Homine ex machina

Dieser Teil des Forums befaßt sich mit politischen, sozialen und historischen Aspekten der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten.
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Alethos
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Do 22. Aug 2019, 20:02

Erschreckend die reduktionistischen Konzepte einiger Neurowissenschaftler. Der Mensch ist eine Überlebens- und Vermehrungsmaschine, alles andere wird zum Beigeschmack degradiert.

Kann Menschlichkeit reproduziert werden durch Simulationen in künstlichen Systemen (Algorithmen, Robotik etc.)? Was ist die Charakteristik der Menschlichkeit und was würde es brauchen, um diese künstlich entstehen zu lassen?


«In Zukunft werden wir Mensch und Maschine wohl nicht mehr unterscheiden können»: https://www.nzz.ch/zuerich/mensch-oder- ... hare%20Hub



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Jörn Budesheim
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Sa 24. Aug 2019, 06:04

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Dazu fällt mir Heideggers berüchtigtes Wort ein, dass die Wissenschaften nicht denken. Was immer Heidegger damit gemeint haben könnte, es scheint mir in diesen Fall ziemlich offensichtlich zu sein, dass dieser Wissenschaftler die Grundbegriffe, mit denen er hantiert, nicht wirklich gut durchdacht hat.




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Jörn Budesheim
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Sa 24. Aug 2019, 06:45

Nebenbei wird in dem Artikel erwähnt, aber natürlich nicht wirklich thematisiert, dass wir biologische Wesen sind. Was dabei völlig fehlt, ist die Tatsache dass, dass wir sterblich sind und davon wissen.




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Jörn Budesheim
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Sa 24. Aug 2019, 07:33

Frage: Erinnerungen an die Kindheit oder die Eltern werden einem künstlichen Gehirn aber immer fehlen.

Lutz Jäncke: Menschliche Erinnerungen sind im Wesentlichen konstruiert – je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, rekonstruieren wir unsere Vergangenheit. Man ist überzeugt, etwas erlebt zu haben, dabei basieren diese Erlebnisse meistens auf Geschichten, die man gehört hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass man in Zukunft neuronale Netze zur Verfügung hat, bei denen man bestimmte Erinnerungsfetzen aktivieren kann, die dann zur kohärenten Geschichte verwoben werden. Insofern ist das kein Merkmal zur Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine.
Hier sind sogar die Antworten (Vertiefungen der Frage?), die populäre Filme geben, deutlich substanzieller und interessanter. Ich denke dabei an Blade Runner 1 und 2. Die Replikanten werden dort mit künstlichen Erinnerungen versehen. Der Film "weiß" jedoch, dass Erinnerungen keineswegs "im Wesentlichen" Konstruktionen sind. "Im Wesentlichen" gehören sie zu unserer Identität. Daher fragen sich die Replikanten im Film zum Beispiel, ob ihre "Erinnerungen" wahr sind. Lagen die Dinge wirklich so, wie sie glauben (gemacht wurden)? Sie nehmen die Implantate nicht einfach für bare Münze. Tatsächliche Erinnerungen sind nämlich ihrer begrifflichen Struktur nach "Erinnerungen an etwas". Das ist eine Relation. Liegen die Dinge anders als die Erinnerung besagt, liegt keine wirkliche Erinnerung vor, sondern eine Täuschung, eine Illusion, bzw. im vorliegenden Fall mit den Replikanten ein "Betrug". Der Begriff "Erinnerung" ist also offenbar mehrdeutig, er kann einen Schwerpunkt bei dem "Inneren" der Erinnerung haben, kann aber auch die Relation (die Repräsentation) selbst meinen.

Die beiden Filme gehen dieser Frage viel tiefer nach als der Wissenschaftler es offenbar jemals getan hat, sonst würde er nicht so antworten, wie er eben geantwortet hat.




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Jörn Budesheim
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Sa 24. Aug 2019, 09:23

Lutz Jäncke hat geschrieben : Ich bin überzeugt, dass wir irgendwann in der Lage sein werden, Robotergehirne zu generieren, welche menschliche Verhaltensweisen zeigen. Wird so ein künstliches Gehirn dann in eine Maschine gebaut, die dazu noch aussieht wie ein Mensch, fällt die ganze Definition, was Menschlichkeit bedeutet, darnieder.
Hier ist unklar, was sein Argumentationziel überhaupt ist. Dass wir Simulation von Menschen schaffen können, als Entitäten, die unser Verhalten bloß zeigen. Aber das kann nicht im Ernst die Frage sein. Entscheidend ist doch, ob sie das Verhalten nicht nur zeigen, sondern "haben". Dazu gehört schließlich auch das, was wir gemeinhin eine "Innenperspektive" nennen.




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Alethos
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Sa 24. Aug 2019, 11:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 24. Aug 2019, 09:23
Lutz Jäncke hat geschrieben : Verhaltensweisen zeigen
"Innenperspektive".
Simulationen haben es an sich, dass sie das, was sie simulieren, nur abbilden. Ein Roboter oder Android würde einen Menschen immer nur abbilden, ohne ein Mensch zu sein. Und das ist wohl die Argumentationslinie von Jäncke, dass man von der Oberfläche auf die 'inneren Vorgänge' schliessen könne. Ich teile diese Auffassung nicht, aber es ist eine verführerisch simple Analogie: Was wie Mensch aussieht, muss Mensch sein.
Was sich wie ein Mensch verhält, das ist hinreichend antropomorph, dass es als Mensch durchgehen könnte.

Die Argumentation rettet sich wohl in die Hoffnung, dass wir auch heute nicht anders als durch Handlungen und durch Formen, also durch äussere Erscheinung darauf schliessen, dass dies Gegenüber ein Mensch sei. Ganz genau wissen können wir es nicht, weil wir nur assoziierend vorgehen. Ein lautes 'Aua' verbinden wir mit Schmerz, wir schliessen auf Schmerz und, manchmal fühlen wir ihn sogar mit, weil wir eingeübt sind und wissen, was Schmerzen 'in uns' bedeuten und die Formen des geäusserten Schmerzes mit den inneren Zuständen verbinden. Aber ob der Mensch Schmerz empfindet und, falls ja, er für ihn sich gleich anfühlt, das ist eine reine Vermutung. Die qualitative Dimension des Schmerzseins bleibt uns im Anderen verborgen. Und so überhaupt alles, was im Anderen vorgeht. Und doch wissen wir über einander Dinge, die wir nur wissen können, weil wir gleichartige Wesen sind: weil wir ein Bewusstsein unserer selbst haben, eine Geschichtlichkeit, weil wir komplex fühlende und denkende Wesen sind. Und ich meine, dass sich dies auch an der Oberflächenstruktur unserer Handlungen, Gesten, Mimiken etc. zeigt, was sich nie im Detail simulieren lässt, wenn man nicht all das hat, wodurch man Mensch ist.

Es ist wohl denkbar, dass man einen perfekten Flugsimulator baut, der ein absolut makelloses, sich vom echten in nichts unterscheidenden Flugerlebnis bieten kann. Aber die Tatsache, dass wir in Simulationen selbst nichts Simuliertes sind, das verhindert eine solche Perfektion, denn wir interagieren ja mit der Umwelt in einer gewordenen, über Jahrmillionen entstandenen Weise und diese interaktive Verflechtung von uns mit Welt, das zeigt sich wiederum in der Art und Weise, wie wir in der Welt sind. Das kann sich nicht nachahmen lassen durch ein artifizielles In-der-Welt-Sein. Darum ist es noch viel weniger denkbar, dass wir uns im Gegenüber so sehr täuschen können und für einen Menschen hielten, was nur Maschine ist. Denn es ist ein noch inniger verwobenes Im-Du-Sein, das uns zu Menschen macht, da wir ja je diese lebendigen Wesen sind, die im Du einen Teil ihrer Selbst wiederfinden. Wir müssten uns sozusagen grundsätzlich darin täuschen, Mensch zu sein, wenn wir uns im Gegenüber durch eine Maschine in ihrem Menschsein täuschen lassen wollten.

Und nun kann man daraus einen grundsätzlichen Skeptizismus über unsere Existenz als Menschen ableiten und fragen, woher ich denn wissen könne, dass ich selbst keine Android sei, der sich für einen Menschen hält. Und da bleibt eigentlich nur die Zuversicht der Eigenverantwortlichkeit im Miteinander. Denn wir für einander können Mensch sein und einander zeigen, was es heisst, Mensch zu sein, Mitmensch zu sein. Indem wir voneinander lernen z.B., was es heisst, über sich selbst hinauszuwachsen und das moralisch Gute zu wollen, oder indem wir einander von diesen unseren Eigenheiten erzählen, die uns zu individuellen Menschen machen. Warum sollten Maschinen sich für einander interessieren, wenn sie doch ein Niemand sind?



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