30 Jahre Mauerfall - kollektive Erinnerung

Dieser Teil des Forums befaßt sich mit politischen, sozialen und historischen Aspekten der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten.
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Stefanie
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Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Mo 4. Nov 2019, 20:21

Zu Beginn eines Artikel zum Mauerfall aus dem Spiegel steht folgendes Zitat:
"Eine Gesellschaft ist, woran sie sich erinnert."
(Albert Wendt)
https://www.spiegel.de/politik/deutschl ... 93740.html

Woran erinnert sich eine Gesellschaft? Anders gefragt, was ist eine kollektive Erinnerung, was ist das kollektive Gedächtnis? Gibt es das?

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs stellte 1925 folgende These auf:
Eine persönliche Erinnerung im strengen Sinn gebe es gar nicht. Das Umfeld beeinflusse alle Gedächtnisinhalte, und sie seien deshalb "sozial gerahmt". Der soziale Rahmen meint zum einem die Menschen in unserem Umfeld, die uns helfen, Gedächtnisinhalte abzurufen, und diese dabei gelegentlich mitgestalten. Zum anderen sind die es die Rahmenbedingungen der sozialen Umgebung. Letzteres soll uns Orientierung geben, um die vergangener Erfahrungen zu einer sinnvollen Geschichte zu verarbeiten. Das kollektive Gedächtnis ist ein Repertoire an Erzählungen über die Vergangenheit, das eine soziale Gruppe teilt, zum Beispiel eine Familie, eine Religionsgemeinschaft oder bestimmte Schichten. Diese gemeinsamen Erinnerungen einer sozialen Gruppe repräsentieren die Dinge, die für das gegenwärtige Selbstbild der sozialen Gruppe.

Es gibt zum Mauerfall unterschiedliche Erinnerungen unterschiedlicher sozialer Gruppen. Diejenigen, die noch Kinder waren. Aus Ost und West. Schon hier sind die Erinnerungen unterschiedlich. Diejenigen Erwachsenen aus dem Osten, die quasi von jetzt auf gleich in einem neuen System lebten und leben. Und in dieser Gruppe gibt auch wieder unterschiedliche soziale Gruppen. Diejenigen, die im Westen lebten. Usw.

Wie können aus den gemeinsamen Erinnerungen unterschiedlicher sozialer Gruppen eine gemeinsame Erinnerung aller entstehen? Das frage ich mich.

Eine Gesellschaft ist, woran sie sich erinnert.
Wie ist unsere Gesellschaft nach dem Mauerfall?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

sokrates_is_alive
Beiträge: 79
Registriert: Sa 26. Sep 2020, 14:38

So 18. Okt 2020, 16:57

Stefanie hat geschrieben :
Mo 4. Nov 2019, 20:21
Woran erinnert sich eine Gesellschaft? Anders gefragt, was ist eine kollektive Erinnerung, was ist das kollektive Gedächtnis? Gibt es das?
Es gibt zum Mauerfall unterschiedliche Erinnerungen unterschiedlicher sozialer Gruppen. Diejenigen, die noch Kinder waren. Aus Ost und West. Schon hier sind die Erinnerungen unterschiedlich. Diejenigen Erwachsenen aus dem Osten, die quasi von jetzt auf gleich in einem neuen System lebten und leben. Und in dieser Gruppe gibt auch wieder unterschiedliche soziale Gruppen. Diejenigen, die im Westen lebten. Usw.
Wie können aus den gemeinsamen Erinnerungen unterschiedlicher sozialer Gruppen eine gemeinsame Erinnerung aller entstehen? Das frage ich mich.
Eine Gesellschaft ist, woran sie sich erinnert.
Wie ist unsere Gesellschaft nach dem Mauerfall?
Wie erfolgt die kollektive Erinnerung? Sie erfolgt über Sprache, die entweder als gesprochenes Wort mündlich tradiert wird oder durch niedergelegte, bleibende Sprache (in Wort und Bild). Wer immer sprachlich die Deutungshoheit gewinnt, bestimmt was kollektiv erinnert wird; insoweit ist der Ausdruck "Die Sprache des Siegers" durchaus nicht nur auf einen engen historischen Kontext anwendbar. Warum sprechen wir heute also immer von "Wiedervereinigung" statt von "Beitritt", warum von den "neuen Bundesländern" (Freistaat Sachsen und Thüringen 1920), die teilweise historisch betrachtet doch wesentlich älter sind als die "alten Bundesländer" (NRW 1946, Hessen 1945, Baden-Württemberg 1952)? Exemplarisch sei auf die Diskussion zum Bundesarchivgesetz 2017 hingewiesen. Wer entscheidet was abzugeben, zurückzuhalten oder zu vernichten ist? Wenn dies Stellen in eigenem Ermessen tun können, entstehen Lücken im historischen Gedächtnis, die auf der Zeitschiene irgendwann unwiederbringlich verloren gehen.
Gemeinsame Erinnerung im Sinne eines einheitlichen oder doch zumindest mehrheitlich gleich wahrgenommenen Ereignisses sind meines Erachtens häufig auch Projektionen, die häufig erst in zeitlicher Distanz zu dem tatsächlichen Ereignis (häufig gibt es keine Zeitzeugen mehr, die historischen Dokumente weisen entweder Lücken auf oder werden nicht einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht) ihre Bedeutungshoheit entfalten. Als historische Beispiele seien die Umdeutung der Schlacht am Peipussee 1242 durch die russisch-orthodoxe Kirche oder der Schlachten am Amselfeld 1389 und 1448 durch serbische Nationalisten genannt, die jedoch noch heute im "kollektiven Gedächtnis" Wirkung zeigen.
Auf die Ereignisse BRD - DDR angewandt, erwarte ich, dass im Laufe der nächsten Jahrzehnte ein im wesentlichen einheitliches Narrativ verankert werden wird, das z.B. Bestrebungen von Gruppen in der DDR für den Fortbestand einer eigenständigen DDR einfach ausblendet und damit "Kollektivität im Erinnern" erreicht.



"Der Teufel ist ein Optimist. Er glaubt, er könnte die Menschen schlechter machen." (nach Karl Kraus) :roll:

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Friederike
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Mo 19. Okt 2020, 11:50

sokrates_is_alive hat geschrieben :
So 18. Okt 2020, 16:57
[...]Warum sprechen wir heute also immer von "Wiedervereinigung" statt von "Beitritt", [...] Auf die Ereignisse BRD - DDR angewandt, erwarte ich, dass im Laufe der nächsten Jahrzehnte ein im wesentlichen einheitliches Narrativ verankert werden wird, das z.B. Bestrebungen von Gruppen in der DDR für den Fortbestand einer eigenständigen DDR einfach ausblendet und damit "Kollektivität im Erinnern" erreicht.
"Übernahme" wäre auch denkbar aus der Sicht der Gruppen, die damals für einen eigenständigen Staat plädiert haben. Es sind tatsächlich einzelne Begriffe, die sich einbürgern und mit denen zugleich bestimmte Inhalte, zumindest assoziativ transportiert und so auch tradiert werden. "Wiedervereinigung"? Man denkt am ehesten an einen neuen (alten) Staat, der aus der Verbindung zweier zuvor getrennter Staaten hervorgegangen ist.




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Jörn Budesheim
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Di 20. Okt 2020, 05:56

Bei Wiedervereinigung denke ich an Wiedervereinigung, zwei oder mehr, die getrennt waren, werden wiedervereinigt.




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NaWennDuMeinst
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Do 22. Okt 2020, 01:43

Komischer Weise kommt mir beim Gedanken an die Wiedervereinigung immer zuerst ein Bild in den Kopf. Ein öffentlicher Mülleimer, einer von denen die an Laternenpfählen festgemacht sind, und die von der Stadtreinigung unten geöffnet werden um sie zu entleeren.
Ich bin damals, ein paar Tage oder Wochen nach dem Mauerfall (weiß nicht mehr so genau) die Strasse heruntergelaufen und einer dieser Mülleimer war bis zum Rand voll mit Bananenschalen. Er war unten offen, und unter ihm ein Berg von Bananenschalen.
Das klingt wie ein dummes "Ossi-Klischee". Aber es war wirklich so.
Genauso wie es mir wirklich passiert ist, dass ich mit angesehen habe wie vor dem Aldi, in dem ich damals immer einkaufen war, ein Reisebus hielt, und eine Horde von Menschen rausgestürmt kam. Rein in den Laden - wie so eine Herde wilder Affen. Dann kommen die wieder raus, unter den Armen alles mögliche Zeug. Natürlich auch Bananen. Wieder rein in den Bus und weg waren sie. Vollkommen surreal wirkte das damals auf mich.
Das waren meine allerersten Eindrücke von den Menschen "hinter der Mauer".

Da war ich 14 Jahre alt. Heute denke ich natürlich an so viel mehr. Ich denke daran wie schwer das für die Menschen auf beiden Seiten damals gewesen sein muss, als Berlin geteilt wurde. Ich denke daran, wie ich auf dem Schulweg nach Hause immer mit dem Fahrrad an der Mauer langegefahren bin (wir wohnten damals im Berliner Stadtteil Rudow). Das war ein Gebiet mit großen, weiten Feldern. Und dann mitten in der Landschaft dieser Schnitt im Gelände. Dieses hässliche, graue Ding.
Ich denke an die Zeit zurück wo wir mit dem Auto immer stundenlang an den Grenzübergängen standen und wir als Kinder immer besonders artig sein mussten. Transitstrecke. Und Aufatmen wenn man wieder raus war aus der DDR. All das ist nun für immer vorbei.

Ich denke an David Bowie und seinen Song "Heroes", der für mich zur Begleitmusik der Wiedervereinigung wurde.

I, I can remember (I remember)
Standing, by the wall (by the wall)
And the guns shot above our heads
(Over our heads)
And we kissed,
As though nothing could fall
(Nothing could fall)
And the shame was on the other side
Oh we can beat them, for ever and ever
Then we could be Heroes,
Just for one day


Ich denke auch an einen Freund den ich nach der Wende kennen gelernt habe und an seine Geschichte. Der damals versucht hat aus der DDR zu fliehen und an der Grenze im Stacheldrahtzaun hängen blieb. Der dann nach Bautzen kam und dort psychisch gefoltert und schliesslich aus der DDR ausgewiesen wurde.
Ich denke daran, dass mit dem Fall der Mauer ein aus meiner Sicht schreckliches Regime zuende ging (wobei ich das Glück hatte auf der anderen Seite des "Zauns" geboren worden zu sein).
Ich denke auch daran, dass nicht immer alles glatt lief. So viel Freude wie es darüber gab, dass die Teilung vorbei ist, so viel Enttäuschung gab es auch. Hier wie dort.
Nicht erfüllte Erwartungen. Und in manchen neuen Bundesländer sehe ich die hässliche Fratze des Rechtsextremismus und der Fremdenfeindlichkeit.
Und ich versuche zu verstehen, was man dort in den 40 Jahren der Teilung erlebt hat, versuche mir vieles aus der Geschichte zu erklären.
Ich habe die neuen Bundesländer aber auch gerne bereist und bin froh, dass ich das jetzt problemlos kann, dass ich diesen deutschen Teil sehen und entdecken darf..
Und ich sehe dort auch Freunde und so viel Gleiches.
Und natürlich sehe ich immer wieder meine Eltern, die zu dieser Zeit sehr emotional waren und die mir, als jungen Menschen den mit dieser Sache nicht so viel verband, dadurch klar machten, dass da eine wirklich große Sache geschehen ist.

Aber vor allem sehe ich beim Wort "Wiedervereinigung" die Bananenschalen. Ich kann nichts dafür und will es auch nicht. Aber dieses Bild ist einfach hängengeblieben. Es hat sich eingebrannt. So wie ich beim Denken an meinen ersten Italienurlaub sofort den Geruch von verbannten Olivenbaumlaub in der Nase habe, so sehe ich beim Denken an die Zeit der Wiedervereinigung diesen Mülleimer mit den Bananenschalen.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

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Stefanie
Beiträge: 7168
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Mo 26. Okt 2020, 23:27

Ich bin zu weit weg von der damaligen innerdeutschen Grenze aufgewachsen, um direkt etwas mitbekommen zu haben. Wir hatten und haben Verwandtschaft mütterlichseits auf Rügen, MeckPomm und Dresden. Mein Opa hatte seinen jüngeren Bruder seit Kriegsende nicht mehr gesehen. Grund, meine Oma hatte sich geweigert, in die DDR zu fahren. Meine Eltern waren mit uns einmal nach Rügen gefahren, in den 70zigern. Ist leider bei mir nicht viel in Erinnerung geblieben, zu jung. Wir bekamen irgendwann raus, dass eine Cousine und ein Cousin meiner Mutter die Patenkinder meines Opas waren, und zu unserer Verblüffung durften beide zu einem runden Geburtstag meines Opas kommen. Mitte der Achziger war das. Der Cousin aus Dresden erlitt einen kapitalen Kulturschock. Die Cousine hat das begeistert aufgekommen und hat über die DDR gewettert. Der Cousin war ziemlich Linientreu, und konnte das, was er sah, nicht verarbeiten. Mein Vater war mit ihm im Baumarkt, irgendwelches Werkzeug für den Cousin kaufen, und der saß abends auf der Couch, nach einigen Bier und fing an zu heulen. Vergesse ich nie.
Wir sind dann 1986 noch mal auf Rügen gewesen, zu einer Hochzeit, die nicht stattfand, und als wir ankamen, die Tür aufging, lief eine heulende junge Frau raus, die Freundin der verhinderten Braut. Grund, sie durfte nicht bleiben, weil ihr Vater ein hohes Tier in der Armee war, und sie keinen Westkontakt haben durfte. Eine 10 jährige erklärte mir, dass doch die Mauer zu ihrem Schutz gebaut wurde. Ja, was soll man da sagen, am besten nichts. Mein Vater hatte zigmal zuhören bekommen, er soll nicht zu laut politisch werden, und bitte nicht wieder vor der Schranke zu einem Ausflugsgebiet mit der Motorhaube unter die Schranke fahren. Die Cousine auf Rügen und ihr Mann hatten eine sehr umfangreiche Stasiakte, da stand auch unser Besuch drin.

An dem Abend 1989 gab es ein Fussball Spiel, live, meine Schwester und ich wohnten wegen dem Studium noch zu Hause, wir sehen alle die Tagesschau vorher, guckten uns an, was hat er da gerade gesagt? Meine Mutter sagte ich muss auf Rügen anrufen, das hat natürlich nicht geklappt. Am nächsten Tag erhielt ich den Auftrag das zu tun, null Chance, völlige Überlastung. Mit einem Telefon mit Wählscheibe eine Bandwurmnummer zu wählen, ist Horror, das vergesse ich nicht so schnell nicht. Erst nach 10 Tagen kamen wir mal durch. Wir hatten dann ganz schnell eine Tastentelefon und eine eigene Telefonnummer für meine Großeltern.
In den nächsten Jahren kamen dann alle zu uns zu Besuch, die Elterngeneration, die Kinder usw. Beim 6. mal Drachenfels und Kölner Dom habe ich dann gestreikt. Danke nein.
Nur das mit dem jüngeren Bruder meines Opas hat nicht geklappt. Dieser erkrankte schwer an Krebs und verstarb sehr schnell. Meine Oma und Opa waren auch nicht mehr fitt, so sah man sich nicht wieder. Aber die beiden Söhne haben ihn besucht, und mein Opa war so glücklich.
Der Kontakt mit der Sippschaft auf Rügen besteht weiter, gegenseitig.
Es gab Unterschiede, die weniger werden, je jünger die Menschen sind. Öfters gab es am Anfang so die eine oder andere Irritation. Aber einiges ändert sich nicht, wir sagen Mama/Papa, sie sagen Mutti und Vati, sie ziehen immer die Schuhe aus, wenn sie zu Besuch sind und die Zeitangabe, dieses dreiviertel dingsbums, die werde ich nie verstehen.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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