Überlegungen zum "Fall" M. Özil

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Hermeneuticus
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So 29. Jul 2018, 15:21

Tommy hat geschrieben :
So 29. Jul 2018, 12:22
Ich bin mit Herrn Özil in einem Punkt auf einer Seite, nämlich bei der Frage ab wann man denn nun eigentlich ein "echter" Deutscher ist.
Das ist eine tendenziöse Fragestellung. Denn sie unterstellt, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland allgemein diskriminiert werden. Bei Özil war das nun bestimmt nicht der Fall. Sicher gab und gibt es zahlreiche nationalistische Stänkerer, die Özil wegen seiner türkischen Wurzeln angefeindet haben bzw. anfeinden. Aber er hat doch offensichtlich in Deutschland reüssiert. Er wurde als Fußballer voll anerkannt, gehörte zur Nationalmannschaft, ist Träger des Bambis für Integration 2010. Und so weit ich mich erinnere, hat er bis zum letzten Sonntag nicht über Diskriminierung in Deutschland geklagt. Wenn er diskriminierende Erfahrungen gemacht hat - und er hat sie bestimmt hier und da gemacht -, dann hat er sie weggesteckt und einfach "sein Ding" durchgezogen. Jedenfalls schien er kein Interesse daran zu haben, in die Rolle des Opfers zu schlüpfen - was auch eigentlich für einen Nationalspieler und Multimillionär nicht sehr glaubwürdig ist.

Diese Karte hat er erst gespielt, als er selbst in der Kritik stand, und zwar um von seinem Fehler abzulenken und um sein Image bei den Fußballfans aufzupolieren. Das ist ihm gelungen. Jetzt ist er der Held der Erniedrigten und Beleidigten... :-)

Und auch Du tutest ins gleiche Horn. Ich, als einer der Özil-Kritiker soll nun solche Fragen beantworten. Als gehörte ich zum fremdenfeindlichen Mob, der Özil und allen Deutschtürken noch nie über den Weg getraut und diese Multikuliti-Truppe mit ihren Khediras, Podolskis, Boatengs usw. noch nie als deutsche Nationalmannschaft anerkannt hat.




Hermeneuticus
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So 29. Jul 2018, 16:16

Tommy hat geschrieben :
So 29. Jul 2018, 15:48
Er schreibt dann aber auch, dass er nur solange als Deutscher angesehen und akzeptiert war, wie er in und mit der Nationalmannschaft erfolgreich war.
Auch das ist tendenziös. Es gibt sicherlich viele, für die die Erdogan-Affäre ein gefundenes Fressen ist. die gespannt auf jeden Vorfall lauern, der ihre generellen Vorurteile zu bestätigen scheint. - Aber zu denen gehöre ich nicht. Ich habe auch nicht Özils Status als Deutscher angezweifelt. Aber er selbst hat Zweifel an seiner Loyalität zum demokratischen Deutschland gesät, als er Erdogan als "seinen Präsidenten" ehrte. Und genau davon will Özil mit seinen Angriffen ablenken.

So, wie offenbar viele Deutschtürken mit der öffentlichen Opferrolle gern davon ablenken, dass sie selbst deutsch- und europafeindlich gesonnen sind. Siehe dazu Tuba Sarica, die die deutschtürkische Community (und darin die "Parallelgesellschaft") bestens kennt.

Und das führt auch schon zu einer Teilantwort auf Deine Frage: Wer als Deutscher anerkannt sein will, sollte nicht heimlich oder offen deutschfeindlich sein, sollte sich mit Deutschland und seiner demokratischen Verfassung identifizieren können und nicht mit der Rolle als Diskriminierungsopfer sich von den Anstrengungen der Integration dispensieren.




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So 29. Jul 2018, 17:15

Tommy hat geschrieben :
So 29. Jul 2018, 16:46
Aber wieso hat dann Herr Matthäus keinen Zweifel an seiner "Loyalität zum demokratischen Deutschland" gesät, als er mit dem russischen Staatschef dinierte und sich öffentlich Arm in Arm mit ihm gezeigt hat?
Meines Wissens hat er Putin nicht als "seinen Präsidenten" bezeichnet.
Matthäus hat dieses Verhalten sogar fast haargenau so begründet wie Özil, nämlich mit familiären Bindungen:

Matthäus schilderte Putin seine besondere Beziehung zu Russland. „Ich bin halber Russe“, sagte er und berichtete, seine Frau stamme „aus dem Norden, aber sie ist in Moskau aufgewachsen“. Matthäus ist seit 2014 mit Anastasia Klimko verheiratet, sie kommt aus einer Kleinstadt in Nordsibirien. „Ich fühle mich hier zu Hause“, sagte Matthäus über Moskau, „nicht nur wegen meiner Frau. Ich komme immer mit einem Lächeln hierher.“
Nun ja, er war isngesamt mit 5 Frauen unterschiedlicher Nationalitäten verheiratet. Bei ihm darf mal wohl sagen, er sei jetzt halt in seiner "russischen Phase", aber das gehe vorüber... :D
Warum schlägt das bei Özil solche Wellen?
Erinnerst Du Dich nicht an letztes Jahr, als Erdogan und seine Minister Deutschland aufs Übelbste beschimpften? Als Bundestagsabgeordnete nicht in die Türkei einreisen durften? Als zwei Drittel der wahlberechtigten Deutschtürken für Erdogan stimmten? - Es ist insgesamt Erdogans Politik, die Deutschtürken gegen Deutschland aufzuwiegeln; er verlangt von ihnen, sich nicht zu assimilieren usw. - und hat damit offenbar auch Erfolg. Und das ist vielen Deutschen noch in guter Erinnerung.

Was mich betrifft, so finde ich das alles ziemlich bedenklich - sowohl Erdogans Politik in Deutschland, als auch den Anklang, den er bei den Deutschtürken findet. Und dass dann ausgerechnet Mitglieder der deutschen Nationalmannschaft Erdogan - auch noch im Wahlkampf! - als "ihren Präsidenten" ehren, ist schon ein starkes Stück.



Präzisiere mal "deutsch- und europafeindlich"
Dazu lies mal bei Tuba Sarica nach!




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proximus
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So 29. Jul 2018, 19:02

Tommy hat geschrieben : Und ich finde das um so schlimmer, als dass Özil ja eigentlich Deutscher (für mich ist er eigentlich kein Ausländer) ist.
Er ist deutsch.
Du bist dir nicht sicher ?



""Wahrheit" ist immer nur theoretisch." proximus

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proximus
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Mo 30. Jul 2018, 08:29

Er ist in Deutschland geboren und hat die deutsche Staatsangehörigkeit.
"deutsch" ist für dich , in Deutschland geboren zu sein und die deutsche Staatsbürgerschaft zu haben ?



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Hermeneuticus
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Mo 30. Jul 2018, 08:50

"Deutsch" lässt sich verschieden verstehen, nämlich in einem rechtlichen und einem kulturellen Sinne. Im rechtlichen Sinne ist deutsch, wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt bzw. was im deutschen Staatsgebiet liegt.

Im kulturellen Sinne ist deutsch, wer oder was zum deutschen Kulturraum gehört. Letzteres ist allerdings ein sehr weiches Kriterium, von dem man jegliche rechtliche Bedeutung fernhalten sollte. Sonst landet man womöglich bei der Forderung, Österreich, das Elsass oder die deutschsprachige Schweiz seien eigentlich dem deutschen Staatsgebiet einzuverleiben. Oder bei der Forderung, alle "kulturfremden" deutschen Staatsbürger seien konsequent auszubürgern. Oder auch: Gewisse Teile Düsseldorfs gehörten eigentlich zu Japan und gewisse Teile Duisburgs zur Türkei. (Wer nur ein wenig bei Verstand ist, will das nicht.) ;)

Es scheint auch noch Leute zu geben, die "deutsch" irgendwie genetisch verstehen wollen, aber damit betreten sie vollends das Reich des Mythischen.




Hermeneuticus
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Di 31. Jul 2018, 09:46

Tommy hat geschrieben :
Mo 30. Jul 2018, 16:54
Wahrscheinlich ist dieses ganze Naionalitäten-Zeugs von Grund auf fehlerhaft.
Ich würde eher sagen, die Orientierung an Nationalitäten, die im 19. Jahrhundert ihre - fragwürdige - "Blüte" hatte, wird den heutigen, komplexeren Verhältnissen nicht mehr gerecht. Zwar klammern sich noch viele Menschen daran, aber sie werden unweigerlich die Erfahrung machen, dass sie damit nicht durchkommen. Sie werden lernen müssen, dass die Zugehörigkeit zu einer "Nation" oder zu einer bestimmten Kultur zu relativieren ist, und zwar durch eine inter-nationale und inter-kulturelle Perspektive. Und das ist die Perspektive des Rechts, das nämlich im Kern nichts anderes ist als eine Instanz der überparteilichen, friedlichen Konfliktbewältigung.

Zur Zeit scheinen zwar weltweit die eher national orientierten Parteien und Politiker einen Aufschwung zu erleben. Aber auch sie können den faktischen internationalen Verflechtungen nicht entgehen. Die sind stärker als ihr trotzköpfiges Aufbegehren dagegen. Das werden sie sehr bald erleben, wenn sie versuchen, eine nationalistische Politik zu realisieren. - Sollte z.B. Donald Trump es wirklich auf ein ökonomisches Kräftemessen ankommen lassen und die europäischen und asiatischen Staaten dazu zwingen, Ernst zu machen, wird er kläglich scheitern. Die bräuchten z.B. nur ihre amerikanischen Staatsanleihen abzustoßen und ihre Geschäfte nicht mehr in Dollar abzurechnen, und schon würde für alle Welt klar werden, auf welch tönernen Füßen die US-amerikanische Ökonomie steht. Trump würde einfach weggespült werden. - Ähnlich verhält es sich auch mit Polen und Ungarn. Sollte die EU sich gezwungen sehen, ernsthafte Maßnahmen gegen deren nationalistische Politik zu ergreifen, würden dort auch die nationalen Verhältnisse rasch zurechtgerückt werden. - Dieses nationalistische Getöse ist im Grunde nichts weiter als ein Theaterdonner von Politikschauspielern, die noch einmal groß auftrumpfen wollen. Man kann internationale Abhängigkeiten nicht durch Referenden, Dekrete oder Parlamentsbeschlüsse abschaffen.

Aber, wird man einwenden, die Leute! Die Leute auf der Straße, die bräuchten doch eine nationale Identität, in deren Schutz sie sich heimisch und sicher fühlen könnten - so wie in den guten alten Zeiten, als Frankreich noch der Erbfeind und England das perfide Albion waren, als die deutsche Frau noch gehorchte und schwach wurde beim Anblick echter Kerle in betressten Uniformen und Pickelhauben... Nun, sollen sie es doch mal damit versuchen. Sie werden rasch erfahren, dass eine solche Identität nicht mehr ist als eine ideologische Blase, die an den über sie hereinbrechenden Unsicherheiten zerplatzt. Wenn sich eine Ideologie überlebt hat, hilft alles Gezeter nichts.

Kann gut sein, dass viele Menschen diese Erfahrung erst noch am eigenen Leibe machen müssen, ehe sich Einsicht durchsetzt. Kann sogar sein, dass dann der Menschheit gar keine Zeit mehr bleibt, um die Früchte der Einsicht zu genießen. Aber es wird kein Weg daran vorbei geben.




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Di 31. Jul 2018, 10:51

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 29. Jul 2018, 14:02
Es ist meines Erachtens einfach wichtig, festzuhalten, dass es sowas wie "biodeutsch sein" oder was auch immer nicht gibt.
Tommy hat geschrieben :
Mo 30. Jul 2018, 16:54
Wahrscheinlich ist dieses ganze Nationalitäten-Zeugs von Grund auf fehlerhaft.
Das sind beides Wünsch' dir was-Haltungen.
Tatsächlich gibt es das für etliche Menschen und die finden das auch sehr wichtig.
Hermeneuticus hat das auf dem Schirm, wenn er schreibt:
Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 09:46
Aber, wird man einwenden, die Leute! Die Leute auf der Straße, die bräuchten doch eine nationale Identität, in deren Schutz sie sich heimisch und sicher fühlen könnten - so wie in den guten alten Zeiten, als Frankreich noch der Erbfeind und England das perfide Albion waren, als die deutsche Frau noch gehorchte und schwach wurde beim Anblick echter Kerle in betressten Uniformen und Pickelhauben... Nun, sollen sie es doch mal damit versuchen. Sie werden rasch erfahren, dass eine solche Identität nicht mehr ist als eine ideologische Blase, die an den über sie hereinbrechenden Unsicherheiten zerplatzt. Wenn sich eine Ideologie überlebt hat, hilft alles Gezeter nichts.
Wenn man schon die Frage wie deutsch nun jemand ist und woran man das eigentlich erkennen kann nicht klären kann, so könnte die mir vorschwebende breite Debatte über Moral immerhin klären, was wir denn als Volldeutsche bis Zwölfteldeutsche, oder einfach als Menschen die hier leben, wechselseitig voneinander erwarten. M.E. muss man aus der nationalen oder kulturellen Identität weder in die eine, noch in die andere Richtung einen Fetisch machen muss.
Otto Kernberg hat geschrieben : „Vamik Volkan (1999) hat dargelegt, wie nationale Identität schon früh in die individuelle Ich-Identität durch Sprache, Kunst, Sitten und Gebräuche, Speisen und vor allem transgenerationale Weitergabe von Narrativen historischer Triumphe und Traumata als Teil eines gemeinsamen Kulturguts eingewoben wird. Die individuelle Vielfalt der Menschen, die sich im Umfeld des Kindes und jungen Erwachsenen bewegen und die durch gemeinsame kulturelle Traditionen verbunden sind, trägt so zur Stärkung der Ich-Identität bei: Die Beziehung zu unterschiedlichsten Objekten lässt unterschiedlichste Selbstrepräsentanzen entstehen, die über gemeinsame Merkmale verbunden sind und die im Zuge der Entwicklung von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position integriert werden müssen.“
(Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 330)


Kulturelle und damit auch nationale Identität sind ein integraler Bestandteil der Ich-Identität, je breiter das Ich hier aufgestellt ist und auf andere Rollen und Quellen Zugriff hat, die eine stabile Ich-Identität halbwegs sichern, umso besser. Wie man sich dann ggf. in der Frage von Herkunft und Nation positioniert ist eher nebedächlich. Regressiven Zeiten gehen mit einem allgemeinen Werte- und damit auch Identifikationsverlust einher, dann und darum werden spezifische Bausteine zu allentscheidenden Kriterien aufgepumpt.

Kultur ist aber auch die Frage des Umgangs miteinader. Uns Mitteleuropäern ist unser Eurozentrismus so sehr ins Blut übergegangen, dass wir uns verwundert die Augen reiben, wenn die, die "einfach noch nicht so weit sind" auf unsere Werte pfeifen, die wir doch so gerne weltweit exportieren möchten.
Hier offenbart sich leider allzu oft der performative Widerspruch, dass wir irgendwas, was wir oberflächlich unter Pluralismus subsumieren für die beste aller Versionen des Zusammenlebens halten, wert, dass alle ihn ebenfalls leben sollten, gleichzeitig aber diesen Pluralismus überhäufig so interpretieren, dass es überhaupt keine an sich überlegene Perspektive geben soll und darf.
Der größte Teil der Hysterie beruht auf einer fundamentalen und selbst gebastelten Desorientierung. Wir haben es geschafft so ziemlich sämtliche identitätsstiftende Kulturtechniken zu diskreditieren und/oder weitreichend abzuschaffen*.
Übrig bleibt eine wachsende Ich-Schwäche, in der das kompensatorisch installierte Größen-Selbst mit bestimmten Kriterien verschmilzt in dem es sie idealisiert und diejenigen, die ihnen dann nicht gehorchen, entwertet. Wie deutsch, wie religiös, wie atheistisch, wie multikulti, wie bio was auch immer man ist, wird dann ungeheuer bedeutend, weil zur allüberragenden identitätsstiftenden Eigenschaft.

* Vielleicht mit Ausnahme der Arbeit.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Di 31. Jul 2018, 13:00

@ 'Tommy'

Kannst Du mir die rote Linie in Deiner Antwort noch mal in zwei, drei Sätzen erläutern?
Danke.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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proximus
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Di 31. Jul 2018, 14:53

Jetzt im Alter finde ich es gut, einem sozialen Rechtsstaat anzugehören, der mich schützt und versorgt.
Die Kultur dieses Staates finde ich bedenkenswert.
Und ein globaler Kapitalismus , mit monokulturellen Auswirkungen finde ich nicht gut.
Ein globaler Staat ohne Unterintitutionen wird nicht dauern.



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Di 31. Jul 2018, 16:31

Tosa Inu hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 10:51
Kulturelle und damit auch nationale Identität sind ein integraler Bestandteil der Ich-Identität, je breiter das Ich hier aufgestellt ist und auf andere Rollen und Quellen Zugriff hat, die eine stabile Ich-Identität halbwegs sichern, umso besser. Wie man sich dann ggf. in der Frage von Herkunft und Nation positioniert ist eher nebedächlich. Regressiven Zeiten gehen mit einem allgemeinen Werte- und damit auch Identifikationsverlust einher, dann und darum werden spezifische Bausteine zu allentscheidenden Kriterien aufgepumpt.
So weit kann ich Dir folgen. Wer eine stabile - und das heißt ja: dynamisch vernetzte und anpassungsfähige - personale Identität ausgebildet hat, der wird es gar nicht nötig haben, sich an ein Element zu klammern und sich mit seiner Hilfe gegen alles Fremde abzuschotten.
Kultur ist aber auch die Frage des Umgangs miteinader. Uns Mitteleuropäern ist unser Eurozentrismus so sehr ins Blut übergegangen, dass wir uns verwundert die Augen reiben, wenn die, die "einfach noch nicht so weit sind" auf unsere Werte pfeifen, die wir doch so gerne weltweit exportieren möchten.
Jetzt fängst Du aber an, gegen unsere kulturelle Identität zu stänkern. Redest abfällig von "Eurozentrismus" und "Pluralismus". - Die Menschen, aus denen sich die "Flüchtlingsströme" zusammensetzen, scheinen doch genau zu wissen, warum sie lieber in Europa leben möchten als in Afrika oder dem Nahen Osten. (Ich erinnere mich da immer noch sehr klar an die Stimme einer syrischen Frau, die 2915 von einem deutschen Reporter befragt wurde, der auf einem Flüchtlingsboot mitfuhr: Sie wollten am liebsten nach Deutschland, weil dort die Menschenrechte geachtet würden. Das hat mich sehr berührt.) - Also, die Migranten "pfeifen" ganz bestimmt nicht auf unsere Werte, sonst würden sie nicht zu uns kommen.
Hier offenbart sich leider allzu oft der performative Widerspruch, dass wir irgendwas, was wir oberflächlich unter Pluralismus subsumieren für die beste aller Versionen des Zusammenlebens halten, wert, dass alle ihn ebenfalls leben sollten, gleichzeitig aber diesen Pluralismus überhäufig so interpretieren, dass es überhaupt keine an sich überlegene Perspektive geben soll und darf.
Kannst Du mal erläutern, wie ein nicht-oberflächlicher, wohlverstandener Pluralismus aussieht?

Nach meinem Verständnis IST nämlich der Pluralismus die "überlegene Perspektive", aus der allein sich das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen und Nationen friedlich-schiedlich vermitteln lässt. Es ist die Perspektive des "weltanschaulich neutralen", weil überparteilichen Rechts.




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Friederike
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Mi 1. Aug 2018, 07:26

Der Verein, für den ich arbeite, spricht neuerdings nur noch von "Geflüchteten". Ich finde den geänderten Terminus gut, weil er mE. den Umstand des Erleidens deutlicher transportiert als das Wort "Flüchtlinge".
Dies nur nebenbei, weil es mir beim Lesen des Wortes "Flüchtlingsströme" einfällt.




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Mi 1. Aug 2018, 08:38

Tommy hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 13:20
Und ich muss Dir auch noch in einem anderen Punkt widersprechen und der betrifft Dein Verständnis der menschlichen Psyche als unflexibles Gebilde.
So sehe ich den Menschen nicht.
Wenn es Dich berühigt: Ich auch nicht.
Tommy hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 13:20
Wir können uns anpassen und wir können Neues dazulernen. Entweder aus freien Stücken aber auch einfach weil es notwendig ist, weil uns die Gegebenheiten dazu zwingen.
Denn die Vorteile der Globalisierung wollen ja die meisten. Die sind aber nicht zu haben ohne fundamentale Änderungen. Das schliesst auch Änderungen im Denken mit ein.
Das Konzept "Nationalität" ist überholt. ...
Und Letzteres ist auch das was uns Menschen auszeichnet. Notwendigkeiten einzusehen. Mit Veränderungen umgehen können.
Der Wandel in unserer Zeit ist schliesslich nicht der erste Wandel den wir erleben.
Klar können wir uns gut anpassen, die Frage ist, ob wir es sollten.
Was die fehlenden rote Linie angeht, kam es mir komisch vor, dass ausgerechnet Du, der Du den Widerstand zum Lebensprinzip erhoben hast, das Lied der Anpassung singst, weil ja an sich alles bombig ist, der Rest eben Wachstumsschmerzen, die vorbei gehen.

Rassisten und Nationalisten sind für Dich dann einfach Menschen, die nicht erkennen wollen und können, was die Stunde geschlagen hat und wie gut es ums geht.
Ich bin der Auffassung, dass es gute Gründe gibt, viele Entwicklungen kritisch zu sehen und ich glaube, dass Menschen bei ihrer Identifikation auch etwas zum Anfassen brauchen, was nahe ist, um sie herum. Schnelles Internet und 'Wir sind doch alle Menchen' oder 'Die gemeinsame Idee Europa' reißt niemanden von den Sitzen und wenn die Zeiten so regressiv bleiben, ist das für weitere Jahrzehnte ausgeschlossen.

Ist aber eine Diskussion, die in eine andere Richtung geht, als die Diskussion im Umfeld um Özil.



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Mi 1. Aug 2018, 08:55

Friederike hat geschrieben : Der Verein, für den ich arbeite, spricht neuerdings nur noch von "Geflüchteten". Ich finde den geänderten Terminus gut, weil er mE. den Umstand des Erleidens deutlicher transportiert als das Wort "Flüchtlinge".
Für mich ist der "Geflüchtete" nicht mehr auf der Flucht und Özil kein "Geflüchteter".



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Mi 1. Aug 2018, 09:18

Tosa Inu hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 10:51
Kulturelle und damit auch nationale Identität sind ein integraler Bestandteil der Ich-Identität, je breiter das Ich hier aufgestellt ist und auf andere Rollen und Quellen Zugriff hat, die eine stabile Ich-Identität halbwegs sichern, umso besser.
Noch mal: volle Zustimmung! Aber man muss sich wohl auch von der Vorstellung verabschieden, als sei die kulturelle oder nationale Identität ein homogenes Ganzes, das sich glasklar gegen andere, konkurrierende Identitäten absetzen ließe. Schaut man genauer hin, setzt sich die kulturelle Identität eines in Europa heranwachsenden Kindes aus vielen heterogenen Elementen zusammen. Und je mehr "Bildung" das Kind aufnimmt, desto vielfältiger ist seine kulturelle Identität vernetzt. Was man so "Kultur" nennt, ist - und war schon seit der Antike - immer ein Produkt des interkulturellen Austauschs. Wollte man z.B. eine genuin deutsche Kultur herausarbeiten, von der alles "Kulturfremde" abzusondern wäre, so würde man mit Gewalt einen Popanz konstruieren, den es nie gegeben hat. Die "natürlich gewachsene" Kultur eines Volkes ist in Wahrheit immer ein Produkt interkultureller Lernprozesse (wobei man sich diese Lernprozesse natürlich nicht bloß friedlich und harmonisch vorstellen darf.) Das gilt - in Europa allemal - sogar für seine Sprache und erst recht für seine genetische Zusammensetzung.

Wenn ich mir z.B. überlege, was meine eigene kulturelle Identität ausmacht oder welche kulturellen Erfahrungen mich in meiner Kindheit und Jugend entscheidend beeinflusst haben, kommt ein buntes Sammelsurium heraus, ohne viel Rücksicht auf "hoch" und "niedrig" und auf nationale Grenzen. Meine kulturelle Identität ist von Grund auf "multikulti". Ich mag mir gar nicht vorstellen, was für ein Mensch ich wäre, wenn meine Bildungserlebnisse sich nur auf genuin deutsche Kulturgüter beschränkt hätten. :D

Also, man muss sich wohl hüten, den Begriff der "Identität" - in Zusammensetzungen wie "personale I.", "kulturelle I." und "nationale I." - irgendwie homogen oder gar monolithisch zu verstehen. Mir scheint vielmehr, dass die Vorstellung einer homogenen Kultur oder Identität illusionär und regressiv ist.




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Mi 1. Aug 2018, 10:20

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mi 1. Aug 2018, 09:18
Noch mal: volle Zustimmung!
Könnte man sich nicht auch als Weltbürger fühlen und das zum Teil der "Ich"-Identität machen? Damit sind ja viele kleinere "Identitäts-Zirkel" nicht außen vor. Also: Familie, Freundeskreis, Sport, Hobby, Arbeit, etc.?




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Alethos
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Mi 1. Aug 2018, 10:47

Und was spricht gegen eine regional lokalisierte Verwurzelung der Selbstidentität? Man kann sich doch genau so gut zu den Wallisern zählen und aus dieser Verortung Kraft schöpfen wie aus der Idee, zu einem Weltbürgertum zu zählen?

Denn was ist das Weltbürgertum eigentlich? Handelt es sich dabei nicht einfach um einen als vereinheitlicht gedachte Zugehörigkeit zu einem Ganzen und damit eine das Nahe, Lokale und Individuelle so sehr verallgemeinernde Identifizierung, dass man das Heimische darin gar nicht verorten kann?

Ich habe sehr wohl Verständnis dafür, dass man das Heimische auch als heimisch empfindet und bewahren will. Ich habe selbstverständlich die grösste Abneigung gegen rechtsnationalistisches Gedankengut, aber nicht jeder, der seine Heimat schätzt, sie auch in dieser Form möglichst bewahren will, ist denn auch nationalistisch. Für den Walliser steht nicht das Schweizersein im Vordergrund, sondern das Wallisersein, vielleicht sogar das Sittenersein und nicht das Brigersein (Sitten und Brig sind Orte im Wallis).



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

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Mi 1. Aug 2018, 11:29

Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 16:31
Wer eine stabile - und das heißt ja: dynamisch vernetzte und anpassungsfähige - personale Identität ausgebildet hat, der wird es gar nicht nötig haben, sich an ein Element zu klammern und sich mit seiner Hilfe gegen alles Fremde abzuschotten.
Ja. Es gibt da keine letzte Sicherheit, aber immerhin einen sicheren Trend.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 16:31
Jetzt fängst Du aber an, gegen unsere kulturelle Identität zu stänkern. Redest abfällig von "Eurozentrismus" und "Pluralismus". - Die Menschen, aus denen sich die "Flüchtlingsströme" zusammensetzen, scheinen doch genau zu wissen, warum sie lieber in Europa leben möchten als in Afrika oder dem Nahen Osten.
Natürlich und das ist ein bunter Strauß und nicht ein Motiv. Von Klischeeflüchtling der Linken, wie der Rechten ist alles dabei und statt pauschale Aussagen über "die Flüchtlinge" zu treffen, sollte man per Einwanderungsgesetz regeln und sich zuvor selbst Klarheit verschaffen, wen man hier haben möchte und wen nicht. Jenseits und diesseits dieser rechtlichen Regelung wäre eine breite Diskussion über unsere gewünschten Umgnag miteinander sinnvoll. Im Idealfall geht diese einem Einwanderungsgesetz voraus und die Diskusergebnisse spiegeln sich darin.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 16:31
Also, die Migranten "pfeifen" ganz bestimmt nicht auf unsere Werte, sonst würden sie nicht zu uns kommen.

Die meisten Migranten werden unsere Werte schon deshalb nicht kennen, weil wir unsere Werte auch nicht kennen. Die stillschweigenden Grenzen des Sag- und Machbaren sind immer mehr verändert worden, gerade aufgrund einer kühlen Ignoranz in der Gesellschaft, die besser klingt, wenn man sie Toleranz nennt, aber letztlich in der Überzahl ein Desinteresse am anderen ist.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 16:31
Kannst Du mal erläutern, wie ein nicht-oberflächlicher, wohlverstandener Pluralismus aussieht?

Nach meinem Verständnis IST nämlich der Pluralismus die "überlegene Perspektive", aus der allein sich das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen und Nationen friedlich-schiedlich vermitteln lässt. Es ist die Perspektive des "weltanschaulich neutralen", weil überparteilichen Rechts.
Den Rechtsstaat als größten gemeinsamen Nenner haben wir ja und der ist ja auch nicht gefährdet. Nur offensichtlich reicht dieser nicht aus, denn diesen Rekurs auf gemeinsames Recht und eine Erosion sonstiger verbindender Elemente, Institutionen und Praktiken kennzeichnet ja gerade die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Und das alle total zufrieden sind und wir in entspannten Zeiten leben, kann man zwar behaupten, aber schwer belegen.

Pluralismus ist nur ein Wort, es muss ausbuchstabiert werden, was jeweils darunter verstanden werden soll. Eine naive 'Wir sind doch alle Menschen' Haltung trägt, wenn sie ohne Erläuterung dessen, was damit gemeint ist daher kommt, gerade so lange, bis der Wind dreht. Wir können uns in der Tat sehr gut anpassen, das gilt besonders für jene Opportunisten, die sich eben in jeder Situation gut einrichten können.
Mit denen ist allerdings kein Staat zu machen, weil es ihnen an eigenen Überzeugungen fehlt. Den Pluralisten Schuh ziehen sie sich gerne an, weil die Marke gerade populär ist.

Ein wohlverstandener Pluralismus will nicht, dass möglichst niemand die eigene Komfortzone ankratzt, sondern erkennt und respektiert, dass andere eben tatsächlich anders sind, andere Vorstellungen haben und suggeriert nicht, dass doch im tiefsten Herzen jeder Mensch gut ist und alle Menschen das gleiche wollen. Das ist die weitaus verbreitetere oberflächlich-narzisstische Variante des Pluralismus, die Toleranz als "Sollen alle machen, was sie wollen, Hauptsache ich muss mich nicht drum kümmern" interpretiert. So wurden in schönster Willkür mit dem Exotenbonus versehen, genau jene Sichtweisen als so schön, lustig und bunt durchgewunken, die man im eigenen Milieu nicht im Traum geduldet hätte.
Anders gesagt, der Respekt vor dem anderen muss auch Grenzen haben und nun kann man wieder sagen: "Ham wa doch, die markiert der Rechtsstaat." Diese Position hat ironischerweise sogar noch einen subtilen Rassismus im Rucksack, weil sie suggeriert, dass der andere stets der vitale, eventaffine Congaspieler mit lecker Essen ist, der ein wenig Pepp in unseren bürokatiedurchzogenen Alltag bringt. Auf die Idee, dass es auch bauernschlaue bis hochintelligente Individuen und Organisationen gibt, die jede Gesetzeslücke ausnutzen, weil ja erlaubt ist, was nicht verboten ist und jede moralische Intervention mit dem "Du Nazi"-Trumpf stechen, kommen viele jener 'Pluralisten' nicht, deren Leben ein bisschen bunter wird, weil sie doch mit allen immer so gut klar kommen.

Da wir hier ja philosophisch ambitioniert sind, sollte man sich überlegen, wie die Grenzen die wir setzen könnten denn eigentlich zu rechtfertigen sind. Wer mit Regionormen argumentiert und sagt, dass das bei uns eben so ist, bumm, fertig, der muss auch akzeptieren, dass es woanders anders ist, was einer reinen Machtoption entspricht. Die eigene Haltung ist dann im schlechtesten Fall eine taktisches Kakül, der Art, dass es zwar nicht so gut aussieht, aber bis man stirbt, die Wahrscheinlichkeit, dass es einen selbst trifft, doch gering ist, auf unserer Insel der Seligen in Europa.
Und nein, ich lästere nicht über unsere Sicht, ich bin hier sozialisiert, finde den europäischen Sonderfall ausgesprochen gut und halte es in der Tat für lohnend, dass viele europäische Werte überleben, auch wenn Europa deutlich an Einfluss verliert. Wir wollten der Idee, dass beliebige Werte zu setzen eine reine Machtfrage sei eigentlich eine Absage erteilen, der Rekurs auf Regionormen ist allerdings einer auf Macht. Wir machen es so, die anders, da bekommt die Sorge vor 'Überfremdung' noch mal eine ganz andere Wucht, als der Kampf um Wohnraum und Sozialzuschüsse zwischen Prekariern und Flüchtlingen, der die Bionade-Fraktion nicht im geringsten juckt, da er sie nicht betrifft.
Wenn man die besten Werte Europas tatsächlich bewahren und exportieren will, dann muss man darstellen und darstellen können, was an ihnen denn gut, schützenswert und immer noch zukunftsweisend ist. Mit anderen Worten besser, als das was es in vielen anderen Regionen der Welt gibt. Die Irrläufer und Überziehungen der letzten Zeit kann man ja korrigieren, aber für diesen Ansatz müsste man dazu stehen, dass es besser und schlechter nicht nur irgendwie gibt, sondern genau benennen, was, warum so gilt. Mit der pathologischen Angst vor Hierarchien, die man, weil theoretisch unbedarft, stets mit Faschismus gleich setzt, ist da allerdings auch unter reiferen Pluralisten selten was zu holen. Ihr performativer Selbstwiderspruch besteht darin, dass die sich durchaus noch irgendwo bewusst sind, dass sie von einer reiferen Warte aus die Welt sehen, zugleich Hierarchien ablehnen und bekämpfen. Dann sind sie gezwungen eine frühkindliche Unfähigkeit zur Bildung von Klassen als reinen, unverbildeten Naturzustand zu verklären, Ignoranz als Toleranz zu verkaufen und für die einseztende Erkenntnis, dass doch nicht immer alle nur lieb sind, kreiert man den Neoliberalismus als billiges und plattes Feinbild.
Die betörende Idee, dass wir doch zuallererst allesamt Menschen sind geht gerade im Mittelmeer baden. Warum sich denn keiner empört, wo wir doch in den letzten Jahren so emrörungstrainiert sind, wird verwundert gefragt. Nun, vielleicht, weil die Rede sich nun als das erweist, was die Kritiker dem unreifen Pluralismus stets anlastete: dass er vorwiegend auf Sand, in Form von Lippenbekenntnissen, gebaut hat. Eine pseudomoralische Wellness-Haltung, die, wenn sie zerstört wird, niemandem den Schlaf raubt, aber wehe man hat mal irgendwo kein schnelles W-LAN.

Das ist natürlich notgedrungen eine etwas klischeehafte Skizze, überwiegend bezogen auf die Spielarten des Pluralismus, aber danach hast Du ja gefragt.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Tosa Inu
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Mi 1. Aug 2018, 09:18
Tosa Inu hat geschrieben :
Di 31. Jul 2018, 10:51
Kulturelle und damit auch nationale Identität sind ein integraler Bestandteil der Ich-Identität, je breiter das Ich hier aufgestellt ist und auf andere Rollen und Quellen Zugriff hat, die eine stabile Ich-Identität halbwegs sichern, umso besser.
Noch mal: volle Zustimmung! Aber man muss sich wohl auch von der Vorstellung verabschieden, als sei die kulturelle oder nationale Identität ein homogenes Ganzes, das sich glasklar gegen andere, konkurrierende Identitäten absetzen ließe. Schaut man genauer hin, setzt sich die kulturelle Identität eines in Europa heranwachsenden Kindes aus vielen heterogenen Elementen zusammen. Und je mehr "Bildung" das Kind aufnimmt, desto vielfältiger ist seine kulturelle Identität vernetzt. Was man so "Kultur" nennt, ist - und war schon seit der Antike - immer ein Produkt des interkulturellen Austauschs. Wollte man z.B. eine genuin deutsche Kultur herausarbeiten, von der alles "Kulturfremde" abzusondern wäre, so würde man mit Gewalt einen Popanz konstruieren, den es nie gegeben hat. Die "natürlich gewachsene" Kultur eines Volkes ist in Wahrheit immer ein Produkt interkultureller Lernprozesse (wobei man sich diese Lernprozesse natürlich nicht bloß friedlich und harmonisch vorstellen darf.) Das gilt - in Europa allemal - sogar für seine Sprache und erst recht für seine genetische Zusammensetzung.
Ja, auch von meiner Seite volle Zustimmung zu Deiner Position.
Du beschreibst in Deinen Worten das, was ich meine. Man kann sich problemlos aus Deutscher, Ruhrgebietler, Europäer und vielleicht sogar Weltbürger oder sogar 'zu aller erst' Mensch, bezeichen - denk an Brandoms erstes Kapitel - wenn die Identität breit aufgestellt und tief verwurzelt ist. Nur breit reicht auch nicht.

Was vielleicht ungeheuer schwer klingt, ist aber nicht schwer, sondern markiert eine Position, die wir schon erreicht hatten, in Deutschland, doch diese Position gerät derzeit wieder etwas ins Hintertreffen. Mich interessiert die Analyse, warum das so ist, deutlich mehr, als hektische Flickversuche.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Mi 1. Aug 2018, 09:18
Wenn ich mir z.B. überlege, was meine eigene kulturelle Identität ausmacht oder welche kulturellen Erfahrungen mich in meiner Kindheit und Jugend entscheidend beeinflusst haben, kommt ein buntes Sammelsurium heraus, ohne viel Rücksicht auf "hoch" und "niedrig" und auf nationale Grenzen. Meine kulturelle Identität ist von Grund auf "multikulti". Ich mag mir gar nicht vorstellen, was für ein Mensch ich wäre, wenn meine Bildungserlebnisse sich nur auf genuin deutsche Kulturgüter beschränkt hätten. :D

Also, man muss sich wohl hüten, den Begriff der "Identität" - in Zusammensetzungen wie "personale I.", "kulturelle I." und "nationale I." - irgendwie homogen oder gar monolithisch zu verstehen. Mir scheint vielmehr, dass die Vorstellung einer homogenen Kultur oder Identität illusionär und regressiv ist.
Finde ich nicht, nur die Fokussierung darauf, dass man Deutscher ist (wenigstens das). Wenn man sonst wenig hat, auf das man stolz sein kann ...
Ich-Identität setzt sich aus familiären, nationalen, regionalen, kulterellen Wurzeln zusammen, so wie in der Fähigkeit sich und andere als ganze Menschen mit alle ihrer Widersprüchen zu sehen und das was man sieht tolerieren zu können, sowie aus der Fähigkeit sich einem Wertesystem zu verpflichten, das nicht sadistisch oder messiansich ist, sondern die erstrebenswerte Entwifklung zur reifen Individuierung schützt und unterstützt.
Wenn man nebenher noch vermeidet, sein Bildungsbürgertum zu snobistisch erscheinen zu lassen, seine Schrullen und Beklopptheiten pflegt und die anderer mit dieser Mischung aus liebevoller Zuneigung, Verwunderung und subtiler Kritik darstellen kann, wie Spitzweg das in seinen Milieustudien gelungen ist, wäre das ganz nach meinem Geschmack.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Alethos hat geschrieben :
Mi 1. Aug 2018, 10:47
Ich habe sehr wohl Verständnis dafür, dass man das Heimische auch als heimisch empfindet und bewahren will. Ich habe selbstverständlich die grösste Abneigung gegen rechtsnationalistisches Gedankengut, aber nicht jeder, der seine Heimat schätzt, sie auch in dieser Form möglichst bewahren will, ist denn auch nationalistisch. Für den Walliser steht nicht das Schweizersein im Vordergrund, sondern das Wallisersein, vielleicht sogar das Sittenersein und nicht das Brigersein (Sitten und Brig sind Orte im Wallis).
Ganz meine Meinung.
Nur müssen wir die Idee aus dem Kopf bekommen, dass eine Verwurzelung und Identifikation in einer Heimat, in welchem regionalen Radius auch immer - ich bin auch eher stadtteil- als stadtverwurzelt - automatisch bedeutet, dass man alle und alles andere automatisch hasst oder verachtet.

Das implizitert auch die Vorstellung, dass Heimat durchaus nicht nur ein soziogeographsicher Begriff sein muss. Man kann sich auch in der Musik, Philosophie oder in seiner Eigenschaft als Weltreisender heimisch fühlen.

Bezogen auf die Ich-Entwicklung ist gerade das Gegenteil richtig. Nur wer über ein hinreichend stabiles Ich verfügt, kann andere akzeptieren und schätzen (und überhaupt als andere wahrnehmen) , die Ich-Schwachen sehen ihre Mitmenschen als Verfügungsmasse bzw. Mittel zum Zweck (was dann allerdings auf den erste Blick wie eine große Ich-Stärke wirkt) oder identifizieren sich mit einer Klischeevorstellung vom anderen, was letztlich eine Form der anpassenden Unterwerfung ist.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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