damit ist man wieder bei Jauß; denn das ist genau seine These, die er dann zu einem literaturtheoretischen Konzept ausbaut, welches eng mit seinem Namen verbunden ist: Rezeptionsästhetik.

Der Begriff "Herkunft" erweist sich in dem Zusammenhang als ergiebig; darin steckt ein Kommen, ein Sich-Her-Begeben, mit dem gleich mehrere Erzählungen verbunden sein können, die soziale Herkunft, die berufliche Herkunft, die philosophische Herkunft, die geographische Herkunft u.ä. (Die Frage "Wo kommst du her?" hat ja vor einiger Zeit im Forum eine Nahtoderfahrung gemacht.)

All das spricht dafür, die Geschichte (die Lebensgeschichte eines Einzelnen so wenig wie die Geschichte) nicht als eine pure Abfolge singulärer Ereignisse zu verstehen, die auf der Schnur der Zeit wie Perlen aufgereiht sind, sondern als Ineinander von Zusammenhängen, als Arrangement von Verstrickungen, die zu erzählen eine Quelle voraussetzt, welche die Erzählung speist, damit diese ihrerseits wieder zu einer Quelle für weitere Erzählungen werden kann: "Die Rezeption der Quellen schafft die Quellen der Rezeption." (Hans Blumenberg) - Nennt man diesen Zusammenhang dann Sinn-Zusammenhang ist die "Historische Hermeneutik" nicht mehr weit.
Wir müssen ein roten Kringel um diesen Beitrag machen, als Kennzeichnung dafür, dass ich, bis auf eine Kleinigkeit, keinen Widerspruch erhebe. Die Sache mit der Nahtoderfahrung hätte man sich verkneifen können. : - )
Die Einordnung als Rezeptionsästhetik und den Zusammenhang zur historischen Hermeneutik wusste ich nicht.

Irgendwo hier im Forum hatte ich mal folgendes geschrieben, nach Arendt. Die Vernichtung der Juden sollte eine totale Vernichtung sein. Nichts sollte mehr vorhanden sein von den Menschen. Keine Menschen , keine Dinge. Keine Menschen, die Erinnerungen haben, keine Menschen, die einen Quelle sein können um Geschichten weitergegeben zu können. Es sollte keine Rezeption der Quellen mehr geben. Keine weiteren Erzählungen mehr.
Arendt hat auch darauf hingewiesen, dass die Weitergabe von Geschichten sich mit jeder Weitergabe ändert bzw. Ändern kann, zumal es logischerweise unterschiedliche Perspektiven gibt, allein was für den einen wichtig ist, ist für einen anderen vielleicht nicht. Aber der Kern, oder wie es oben steht das Vergangene ist in seinem faktischen Bestand mit sich identisch.



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Stefanie
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Do 28. Jul 2022, 21:08

Schuller war Althistoriker, so weit so gut. Jahrgang 1935. Wissenschaftler.
Sollte er dann nicht, über das was er erforschte, etwas mehr Neutralität an den Tag legen, anstatt sich diesen historischen Ansichten zueigen machen?

Der Mut, mit dem ein Soldat mit Gegnern kämpfte, die sich wehren konnten, und der dabei sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, wird von Heutigen nur noch selten als Wert verstanden und womöglich als kaum etwas anderes als Vorstufe zum Verbrechen betrachtet." (Schuller; S. 115).

Ähm, das kommt doch wohl an, wer der Aggressor war und wer nicht. Auf die heutige Situation Ukraine und Russland übertragen, hätten die russischen Soldaten auch keine individuelle Schuld. Oder?

Vor kurzem habe ich etwas in Die Waffen nieder von Bertha von Suttner gelesen, noch nicht komplett. Aber sie lässt ihre Hauptfigur genau über dieses Thema nachdenken, und stellt sich Fragen. Über die Tapferkeit, das Heldentum, die Anerkennung dafür usw. Und merkte zu dem Krieg an, in dem ihr erster Mann fiel, also der Mann der Hauptfigur, an, dass in diesem Krieg eigentlich die andere Seite diejenigen sind, die sich verteidigen müssen und um ihre Freiheit kämpfen, und daher eine große Tapferkeit an den Tag legen, soweit aus dem Gedächtnis.



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Burkart
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Do 28. Jul 2022, 21:16

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Do 28. Jul 2022, 01:45
Burkart hat geschrieben :
Mi 27. Jul 2022, 22:58
Und was interessiert einen Mathematik-Interessierten wie mich damals, wie irgendwelche Könige hießen und warum wer wen nicht mochte und bekämpfte...
Lustig. Ich fragte mich immer wo hinter den nackten, öden Zahlen eigentlich die Menschen und Geschichten sind.
So haben wir halt verschiedene Schwerpunkte vor allem in der Kindheit gehabt.
Mathematik war (ist) für mich etwas rein Logisches, in sich klar Zusammenhängendes, das man selbst nachvollziehen und z.T. entwickeln kann, wie meine Lieblingszweierpotenzen (einfach selbst ausrechnen und man hat sie nächste - in Vortaschenrechnerzeiten), ohne Interpretationsspielraum, was richtig und was falsch ist oder sein kann. Geschichte ist da irgendwie anders ;)

Aber Stefanie hat sicher recht, dass andere Lehrer, eine andere Schule und Herangehensweise an Geschichte schon einen Einfluss hat; ob's bei mir gereicht hätte, ist reine Spekulation. Philosophie habe ich auch erst später für mich entdeckt, hatte ich in der Schule allerdings auch nicht (gewählt).



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Do 28. Jul 2022, 21:56

Stefanie hat geschrieben :
Do 28. Jul 2022, 21:08


"Der Mut, mit dem ein Soldat mit Gegnern kämpfte, die sich wehren konnten, und der dabei sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, wird von Heutigen nur noch selten als Wert verstanden und womöglich als kaum etwas anderes als Vorstufe zum Verbrechen betrachtet." (Schuller; S. 115).

Ähm, das kommt doch wohl an, wer der Aggressor war und wer nicht. Auf die heutige Situation Ukraine und Russland übertragen, hätten die russischen Soldaten auch keine individuelle Schuld. Oder?
Mut und Tapferkeit gibt es nur auf seiten des Angegriffenen, aber nicht auf seiten des Aggressors? - Eine Situation, in der ein russischer Soldat einen anderen russischen Soldaten, der verwundet ist, unter Einsatz seines eigenen Lebens rettet, erfordert keinen Mut und keine Tapferkeit?




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Do 28. Jul 2022, 22:09

Stefanie hat geschrieben :
Do 28. Jul 2022, 21:08

Schuller war Althistoriker, so weit so gut. Jahrgang 1935. Wissenschaftler.
Sollte er dann nicht, über das was er erforschte, etwas mehr Neutralität an den Tag legen, anstatt sich diesen historischen Ansichten zueigen machen?
Waren andere "neutral" in der Sache Jauß?

Ich stimme Schuller auch nicht in jeder Äußerung zu. Allerdings sehe ich die Sache so: die Aufführung von Zahners Theaterstück im Audimax der Universität Konstanz gab den Deutungsrahmen ab für das, was zunächst der "Südkurier" und dann das Feuilleton aus dem "Fall Jauß" machten. In der akademischen Welt war man durchaus unterschiedlicher Auffassung in dieser Angelegenheit. Für eine breitere Öffentlichkeit hingegen war der Fall recht schnell klar. Zahner selbst hat später seinen Irrtum eingestanden (s. Beitrag von Aleida Assmann), aber da war der Fall Jauß für die (breite) Öffentlichkeit längst "klar". - Die Universität Konstanz und ihr damaliger Rektor haben in dieser Sache keine gute Figur abgegeben, um nicht zu sagen: eine miserable. Man muß Schuller nicht in allen Punkten folgen, aber in diesem darf man es. -




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Stefanie
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Do 28. Jul 2022, 22:24

Na deshalb frage ich ja.
Irgendwas stört und irritiert mich an der Aussage von Schuller. Mal abgesehen davon, es läge keine individuelle Schuld vor.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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