Gastfreundschaft

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Stefanie
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Fr 10. Nov 2023, 13:13

Die Aufnahme von Fremden als Gast, der umsorgt und geschützt, wird in vielen Kulturen und Religion seit Jahrhunderten als Gastfreundschaft gepflegt. Gastfreundschaft ist in der Regel wechselseitig angelegt. Der Gastgeber bringt den Gast nicht um, kümmert sich um die Bedürfnisse des Gastes und der Gast legt nicht das Haus des Gastgebers in Schutt und Asche. Um mal ein Beispiel zu bringen.
Ein negatives Beispiel ist Prokrustes und sein Bett. https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... f=6&t=1360
Er macht zum einem die Fremden, ob sie und wollen oder nicht, zu seinen Gästen und bestimmt zudem, ob sie „passen“ oder nicht. Er zwingt Ihnen ausschließlich seine Vorstellungen auf, und wenn diese nicht passen, werden die fremden Gäste passend gemacht. Hier getötet, wenn sie nicht in sein Gästebett passen.
Es gibt durchaus Neigungen besonders in Europa, Fremden, die zu uns kommen, in ein starkes Korsett von Regelungen zu zwängen, die zwar nicht zu ihrem Tod führen, aber sie doch in ihrem Leben als Gast stark einschränken.

Dies ist dann die bedingte Gastfreundschaft. Diese ist an Bedingungen geknüpft, so dass eine Aufnahme als Gast erst dann erfolgen, wenn der Gast die Bedingungen erfüllt. Hier stellt sich dann die Frage, kann eine notwendige, sogar lebensnotwendige Aufnahme als Gast, daran gekoppelt werden, dass dieser Fremde, Bedingungen erfüllt?
Einer der Philosophen, die sich mit dem Thema Gastfreundschaft beschäftigt haben, ist Derrida. Nicht das ich Expertin bzgl. Derrida bin, aber dessen Ansatz lässt sich ganz gut nachvollziehen.

Derrida unterscheidet zwischen der unbedingten und der bedingten Gastfreundschaft. Die bedingte Gastfreundschaft kennzeichnet, dass sie von einer Vielzahl an Einschränkungen abhängig ist. Je nach Kultur gibt es Regeln für Gäste, etwa die Gebräuche der der Gastgeber zu achten oder nicht zu lange das Gastrecht in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig sind Gastgeber in fast allen Gesellschaften dazu verpflichtet, für die Sicherheit und das Wohlergehen der Gäste aufzukommen.
Es ist erstmal nachvollziehbar, dass Bedingungen an die Gastfreundschaft geknüpft werden. Jemand nimmt Fremde in sein Haus auf, in seine Wohnung und in sein Leben. Für den Gastgeber entsteht eine Unsicherheit, da die Fremden erstmal nicht eingeschätzt werden können. Fremde können eine Gefahr sein, oder sich als Bereicherung entpuppen.
Derrida sieht diese Unsicherheit erstmal nicht nur negativ. Die Unsicherheit, oder auch das Neue, kann belebend, erneuernd und damit positiv gesehen oder aber auch als bedrohlich erlebt werden oder sogar als beides. Regeln der Gastfreundschaft in der bedingten Gastfreundschaft sollen diese Unsicherheit auf ein erträgliches Maß reduzieren. Das geschieht in unseren westlichen Gesellschaften dadurch, dass Fremde registriert werden, erstmal oder dauerhaft in speziellen Räumen (Aufnahmelager etc.) untergebracht werden, und der weitere Aufenthalt an ein Wohlverhalten gekoppelt wird. Letzteres empfinde ich gerade in Deutschland als extrem negativ. Dadurch sollen Bedrohungsmöglichkeiten verringert werden, die positiven Aspekte gefördert und die völlig Fremden in berechenbarere Gäste umgewandelt werden. Wobei ich mich Frage, wie bei so viel Misstrauen, gerade bei uns in Europa, dadurch positive Aspekte gefördert werden.
Aber Fremde sind nicht nur eine Bedrohung. Gerade Flüchtlinge kommen nicht in feindlicher Absicht. Sie wollen uns nicht besiegen oder sonst was. Es wird anerkannt, dass der Gastgeber Hoheitsanspruch über sein z.B. Haus besitzt. Ein Gast stärkt somit durch sein Gast-Sein die Identität der Gastgebenden als Gastgebende.
Für Derrida gibt es zur bedingten Gastfreundschaft zwingend den Gegenbegriff einer unbedingten Gastfreundschaft. Das Prinzip der unbedingten Gastfreundschaft „gebietet einen Empfang ohne Vorbehalt und ohne Berechnung, es gebietet, sich dem Ankömmling uneingeschränkt auszusetzen, ja es lässt uns dies sogar wünschen.“ Dies bedeutet den Wegfall sämtlicher einschränkender Regelungen, wie keine speziellen Gasträume mehr, keine zeitliche Begrenzung des Aufenthalts, keine Restriktion der Anzahl, kein Erwarten von Dank oder einer Gegengabe, keine vorhergehende Einladung.
„Die absolute und unbedingte Gastfreundschaft, die ich ihm [dem unbekannten Fremden] gewähren möchte, setzt einen Bruch mit der Gastfreundschaft im gängigen Sinne, der bedingten Gastfreundschaft, dem Recht auf Gastfreundschaft oder dem Gastfreundschaftspakt voraus […]. Das Gesetz der Gastfreundschaft […] scheint nämlich zu bestimmen, dass die absolute Gastfreundschaft mit dem Gesetz der Gastfreundschaft als Recht oder Pflicht, mit dem Gastfreundschafts-'Pakt', brechen muss. Mit anderen Worten: Die absolute Gastfreundschaft erfordert, dass ich mein Zuhause (chez-moi) öffne und nicht nur dem Fremden (der über einen Familiennamen, den sozialen Status eines Fremden usw. verfügt), sondern auch dem unbekannten, anonymen absolut Anderen (eine) Statt gebe (donne lieu), dass ich ihn kommen lasse, in ankommen und an dem Ort (lieu), den ich ihm anbiete, Statt haben (avoir lieu) lasse, ohne von ihm eine Gegenseitigkeit zu verlangen (den Eintritt in einen Pakt) oder ihn nach seinem Namen zu fragen“ (Derrida 2018 [2001], 25f).
Bedingte und unbedingte Gastfreundschaft sind wechselseitig voneinander abhängig und können nie ineinander aufgehen. Als konkrete und abstrakte Gastfreundschaft können sie sich aber gegenseitig weiterentwickeln. Die unbedingte Gastfreundschaft kann nicht ohne Formen der bedingten Gastfreundschaft konkret oder wirklich werden. Aber wenn die Idee der unbedingten Gastfreundschaft aufgegeben würde, ginge ein grundlegendes Urvertrauen in die eigene menschliche Gattung verloren, welches durch kein noch so ausgefeiltes konkretes (Vertrags-)Recht ersetzt werden könnte.
Aus: https://www.philosophie.ch/2020-03-16-ehrenfeld

Derrida hat zudem ein Paradox ausgemacht. Dies besteht darin, dass Fremde, um das Recht auf Gastfreundschaft wahrnehmen zu können, die ihnen fremde Sprache, dies dieses Recht formuliert, sprechen müssen, womit sie aber nicht mehr Fremde, sondern nach Derrida gewaltsam Angeglichene sind. Anders gesagt: Gastfreundschaft kann es nur für Fremde geben, doch um sie in Anspruch zu nehmen, müssen Fremde ihre Fremdheit preisgeben. So hat Gastfreundschaft für Derrida eine paradoxe Struktur: sie ist nur als unmögliche möglich. Gastfreundschaft sollte es nur frei von allen Bedingungen, sollte es nur einseitig geben; freilich müssen in der Praxis wechselseitig Bedingungen erfüllt werden.

Soweit erstmal die Theorie von Derrida.

u.a. verwendete Quellen:
https://philosophie-indebate.de/indebat ... d-die-afd/
https://www.storyguide.at/Gastfreundschaft-Artikel.pdf
https://www.philosophie.ch/2020-03-16-ehrenfeld



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Jörn Budesheim
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Fr 10. Nov 2023, 14:45

Es käme wohl einer Revolution gleich, wenn wir die Flüchtenden nicht nur "Gäste" nennen, sondern sie auch als solche ansehen würden.




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Fr 10. Nov 2023, 19:04

In Link Nummer 3 wird zu Beginn Kant zitiert: [Ein Besuchsrecht steht allen Menschen zu] "vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde." (Kant)

Ob wir Eigentümer der Erdoberfläche sind, und wenn ja, ob wir als Menschen tatsächlich die einzigen Eigentümer sind, darüber kann man streiten. Aber mir gefällt der Gedanke von Kant, dass uns dieser Planet (wenn überhaupt) gemeinsam gehört.

Vielleicht könnte man auch sagen, dass wir hier alle nur Gäste sind, ohne dass es einen wirklichen Gastgeber gibt...




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Stefanie
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Fr 10. Nov 2023, 19:47

Allerdings gewährt Kant nur ein Besuchsrecht. Es gibt bei kein Recht, als Gast angenommen zu werden, und auch nur ein bedingtes Besuchsrecht. Kleiner Unterschied.



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Fr 10. Nov 2023, 19:55

Das mag schon sein, deswegen habe ich auch den anderen Punkt, der mir wichtiger ist, hervorgehoben!




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Quk
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Fr 10. Nov 2023, 20:10

Ich denke, um den Begriff Gast verwenden zu können, muss zuerst ein Besitzer deklariert werden, also ein Wesen, das als Nichtgast anwesend ist an jenem Ort, an dem die Gastfrage sich stellt.




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Stefanie
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Fr 10. Nov 2023, 20:29

Kant war immerhin der Erste, der in der Schrift vom ewigen Frieden sowas wie ein Besuchsrecht postulierte. Und damit lange lange lange Jahre der Einzige.

In einem der verlinkten Artikel wird zum Schluss folgende Geschichte erzählt.
Es wird erzählt, dass ein Wanderer einmal zu einem Haus kam und um Unterkunft für eine Nacht bat. Der Hausherr wies ihn aber ab und sagte: „Das ist hier kein Gasthaus.“ Da fragte der Wanderer: „Doch sage mir, wer hat vor dir hier gewohnt?“ „Meine Eltern“, erwiderte der Mann. „Und wer hat vor deinen Eltern hier gewohnt?“ fragte der Wanderer weiter. „Meine Großeltern natürlich.“ „Und wer wird nach dir hier leben?“ Der Mann antwortete: „Meine Kinder werden hier wohnen.“ Da sprach der Wanderer: „Wenn ihr alle einander abwechselt und nur einen bestimmten Zeitraum hier
wohnt, was seid ihr anderes als Gäste? Dieses Haus ist ein Gasthaus.“


Ich habe mir ja Blödheit den Originaltext von mir gelöscht. Deshalb fehlen noch zwei: Levnias und etwas von Hannah Arendt. Muss ich nochmal neu machen.



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Jörn Budesheim
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Fr 10. Nov 2023, 20:51

Quk hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2023, 20:10
Ich denke, um den Begriff Gast verwenden zu können, muss zuerst ein Besitzer deklariert werden, also ein Wesen, das als Nichtgast anwesend ist an jenem Ort, an dem die Gastfrage sich stellt.
Statt Nichtgast könnte man gegebenenfalls auch Gastgeber sagen :) es sei denn natürlich, du meinst einen Einbrecher z.b. :)

............

In zwei der Links, die Stefanie gelistet hat, wird die Frage nach dem Gast ja mit Migration in Verbindung gebracht. Ich bin mir gar nicht (mehr) sicher, ob das passt. Denn Gast ist man nur für eine gewisse Dauer und es gibt die Asymmetrie von Gast und Gastgeber. Aber eigentlich sind wir alle nur gleiche Bürger der einen Welt.




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Fr 10. Nov 2023, 21:02

Der Gastbegriff kann auch als Euphemismus missbraucht werden (auch wenn's wohl ursprünglich gut gemeint war), siehe "Gastarbeiter", welcher nicht als gleichwertig zum "normalen" Arbeiter angesehen wurde, sondern eben einen Sonderstatus "genoss".




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Jörn Budesheim
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Fr 10. Nov 2023, 21:06

Die Gastarbeiter waren ursprünglich Fremdarbeiter :)




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Quk
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Fr 10. Nov 2023, 22:17

Gastgeber = Nichtgast + Besitzer + Türöffner

Mindestens drei Komponenten, oder? :-)

Das Gastsein hätte ich jetzt nicht abhängig gemacht von einer Zeitbegrenzung, sondern vom derzeitigen Besitzverhältnis. Ein Wesen besitzt eine Sache, und alle anderen Wesen, welche diese Sache nicht besitzen, können dort nur Gäste sein, nicht Besitzer. Sobald sie Besitz ergreifen, sind sie keine Gäste mehr. Wenn niemand Besitz ergreift, gibt es keine Besitzer und somit auch keine Besitzer, die darüber entscheiden, ob sie Gastgeber sein wollen oder nicht. Wenn ich also irgendwo bin, wo es keinen Besitzer gibt, stellt sich mir auch nicht die Frage, ob ich Gast bin oder nicht.

Man kann auch sagen, man sei in einer Fremdsprache Gast. Muttersprachler besitzen ihre Sprache im Sinne einer Beherrschung. Sie beherrschen und besitzen ihre Muttersprache. Leute, die später diese Sprache lernen, erreichen meist nie dieselbe hohe Beherrschung wie die eines Muttersprachlers. Sie bleiben darin Gast. Und als Gast geht man meist automatisch respektvoller mit der Fremdsprache um; man verzichtet zum Beispiel auf spezielle, lokale Phrasen oder Dialekte, weil es als Fremdsprachler aufgesetzt wirkt. Man bleibt darin einfach Gast. Erfindet man selbst eine neue Sprache, die man letztendlich selbst trotzdem auswendig lernen muss, weil man sie nicht richtig beherrscht, dann gibt es weder Besitzer noch Gäste. Gäste kann es nur dort geben, wo aktuell Besitzer existieren. Denke ich.

Ich kann bis zu meinem Tod irgendwo Gast sein. Der selbe Tod kann aber auch einen Besitz beenden. Die Zeit spielt also keine Rolle.




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Quk
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Sa 11. Nov 2023, 11:18

Ein anderes Beispiel. Was ich hier schreibe, klingt natürlich übel. Ich will nur zeigen, dass wir Poeten Begriffe beliebig einsetzen können, während diese am angeschauten Sachverhalt nicht wirklich etwas verändern. Der Sachverhalt ist: Erdlinge befinden sich auf der Erde und sie können nicht anders.

Also, wenn mich jemand gefangen nimmt und mir sagt: "Sei mein Gast!", dann ist das ein ziemlich fieser Witz. In Wahrheit bin ich sein Gefangener, weil ich zum Hiersein gezwungen bin. Gefangensein und zugleich Gastsein passt mir nicht zusammen. Gastsein setzt voraus, dass man jederzeit den Gastort verlassen kann. Wenn also in dieser Diskussion vorher von einer Nicht-Dauerhaftigkeit die Rede war, so war damit vielleicht die jederzeitige Möglicheit des Verlassens gemeint?

Jedenfalls könnte man somit auch sagen, dass wir Erdlinge auf der Erde nicht Gäste, sondern Gefangene sind. Klingt übel. Aber so beliebig kann man die Begriffe einsetzen, denke ich. Zwar gibt es hin und wieder ein paar Astronauten, doch die haben nicht lange Ausgang. Wir sind nicht nur Gefangene; auf uns wartet auch die Todesstrafe. Ist es eine Strafe? Strafe muss wehtun, sonst ist sie keine. Das lebenslange Wissen um den eigenen Tod ist jedenfalls kein angenehmes Wissen. Erst gegen Ende mag man sich daran gewöhnen und abhärten.

Allerdings ist dieses Gefängnis wunderschön. Und alles hat seinen Preis. Der Tod ist nur fair. Ich ändere die Begriffe, und alles ist wieder gut.




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Stefanie
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Sa 11. Nov 2023, 23:05

Die letzten zwei Beiträge bekomme ich nicht sortiert. In meinem Kopf.

Gastfreundschaft beinhaltet auch, etwas mit dem Gast zu teilen. Wie das Haus, die Wohnung, das Essen, etc.
Mein erster Gedanke zum Ansatz mit dem Besitz war daher, dass sich mehrere Besitzer dann die eben genannten Dinge teilen. Merkte aber, das passt so nicht. Wenn alle Besitzer sind, habe alle die gleichen Rechte und Pflichten.
Selbst wenn der Gast dauerhaft bleibt, haben zumindest Flüchtlinge, und auch andere Gruppen, erstmal nicht die gleichen Rechte und Pflichten wie die Mitbesitzer.
Quk:
Wenn also in dieser Diskussion vorher von einer Nicht-Dauerhaftigkeit die Rede war, so war damit vielleicht die jederzeitige Möglicheit des Verlassens gemeint?
Klar jeder Gast kann freiwillig wieder gehen. Oft ist das aber ein unfreiwilliges Verlassen. Der Gastgeber schmeißt den Gast raus. Abschiebung als ein Beispiel. Oder der Gast kann sonst nirgendwo anders hin; er will zwar, kann aber nicht.
Andererseits werden oft Gäste, auch wenn sie keine Gäste mehr sind, immer noch wie Gäste behandelt, allerdings ohne die Freundschaft, nach dem Motto, "Das ist unser Land, du bist hier nur Gast". So wie hier https://www.spiegel.de/kultur/deutsche- ... b3bc691e3c

Jetzt komme ich nicht mehr weiter....

Die Sache mit der Zeit ist mir nicht klar geworden und wer ist der Türöffner.



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Timberlake
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Sa 11. Nov 2023, 23:12

Quk hat geschrieben :
Sa 11. Nov 2023, 11:18


Also, wenn mich jemand gefangen nimmt und mir sagt: "Sei mein Gast!", dann ist das ein ziemlich fieser Witz. In Wahrheit bin ich sein Gefangener, weil ich zum Hiersein gezwungen bin. Gefangensein und zugleich Gastsein passt mir nicht zusammen. Gastsein setzt voraus, dass man jederzeit den Gastort verlassen kann. Wenn also in dieser Diskussion vorher von einer Nicht-Dauerhaftigkeit die Rede war, so war damit vielleicht die jederzeitige Möglicheit des Verlassens gemeint?

Kann man eigentlich auch als Gast , gewissermaßen den Gastgeber gefangen nehmen , in dem man "dauerhaft" bei ihm bleibt ?

Sicherlich könnte der Gastgeber , sich dieser Gefangenschaft dadurch entziehen, in dem nun mehr er daraufhin freiwillig geht. Nur würde das nur dann kein fieser Witz sein , wenn auch beim Gastgeber von einer Nicht-Dauerhaftigkeit die Rede ist. Bestenfalls genau so wie beim Gast. Weil in der Möglichkeit, jederzeit ein Ort .. wohl gemerkt dauerhaft! .. verlassen zu können , eingeschränkt, so ließe sich daraus durchaus auch eine Gefangenschaft des Gastgebers ableiten.

Manchmal stelle ich mir deshalb einen Welt , bestehend nur aus Gästen , vor . Eine Welt , als Gasthaus , frei von "fremder Sprache" , die .. wie und wen auch immer .. gefangen macht . Paradox gelöst ...
Stefanie hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2023, 13:13


Derrida hat zudem ein Paradox ausgemacht. Dies besteht darin, dass Fremde, um das Recht auf Gastfreundschaft wahrnehmen zu können, die ihnen fremde Sprache, dies dieses Recht formuliert, sprechen müssen, womit sie aber nicht mehr Fremde, sondern nach Derrida gewaltsam Angeglichene sind. Anders gesagt: Gastfreundschaft kann es nur für Fremde geben, doch um sie in Anspruch zu nehmen, müssen Fremde ihre Fremdheit preisgeben. So hat Gastfreundschaft für Derrida eine paradoxe Struktur: sie ist nur als unmögliche möglich. Gastfreundschaft sollte es nur frei von allen Bedingungen, sollte es nur einseitig geben; freilich müssen in der Praxis wechselseitig Bedingungen erfüllt werden.

Soweit erstmal die Theorie von Derrida.

Stefanie .. vielleicht kommen wir ja so weiter .




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Quk
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So 12. Nov 2023, 00:55

Stefanie hat geschrieben :
Sa 11. Nov 2023, 23:05
Die Sache mit der Zeit ist mir nicht klar geworden und wer ist der Türöffner.
Der Türöffner ist der Gastgeber. Der Gastgeber ist Besitzer, Nichtgast, und Türöffner -- alles in einem.

Timberlake hat geschrieben :
Sa 11. Nov 2023, 23:12
Kann man eigentlich auch als Gast , gewissermaßen den Gastgeber gefangen nehmen , in dem man "dauerhaft" bei ihm bleibt ?
Ich würde sagen, dann ist der Gast kein solcher mehr, sondern Einbrecher und Geiselnehmer.

Letztendlich sind alle wandernden Raumbesetzer bei ihrer Niederlassung Einbrecher. Die menschliche Wanderung begann in Afrika. Sie besetzten Asien. Von Asien gingen sie nach Amerika. Manche gingen nach Europa, und von da später nach Amerika oder Australien. Lauter Einbrecher. Wer zuerst da ist, kann Gastgeber werden.




Burkart
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So 12. Nov 2023, 01:05

Stefanie hat geschrieben :
Sa 11. Nov 2023, 23:05
Gastfreundschaft beinhaltet auch, etwas mit dem Gast zu teilen. Wie das Haus, die Wohnung, das Essen, etc.
Gastfreundschaft bedeutet zwar mit dem Gast zu teilen, aber nach den Regeln des Gastgebers. Ein Gast hat z.B. nicht seine Füße auf den Tisch zu legen, wenn der Gastgeber es nicht mag; bei sich zu Hause kann er dagegen tun, was er will.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Timberlake
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Mo 13. Nov 2023, 02:34

Stefanie hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2023, 13:13
Die Aufnahme von Fremden als Gast, der umsorgt und geschützt, wird in vielen Kulturen und Religion seit Jahrhunderten als Gastfreundschaft gepflegt. Gastfreundschaft ist in der Regel wechselseitig angelegt. Der Gastgeber bringt den Gast nicht um, kümmert sich um die Bedürfnisse des Gastes und der Gast legt nicht das Haus des Gastgebers in Schutt und Asche. Um mal ein Beispiel zu bringen.
Ein negatives Beispiel ist Prokrustes und sein Bett. https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... f=6&t=1360
Er macht zum einem die Fremden, ob sie und wollen oder nicht, zu seinen Gästen und bestimmt zudem, ob sie „passen“ oder nicht. Er zwingt Ihnen ausschließlich seine Vorstellungen auf, und wenn diese nicht passen, werden die fremden Gäste passend gemacht. Hier getötet, wenn sie nicht in sein Gästebett passen.
Es gibt durchaus Neigungen besonders in Europa, Fremden, die zu uns kommen, in ein starkes Korsett von Regelungen zu zwängen, die zwar nicht zu ihrem Tod führen, aber sie doch in ihrem Leben als Gast stark einschränken.
Dazu vielleicht passend , noch eine Fabel von Äsop ...
zgedichte.de hat geschrieben :
Der Fuchs und der Storch

Ein Fuchs hatte einen Storch zu Gaste gebeten, und setzte die leckersten Speisen vor, aber nur auf ganz flachen Schüsseln, aus denen der Storch mit seinem langen Schnabel nichts fressen konnte. Gierig fraß der Fuchs alles allein, obgleich er den Storch unaufhörlich bat, es sieh doch schmecken zu lassen.


Der Storch fand sich betrogen, blieb aber heiter, lobte außerordentlich die Bewirtung und bat seinen Freund auf den andern Tag zu Gaste. Der Fuchs mochte wohl ahnen, daß der Storch sich rächen wollte, und wies die Einladung ab. Der Storch ließ aber nicht nach, ihn zu bitten, und der Fuchs willigte endlich ein.


Als er nun anderen Tages zum Storche kam, fand er alle möglichen Leckerbissen aufgetischt, aber nur in langhalsigen Geschirren. "Folge meinem Beispiele", rief ihm der Storch zu, "tue, als wenn du zu Hause wärest." Und er schlürfte mit seinem Schnabel ebenfalls alles allein, während der Fuchs zu seinem größten Ärger nur das Äußere der Geschirre belecken konnte und nur das Riechen hatte.


Hungrig stand er vom Tische auf und gestand zu, daß ihn der Storch für seinen Mutwillen hinlänglich gestraft habe.



Was du nicht willst, daß man dir tu′,
Das füg′ auch keinem anderen zu.

Aesop
(* unbek., † unbek.)
Wenn es hier zum Schluß, als Moral der Geschichte heißt ...
  • "Was du nicht willst, daß man dir tu′,
    Das füg′ auch keinem anderen zu."
.... wollte man denn tatsächlich selbst so behandelt werden , wie die Fremden , die zu uns kommen? Wenn sie denn überhaupt kommen und ihnen nicht schon vorab , ein Kommen unmöglich gemacht wird . Machen wir uns nichts vor, das was man nicht will , dass man uns tut , fügen wir anderen zu.




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Jörn Budesheim
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Fr 17. Nov 2023, 06:48

https://www.deutschlandfunk.de/sprache- ... a-100.html

Juliane Schröter hat mehr als 6000 Zeitungsartikel in Österreich über Migration ausgewertet. Die Professorin für germanistische Linguistik an der Universität Genf hat unter anderem herausgefunden, dass die Wörter „Migranten“ und „Flüchtlinge“ besonders oft zusammen mit Zahlwörtern wie „eine Million“ „Hunderttausende“ oder „Tausende“ auftauchten. Außerdem kommen sie auffällig oft mit Wörtern wie „Aufteilung“, „Verteilung“, „aufnehmen“, „Rückführungen“ und „Umverteilung“ vor.
Wie diese Wörter wirken
Auf den ersten Blick wirkten die Ergebnisse nicht spektakulär, meint Linguistin Juliane Schröter. Doch wenn man sich überlege, „was das für Wörter sind, bemerkt man, dass wir diese Wörter normalerweise in Zusammenhang mit großen Mengen an Waren oder Gütern verwenden, nicht unbedingt mit Menschen.“
...
Darin beklagen sie, der Diskurs rund um Migration werde inzwischen geradezu faktenfrei geführt.




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Stefanie
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Fr 17. Nov 2023, 18:40

Burkart hat geschrieben :
So 12. Nov 2023, 01:05
Stefanie hat geschrieben :
Sa 11. Nov 2023, 23:05
Gastfreundschaft beinhaltet auch, etwas mit dem Gast zu teilen. Wie das Haus, die Wohnung, das Essen, etc.
Gastfreundschaft bedeutet zwar mit dem Gast zu teilen, aber nach den Regeln des Gastgebers. Ein Gast hat z.B. nicht seine Füße auf den Tisch zu legen, wenn der Gastgeber es nicht mag; bei sich zu Hause kann er dagegen tun, was er will.
Na zum Glück bin ich bei Dir kein Gast und es gibt Menschen, die sehen dies anders als Du.

Die unbedingte Gastfreundschaft.
Levinas: zitiert aus: Werner Stegmaier, Emmanuel Levinas zur Einführung , s. 86,87

Fremde, die einander empfangen, werden zu Gästen und Gastgebern. Wer in seinen Räumen einen Fremden als Gast empfängt, räumt ihm darin Rechte ein, ohne schon wissen zu können, wie der fremde Gast sie nutzen wird. Jeder, der einen Fremden aufnimmt, setzt sich überraschenden Erfahrungen aus, die ihn mitnehmen können, im Guten wie im Schlimmen. Ein Gastgeber zieht sich in seinen eigenen Räumen zurück, um dem Gast auf eine gewisse Zeit Raum zu geben, und der Gast wird in der ›gegebenen Zeit mehr oder weniger sein Leben ändern. Aber auch über die Zeit der Gastlichkeit verfügt der Gastgeber nicht ohne Weiteres. Es gehört zu den Pflichten der Gastlichkeit, Anderen so lange Gastrecht zugewähren, wie sie es wünschen und benötigen. Gastlichkeit ist insofern eine Gabe, eine Gabe wiederum im stärksten Sinn einer Gabe ohne Gegengabe, einer Gabe mit dem Risiko der ›une entgeltlichen Verausgabung des Gastgebers. Sie versetzt den, der sich seine selbst und seiner Räume sicher glaubt, in das "es gibt" und dessen chaotische Möglichkeiten zurück. Man kann einen Gast wohl aus dem Haus weisen, wenn man ihn nicht mehr erträgt. Aber dann bricht man auch mit der Gastlichkeit: »Die Möglichkeit, sich dem Anderen zu öffnen, ist ebenso wesentlich Für das Wesen des Hauses wie die geschlossenen Fenster und Türen. (TI 148/251)



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Burkart
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Fr 17. Nov 2023, 19:42

Stefanie hat geschrieben :
Fr 17. Nov 2023, 18:40
Burkart hat geschrieben :
So 12. Nov 2023, 01:05
Stefanie hat geschrieben :
Sa 11. Nov 2023, 23:05
Gastfreundschaft beinhaltet auch, etwas mit dem Gast zu teilen. Wie das Haus, die Wohnung, das Essen, etc.
Gastfreundschaft bedeutet zwar mit dem Gast zu teilen, aber nach den Regeln des Gastgebers. Ein Gast hat z.B. nicht seine Füße auf den Tisch zu legen, wenn der Gastgeber es nicht mag; bei sich zu Hause kann er dagegen tun, was er will.
Na zum Glück bin ich bei Dir kein Gast und es gibt Menschen, die sehen dies anders als Du.
Ich möchte den Gastgeber erleben, der sich wirklich alles gefallen lässt. Wetten, dass du es auch nicht tust? Bzw. nur von Leuten, denen du auch vertrauen kannst.
Die unbedingte Gastfreundschaft.
Levinas: zitiert aus: Werner Stegmaier, Emmanuel Levinas zur Einführung , s. 86,87
Nettes, vor allem theoretisches Konstrukt.
Fremde, die einander empfangen, werden zu Gästen und Gastgebern. Wer in seinen Räumen einen Fremden als Gast empfängt, räumt ihm darin Rechte ein, ohne schon wissen zu können, wie der fremde Gast sie nutzen wird. Jeder, der einen Fremden aufnimmt, setzt sich überraschenden Erfahrungen aus, die ihn mitnehmen können, im Guten wie im Schlimmen. Ein Gastgeber zieht sich in seinen eigenen Räumen zurück, um dem Gast auf eine gewisse Zeit Raum zu geben, und der Gast wird in der ›gegebenen Zeit mehr oder weniger sein Leben ändern. Aber auch über die Zeit der Gastlichkeit verfügt der Gastgeber nicht ohne Weiteres. Es gehört zu den Pflichten der Gastlichkeit, Anderen so lange Gastrecht zugewähren, wie sie es wünschen und benötigen. Gastlichkeit ist insofern eine Gabe, eine Gabe wiederum im stärksten Sinn einer Gabe ohne Gegengabe, einer Gabe mit dem Risiko der ›une entgeltlichen Verausgabung des Gastgebers. Sie versetzt den, der sich seine selbst und seiner Räume sicher glaubt, in das "es gibt" und dessen chaotische Möglichkeiten zurück. Man kann einen Gast wohl aus dem Haus weisen, wenn man ihn nicht mehr erträgt.
Ah ha!
Aber dann bricht man auch mit der Gastlichkeit: »Die Möglichkeit, sich dem Anderen zu öffnen, ist ebenso wesentlich Für das Wesen des Hauses wie die geschlossenen Fenster und Türen. (TI 148/251)
Sich dem Anderen zu öffnen bedeutet aber eben nicht, alles ertragen zu müssen.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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