Der Südseekönig
Da Timberlake in seinem Thread "Hübl über Moral, Selbstüberschätzung, Narzissmus, Empörung" nicht weiter offtopic lesen möchte (was ich gut verstehen kann) greife ich hier nochmal das Thema strukturelle Gewalt auf.
Meine Ansicht ist, dass man einem Menschen nur dann Gewalt vorwerfen kann, wenn er sie mit voller Absicht oder zumindest bei vollem Wissen gegen einen anderen ausübt.
Als Beispiel möchte ich die Pippi-Langstrumpf-Bücher von Astrid Lindgren anführen. In denen, wie die meisten hier vermutlich wissen, wurde der Vater von Pipi als "Negerkönig" bezeichnet. (Ich schreibe diese Wort jetzt einmal, damit jeder sicher weiß, was gemeint ist). 2009 hat der Verlag dieses Wort aus den Büchern gestrichen und stattdessen das korrektere Wort "Südseekönig" verwendet.
Und mal ungeachtet wie das jeder jetzt findet, stellt sich für mich eine Frage: Warum hat der Verlag das getan?
Wenn der Begriff an und für sich schon immer eine rassistische und erniedrigende Bedeutung gehabt hätte, dann wäre die darin enthaltene strukturelle Gewalt gegen schwarze Menschen seit dessen erste Nutzung immer schon vorhanden gewesen. In diesem Fall müsste man Astrid Lindgren aber Rassismus vorwerfen, denn sie hätte es sicher besser wissen müssen/können. Der Verlag aber argumentierte, dass Astrid Lindgren nach heutigen Wissen sicher keine Rassistin war (zumindest lässt sich sowas nicht in ihren Büchern/Dokus/Interviews erkennen) und den Begriff eher sorglos nutzte. Sie war sich dessen Wirkung wohl nicht bewusst. Um diesen nicht-diskriminierenden, eher weltoffenen Geist in ihren Büchern aufrecht erhalten zu können, wurde der Begriff durch einen ebenso sorglosen Begriff ausgetauscht. Die Veränderung war aus heutiger Sicht notwendig, damit alles beim alten bleiben konnte.
Das heißt, dass Astrid Lindgren hier ohne das dazugehörige Bewusstsein keine Gewalt ausübte, auch wenn eine strukturelle Gewalt zu Grunde lag.
Meine Ansicht ist, dass man einem Menschen nur dann Gewalt vorwerfen kann, wenn er sie mit voller Absicht oder zumindest bei vollem Wissen gegen einen anderen ausübt.
Als Beispiel möchte ich die Pippi-Langstrumpf-Bücher von Astrid Lindgren anführen. In denen, wie die meisten hier vermutlich wissen, wurde der Vater von Pipi als "Negerkönig" bezeichnet. (Ich schreibe diese Wort jetzt einmal, damit jeder sicher weiß, was gemeint ist). 2009 hat der Verlag dieses Wort aus den Büchern gestrichen und stattdessen das korrektere Wort "Südseekönig" verwendet.
Und mal ungeachtet wie das jeder jetzt findet, stellt sich für mich eine Frage: Warum hat der Verlag das getan?
Wenn der Begriff an und für sich schon immer eine rassistische und erniedrigende Bedeutung gehabt hätte, dann wäre die darin enthaltene strukturelle Gewalt gegen schwarze Menschen seit dessen erste Nutzung immer schon vorhanden gewesen. In diesem Fall müsste man Astrid Lindgren aber Rassismus vorwerfen, denn sie hätte es sicher besser wissen müssen/können. Der Verlag aber argumentierte, dass Astrid Lindgren nach heutigen Wissen sicher keine Rassistin war (zumindest lässt sich sowas nicht in ihren Büchern/Dokus/Interviews erkennen) und den Begriff eher sorglos nutzte. Sie war sich dessen Wirkung wohl nicht bewusst. Um diesen nicht-diskriminierenden, eher weltoffenen Geist in ihren Büchern aufrecht erhalten zu können, wurde der Begriff durch einen ebenso sorglosen Begriff ausgetauscht. Die Veränderung war aus heutiger Sicht notwendig, damit alles beim alten bleiben konnte.
Das heißt, dass Astrid Lindgren hier ohne das dazugehörige Bewusstsein keine Gewalt ausübte, auch wenn eine strukturelle Gewalt zu Grunde lag.
Um die Frage zu analysieren, würde ich die Sachlage zunächst in ihre Einzelheiten zerlegen:
Einzelheit 1: Viele Menschen halten den neuen Begriff "Südseekönig" für eine Freiheitseinschränkung.
Einzelheit 2: Viele Menschen fühlen sich durch den alten Begriff verletzt.
Einzelheit 3: Viele Menschen möchten diese Verletzung möglichst reduzieren und zugleich die Freiheiten beider Seiten abwägen.
Einzelheit 4: Astrid Lindgren wollte immer gute und keine verletzenden Geschichten schreiben.
Einzelheit 5: Verletzungen sind variabel.
Einzelheit 6: Der Verletzungsgrad variiert je nach Wortwahl.
Einzelheit 7: Der Verletzungsgrad variiert je nach Absichtsgrad des Sprechers (graduell über unabsichtlich, leichtsinnig, gleichgültig bis absichtlich).
Einzelheit 8: Verletzend und Verletztsein sind zwei verschiedene Adjektive (aktiv/passiv).
Einzelheit 9: Der neue Begriff dient der Geschichte mindestens so gut wie der alte; es wird kein Bild zerstört.
Ich denke, jede Einzelheit steht zunächst für sich. Nun kombiniere ich möglichst widerspruchsfrei:
Der Grad des Verletztseins hängt ab von der Boshaftigkeit des Begriffshintergrunds und vom Absichtsgrad des Sprechers.
Also der Grad des Verletztseins wird verstärkt, wenn das Verletzen absichtlich geschieht; und reduziert, wenn es unabsichtlich geschieht.
Aber der andere Faktor -- das Wort an sich -- spielt weiterhin mit, ganz besonders dann, wenn des Sprechers Absicht unbekannt ist. Im Fall der Pippi-Langstrumpf-Bücher ist vielen Lesern wahrscheinlich nicht bekannt, was für eine Persönlichkeit diese Geschichten schrieb; diese Leser können sich kein Bild von der Absicht machen und lesen nur das Wort an sich. Daher kann ich nachvollziehen, dass hier die Abwägung zugunsten des Ersatzbegriffs ausfällt, zumal dieser die Geschichte nicht verändert, weder in ihrer Stimmung noch in ihrem Klang.
In meiner Analyse ist jetzt das G-Wort nicht vorgekommen. Fehlt es?
Einzelheit 1: Viele Menschen halten den neuen Begriff "Südseekönig" für eine Freiheitseinschränkung.
Einzelheit 2: Viele Menschen fühlen sich durch den alten Begriff verletzt.
Einzelheit 3: Viele Menschen möchten diese Verletzung möglichst reduzieren und zugleich die Freiheiten beider Seiten abwägen.
Einzelheit 4: Astrid Lindgren wollte immer gute und keine verletzenden Geschichten schreiben.
Einzelheit 5: Verletzungen sind variabel.
Einzelheit 6: Der Verletzungsgrad variiert je nach Wortwahl.
Einzelheit 7: Der Verletzungsgrad variiert je nach Absichtsgrad des Sprechers (graduell über unabsichtlich, leichtsinnig, gleichgültig bis absichtlich).
Einzelheit 8: Verletzend und Verletztsein sind zwei verschiedene Adjektive (aktiv/passiv).
Einzelheit 9: Der neue Begriff dient der Geschichte mindestens so gut wie der alte; es wird kein Bild zerstört.
Ich denke, jede Einzelheit steht zunächst für sich. Nun kombiniere ich möglichst widerspruchsfrei:
Der Grad des Verletztseins hängt ab von der Boshaftigkeit des Begriffshintergrunds und vom Absichtsgrad des Sprechers.
Also der Grad des Verletztseins wird verstärkt, wenn das Verletzen absichtlich geschieht; und reduziert, wenn es unabsichtlich geschieht.
Aber der andere Faktor -- das Wort an sich -- spielt weiterhin mit, ganz besonders dann, wenn des Sprechers Absicht unbekannt ist. Im Fall der Pippi-Langstrumpf-Bücher ist vielen Lesern wahrscheinlich nicht bekannt, was für eine Persönlichkeit diese Geschichten schrieb; diese Leser können sich kein Bild von der Absicht machen und lesen nur das Wort an sich. Daher kann ich nachvollziehen, dass hier die Abwägung zugunsten des Ersatzbegriffs ausfällt, zumal dieser die Geschichte nicht verändert, weder in ihrer Stimmung noch in ihrem Klang.
In meiner Analyse ist jetzt das G-Wort nicht vorgekommen. Fehlt es?
- Jörn Budesheim
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Der Begriff hatte doch schon immer eine rassistische und erniedrigende Bedeutung. Die Aufklärung brachte zwar das Ideal der Gleichheit aller Menschen hervor – gleichzeitig diente die Konstruktion von „Rassen“ dazu, Kolonialismus und Sklaverei ideologisch zu rechtfertigen. Die angebliche „Minderwertigkeit“ der als „N...“ bezeichneten Menschen wurde als Begründung für ihre Versklavung und Ausbeutung herangezogen.
Die Einteilungen von Carl von Linné (1735) und die Abwertungen durch Philosophen wie Kant oder Meiners trugen wesentlich zur Verfestigung dieses rassistischen Stereotyps bei. Die Geschichte reicht dabei jedoch viel weiter zurück, mindestens bis ins 16. Jahrhundert. Und seither wurden diese Stereotype – in Erzählungen, Sprache, Bildern, später im Kino, Fernsehen und Internet – millionenfach reproduziert. Sie wurden „normal“, Teil einer allgemeinen Normalität, die tief in unsere Kultur eingewoben ist.
Wir alle sind Kinder unserer Zeit. Diese Bilder, Narrative und Verhaltensweisen haben sich durch permanente Wiederholung tief in uns eingegraben – ganz gleich, ob wir sie aktiv befürworten oder nicht. Aber: Wir sind dem nicht wehrlos ausgeliefert. Offenbar sind wir in der Lage, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln. Und genau das ist der Punkt. Wenn ein Verlag ein Wort ändert, das heute – mit gutem Grund – als rassistisch erkannt wird, dann geschieht das nicht, weil man Astrid Lindgren nachträglich verurteilen will. Es geschieht vermutlich, um den Geist ihrer Bücher zu bewahren.
Das ist übrigens kein allgemeines Plädoyer dafür, Texte umzuschreiben. Das kommt jeweils auf den Fall an. Denkbar sind auch Vor- oder Nachworte, es mag auch Fälle geben, wo man gar nicht eingreift – denn die Sichtbarmachung der Geschichte ist natürlich ebenfalls wichtig.
Man kommt in der Philosophie weiter, wenn man erwägt, dass es Menschen im Ernst gibt
Aber dann gibt es für Astrid Lindgrens Verständnis des Begriffes keine Hoffnung mehr. Denn dann war der Begriff immer so wie er heute ist. Und das Austauschen des Begriffs wäre eine Beschönigung der Wahrheit. Wenn die Bücher rassistische Begriffe beinhalten, dann sollten sie auch so bleiben. Und der Verlag sollte sie aus der Produktion nehmen und ins tiefste Archiv schieben.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 5. Jun 2025, 15:21Der Begriff hatte doch schon immer eine rassistische und erniedrigende Bedeutung. Die Aufklärung brachte zwar das Ideal der Gleichheit aller Menschen hervor – gleichzeitig diente die Konstruktion von „Rassen“ dazu, Kolonialismus und Sklaverei ideologisch zu rechtfertigen. Die angebliche „Minderwertigkeit“ der als „N...“ bezeichneten Menschen wurde als Begründung für ihre Versklavung und Ausbeutung herangezogen.
[...]
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[...] Als ein Meister der Wandlung hat [der Rassismus] seine Gestalt durch die Jahrzehnte hindurch dennoch verändert; Ideologien der biologischen Differenz sind der vermeintlichen Unvereinbarkeit von unterschiedlichen Kulturen und Religionen gewichen. Manifester Rassismus in Gesetzestexten und Staatlichkeit ist nahezu verschwunden, heute verbirgt er sich in häufig unausgesprochenen Meinungen, Einstellungen und Emotionen. Diese subtilen Ausprägungen des Rassismus, die laut der UN eine der größten Herausforderungen im Kampf gegen gegenwärtigen Rassismus darstellen, sind besonders unauffällig. Sie geben sich nicht selbst zu erkennen, machen ihre Intention nicht explizit und häufig bedürfen sie auch keiner Begründung. Vielmehr erschaffen sie Bilder des »Anderen« und organisieren Emotionen oder Assoziationen um sie herum. Der heutige Rassismus erschafft moderne Mythen des »Anderen«.
Wenn wir nun den Blickwinkel von einer historischen auf eine persönliche Perspektive verschieben und danach fragen, wann wir mit diesen neuartigen, latenten Formen des Rassismus in unserer Erfahrung und Biografie in Berührung gekommen sind, dann stoßen wir auf eine wesentliche Problematik: Eben weil der heutige Rassismus häufig subtil ist, bleibt er vielen gänzlich verborgen, während andere die Konfrontation mit dieser Form rassistischer Diskriminierung als Bestandteil ihres alltäglichen Lebens beschreiben. Das Wissen über alltäglichen Rassismus ist also recht ungleich verteilt – jene, die Rassismus erleben, wissen über ihn Bescheid, doch die Mehrheitsgesellschaft bleibt häufig ahnungslos oder bestreitet seine Existenz sogar. Wenn wir also dem Phänomen des Alltagsrassismus nachgehen wollen, setzt das vor allem voraus, dass wir bereit sind, den Expert_innen für Alltagsrassismus zuzuhören und von jenen, die unfreiwillig ein umfängliches Wissen über ihn erlangt haben, zu lernen.
(Stephanie Lavorano)
Wenn wir nun den Blickwinkel von einer historischen auf eine persönliche Perspektive verschieben und danach fragen, wann wir mit diesen neuartigen, latenten Formen des Rassismus in unserer Erfahrung und Biografie in Berührung gekommen sind, dann stoßen wir auf eine wesentliche Problematik: Eben weil der heutige Rassismus häufig subtil ist, bleibt er vielen gänzlich verborgen, während andere die Konfrontation mit dieser Form rassistischer Diskriminierung als Bestandteil ihres alltäglichen Lebens beschreiben. Das Wissen über alltäglichen Rassismus ist also recht ungleich verteilt – jene, die Rassismus erleben, wissen über ihn Bescheid, doch die Mehrheitsgesellschaft bleibt häufig ahnungslos oder bestreitet seine Existenz sogar. Wenn wir also dem Phänomen des Alltagsrassismus nachgehen wollen, setzt das vor allem voraus, dass wir bereit sind, den Expert_innen für Alltagsrassismus zuzuhören und von jenen, die unfreiwillig ein umfängliches Wissen über ihn erlangt haben, zu lernen.
(Stephanie Lavorano)
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- Jörn Budesheim
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Einzelheit 1: Der Patient hat leichtes Fieber.
Einzelheit 2: Am Rücken zeigen sich kleine rote Flecken.
Einzelheit 3: Die Augen sind lichtempfindlich.
Einzelheit 4: Der Patient hustet, fühlt sich abgeschlagen, hat keinen Appetit.
Einzelheit 5: Die Körpertemperatur steigt weiter.
Damit ist zunächst nicht viel gewonnen – es sei denn, man findet etwas, was über die Einzelheiten hinausweist und sie in einem größeren Zusammenhang begreifbar macht. Moment mal … könnten es Masern sein?
Jetzt beginnen eine gezielte Rückfragen: Gab es Kontakt zu Infizierten? Ist ein typischer Ausschlag hinter den Ohren zu sehen? Wurde je geimpft?
Nur, wer über diesen übergeordneten Begriff "Maser" verfügt, kann sinnvoll weiterfragen – und plötzlich verändert sich auch der Blick auf die bisherigen Symptome: Das Fieber ist nun kein bloß „erhöhtes“, sondern ein typisches Frühzeichen. Die roten Punkte entpuppen sich als Koplik-Flecken. Das Ganze ergibt Sinn. Bei der richtigen Diagnose kann sich der Arzt an die Heilung machen; ansonsten kann er nur versuchen, das eine oder andere Symptom zu lindern.
Aber das kann nur, wer über den übergeordneten Begriff Masern verfügt. Ohne ihn bleiben die Einzelheiten ein loses Sammelsurium. Solche Anschauungen ohne Begriffe sind – um Kant zu bemühen – blind.
Zurück zum Thema: Man kann nicht über Rassismus sprechen, ohne – Achtung, Überraschung – über Rassismus zu sprechen. Verfügt man aber über diesen Begriff – und nicht etwa nur das Wort – dann wird auch ein erneuter, präziser Blick auf die Einzelheiten möglich: Ist es wirklich so, dass Betroffene und Angehörige der Mehrheitsgesellschaft zwei gleiche Gruppen bilden, die im Prinzip symmetrisch zueinander stehen? Oder offenbaren sich nicht vielmehr strukturelle Asymmetrien? ...
Eben weil der heutige Rassismus häufig subtil ist, bleibt er vielen gänzlich verborgen, während andere die Konfrontation mit dieser Form rassistischer Diskriminierung als Bestandteil ihres alltäglichen Lebens beschreiben.
Einzelheit 2: Am Rücken zeigen sich kleine rote Flecken.
Einzelheit 3: Die Augen sind lichtempfindlich.
Einzelheit 4: Der Patient hustet, fühlt sich abgeschlagen, hat keinen Appetit.
Einzelheit 5: Die Körpertemperatur steigt weiter.
Damit ist zunächst nicht viel gewonnen – es sei denn, man findet etwas, was über die Einzelheiten hinausweist und sie in einem größeren Zusammenhang begreifbar macht. Moment mal … könnten es Masern sein?
Jetzt beginnen eine gezielte Rückfragen: Gab es Kontakt zu Infizierten? Ist ein typischer Ausschlag hinter den Ohren zu sehen? Wurde je geimpft?
Nur, wer über diesen übergeordneten Begriff "Maser" verfügt, kann sinnvoll weiterfragen – und plötzlich verändert sich auch der Blick auf die bisherigen Symptome: Das Fieber ist nun kein bloß „erhöhtes“, sondern ein typisches Frühzeichen. Die roten Punkte entpuppen sich als Koplik-Flecken. Das Ganze ergibt Sinn. Bei der richtigen Diagnose kann sich der Arzt an die Heilung machen; ansonsten kann er nur versuchen, das eine oder andere Symptom zu lindern.
Aber das kann nur, wer über den übergeordneten Begriff Masern verfügt. Ohne ihn bleiben die Einzelheiten ein loses Sammelsurium. Solche Anschauungen ohne Begriffe sind – um Kant zu bemühen – blind.
Zurück zum Thema: Man kann nicht über Rassismus sprechen, ohne – Achtung, Überraschung – über Rassismus zu sprechen. Verfügt man aber über diesen Begriff – und nicht etwa nur das Wort – dann wird auch ein erneuter, präziser Blick auf die Einzelheiten möglich: Ist es wirklich so, dass Betroffene und Angehörige der Mehrheitsgesellschaft zwei gleiche Gruppen bilden, die im Prinzip symmetrisch zueinander stehen? Oder offenbaren sich nicht vielmehr strukturelle Asymmetrien? ...
Eben weil der heutige Rassismus häufig subtil ist, bleibt er vielen gänzlich verborgen, während andere die Konfrontation mit dieser Form rassistischer Diskriminierung als Bestandteil ihres alltäglichen Lebens beschreiben.
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- Jörn Budesheim
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Ich finde schon, dass wir für Astrid Lindgren Hoffnung haben können. In einer Zeit, in der noch ein ganz anderes „Mädchenbild“ vorherrschte, entwarf sie eine Figur, die stark, witzig, eigensinnig und damit revolutionär war. Dass wir 80 Jahre später in dem Buch Dinge entdecken, die wir heute kritisieren, finde ich überhaupt nicht schlimm. Nach allem, was ich gelesen habe, war sich Astrid Lindgren dieser Problematik in späteren Jahren selbst bewusst und befürwortete entsprechende Änderungen.
Meines Erachtens könnte man so etwas auch in die Bücher aufnehmen. Dann sehen die Kinder, die das heute lesen, dass die Autorin nicht stur an ihren früheren Ansichten festhielt, sondern offen für neue Einsichten war. Damit würden die Werke nicht nur literarisch weiterleben, sondern wären Zeugnis eines lebendigen, offenen Geistes.
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Folgender Satz, auch wenn ich ihm nicht ganz zustimme, trift meinen Punkt im wesentlichen recht gut:
Strukturelle Gewalt kennt keinen Täter.
Und Astrid Lindgren hat selbst keine Gewalt ausgeübt. Auch wenn sie die darunter liegende strukturelle Gewalt performativ in ihren Schriften weiter legitimiert hat.
Während die Opfer klar darunter leiden, bleibt die Tat ohne Täter nicht wirklich zuschreibbar. Sie wird dann irgendwie abstrakt und "vom System" getragen.
Vermutlich sehen sich viele gerade durch diese "Entkopplung" nicht mehr als Teil des Problems.
Strukturelle Gewalt kennt keinen Täter.
Und Astrid Lindgren hat selbst keine Gewalt ausgeübt. Auch wenn sie die darunter liegende strukturelle Gewalt performativ in ihren Schriften weiter legitimiert hat.
Während die Opfer klar darunter leiden, bleibt die Tat ohne Täter nicht wirklich zuschreibbar. Sie wird dann irgendwie abstrakt und "vom System" getragen.
Vermutlich sehen sich viele gerade durch diese "Entkopplung" nicht mehr als Teil des Problems.
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Oder umgekehrt. Man kann sich doch entscheiden, solche Strukturen nicht mitzutragen, soweit es in der eigenen Macht liegt. Es gibt ja heutzutage einige Diskussionen (zum Beispiel hier im Forum) darüber; darauf muss man nicht mit Reaktanz reagieren, sondern kann versuchen, sich selbst zu ändern. Reaktanz fühlt sich vielleicht wie Freiheit an. Doch echte Freiheit beginnt dort, wo wir uns solcher Muster bewusst werden, die subkutan wirken – und sie aus Einsicht ändern.
(Rassismus ist natürlich ein gesamtgesellschaftliches Problem.)
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„In den vergangenen Jahren kam die politisch korrekte Bezeichnung »Mensch mit Migrationshintergrund« auf. Ganz ehrlich: Ich bin in Deutschland aufgewachsen, das ist das Land, in dem ich leben möchte, in dem ich meinen Beruf als Journalistin ausüben kann, und die ersten 35 Jahre meines Lebens war ich Hatice Akyün. Jetzt bin ich ein »Mensch mit Migrationshintergrund«. Ich will nicht abgestempelt werden, ich will keinen Hintergrund.“ (Die Journalistin Hatice Akyün in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau, 29. Januar 2009)
Hatice Akyün beschreibt ihre Erfahrung mit dem Migrationshintergrund als eine Entfremdung. Ihre Selbstbestimmung über die eigene und individuelle Identität sei durch die Zuweisung einer kollektiven Identität, nämlich der der "ewigen Migrantin" ersetzt worden. Obwohl die genaue Definition des Migrationshintergrundes uns im alltäglichen Gebrauch häufig weder bewusst ist noch von den Sprechern angewendet wird, entspricht die in ihm beheimatete Vorstellung eines auf Abstammung basierenden Deutschseins dem Weltbild, das alltagsrassistische Ausgrenzung prägt. Im Gegensatz zum Migrationshintergrund ist die Erfahrung, als »Migrant« wahrgenommen oder stigmatisiert zu werden, allerdings keine vererbte. In Anlehnung an Simone de Beauvoirs berühmten Satz »Man ist nicht als Frau geboren, man wird es«, lässt sich sagen: Man wird »zum Migranten gemacht: durch die alltäglichen Erlebnisse rassistischer Ausgrenzung. (Stephanie Lavorano)
Hatice Akyün beschreibt ihre Erfahrung mit dem Migrationshintergrund als eine Entfremdung. Ihre Selbstbestimmung über die eigene und individuelle Identität sei durch die Zuweisung einer kollektiven Identität, nämlich der der "ewigen Migrantin" ersetzt worden. Obwohl die genaue Definition des Migrationshintergrundes uns im alltäglichen Gebrauch häufig weder bewusst ist noch von den Sprechern angewendet wird, entspricht die in ihm beheimatete Vorstellung eines auf Abstammung basierenden Deutschseins dem Weltbild, das alltagsrassistische Ausgrenzung prägt. Im Gegensatz zum Migrationshintergrund ist die Erfahrung, als »Migrant« wahrgenommen oder stigmatisiert zu werden, allerdings keine vererbte. In Anlehnung an Simone de Beauvoirs berühmten Satz »Man ist nicht als Frau geboren, man wird es«, lässt sich sagen: Man wird »zum Migranten gemacht: durch die alltäglichen Erlebnisse rassistischer Ausgrenzung. (Stephanie Lavorano)
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Der Migrationsforscher Mark Terkessidis (*1966) hat in Interviews mit Migrant_innen der zweiten Generation herausgearbeitet, dass viele unter ihnen eine Art „Urszene“ benennen können, in der ihnen als Jugendlichen das Nicht-Dazugehören schlagartig bewusst geworden ist. In diesem Moment fühlten sie sich der Selbstverständlichkeit, ein Teil der deutschen Gesellschaft zu sein, beraubt. Im Zentrum stand dabei häufig eine harmlos anmutende Frage: „Woher kommst Du?“ Terkessidis’ Studie stammt aus den frühen 2000er Jahren. Meine Studierenden haben mir erzählt, dass statt „Woher kommst Du?“ inzwischen mitunter auch gefragt wird: „Was sind Deine Wurzeln?“, „Woher stammt Dein Name?“ oder „Woher kommen Deine Eltern?“ All diesen Nachforschungen ist gemein, dass sie Auskunft über die Abstammung einfordern. Zugleich signalisieren sie, dass jemand, so wie er oder sie ist, nicht deutsch ist oder vielmehr sein kann. (Stephanie Lavorano)
Diese „Woher kommst du?“-Frage ist offenbar Teil des strukturellen Problems. Wer das einmal verstanden hat, kann sich bewusst entscheiden, wie er damit umgeht und ist damit auch in der Verantwortung.
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Wir wissen auch nicht, wie unser Sprechen in vielleicht 100 oder 200 Jahren beurteilt werden wird. Vorausgesetzt, die Entwicklung in den europäischen Ländern verläuft gradlinig in Richtung weiterer Nicht-Diskriminierung, könnte es sein, daß man in unseren Bezeichnungen und Redewendungen Diskriminierendes findet, von dem wir gar nicht wissen. Denn wäre es uns bewußt, könnten wir es ändern. Nur das, was außerhalb unseres Horizontes liegt, können wir unmöglich sehen. Mit "wir" und "uns" meine ich vor allem die europäische Gesellschaft.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 5. Jun 2025, 15:21Wir alle sind Kinder unserer Zeit. Diese Bilder, Narrative und Verhaltensweisen haben sich durch permanente Wiederholung tief in uns eingegraben – ganz gleich, ob wir sie aktiv befürworten oder nicht. Aber: Wir sind dem nicht wehrlos ausgeliefert. Offenbar sind wir in der Lage, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln.
- Friederike
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- Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48
Ja, das ist mir plausibel. Für diejenigen, die in der 2. Generation in D leben und auch hier bleiben möchten.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 6. Jun 2025, 11:01Diese „Woher kommst du?“-Frage ist offenbar Teil des strukturellen Problems. Wer das einmal verstanden hat, kann sich bewusst entscheiden, wie er damit umgeht und ist damit auch in der Verantwortung.
Es gibt allerdings auch diejenigen, die sich erkannt und verstanden fühlen, wenn man sie nach ihrem Herkunftsland, d.h. nämlich ihrer Heimat, befragt. Kürzlich sagte einer meiner Schüler "dieses verdammte Exil" (er ist aus Afghanistan über den Iran auf dem Landweg nach D gekommen). Sein Gesicht, seine Mimik veränderte sich beim Sprechen über die Heimat. Es wurde lebendig.
Was schlußfolgere ich daraus? Man muß sehr genau hinsehen, und wenn jemand sehr gut Deutsch spricht, ist es wohl richtiger, nicht nach dem Herkunftsland zu fragen.
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Ist das aber ein Argument gegen das, was ich oben schreibe? Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Wenn man die fraglichen Zusammenhänge kennt, beispielsweise durch einen entsprechenden Artikel, ein Buch oder ein YouTube-Video, dann ist man nicht mehr „Opfer anonymer Strukturen” (oder wie auch immer man es nennen möchte), sondern trägt selbst die Verantwortung für die eigene Entscheidung. Diese kann richtig oder falsch sein.
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Vielleicht ist die Frage per se gar nicht ausgrenzend. Ich vermute, dass der Ton hier die Musik macht. Und wenn ich meinem Gegenüber mit Respekt und Interesse entgegentrete, was Friederike bei ihrem Schüler höchstwahrscheinlich auch getan hat, dann muss darin nicht immer etwas ausgrenzendes liegen. Es kann auch ein Zeichen der Offenheit gegenüber anderem sein und auch so angenommen werden. Wäre sinnvoller als eine bestimmte Form von "Gleichmacherei" (Sorry für den Begriff). Besser im konkreten Fall schauen, wie jemand sich selber sieht.Friederike hat geschrieben : ↑Sa 7. Jun 2025, 17:18Ja, das ist mir plausibel. Für diejenigen, die in der 2. Generation in D leben und auch hier bleiben möchten.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 6. Jun 2025, 11:01Diese „Woher kommst du?“-Frage ist offenbar Teil des strukturellen Problems. Wer das einmal verstanden hat, kann sich bewusst entscheiden, wie er damit umgeht und ist damit auch in der Verantwortung.
Es gibt allerdings auch diejenigen, die sich erkannt und verstanden fühlen, wenn man sie nach ihrem Herkunftsland, d.h. nämlich ihrer Heimat, befragt. Kürzlich sagte einer meiner Schüler "dieses verdammte Exil" (er ist aus Afghanistan über den Iran auf dem Landweg nach D gekommen). Sein Gesicht, seine Mimik veränderte sich beim Sprechen über die Heimat. Es wurde lebendig.
Was schlußfolgere ich daraus? Man muß sehr genau hinsehen, und wenn jemand sehr gut Deutsch spricht, ist es wohl richtiger, nicht nach dem Herkunftsland zu fragen.