Der getanzte traurige Gedanke

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Jörn Budesheim
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Sa 9. Jan 2021, 18:11

Ich muss gestehen, dass ich nie irgendeinen Standardtanz gelernt habe. Vielleicht mal 3 Schritte Walzer 1 2 3 ... Ich kenne Tanzen fast nur vom "Nachts um 1 Uhr in der Disco Hüftschwung" :)


Ich muss mich korrigieren: ich meine, irgendeine Standardsache gab es im Jugendzentrum ... Aber auch das konnte ich nur mehr schlecht als recht.




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Friederike
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Sa 9. Jan 2021, 18:24

Mir gefällt der Titel am besten. Der getanzte traurige Gedanke. Das ist ein so zartes "traurig" ... ich werde das gleich tun.




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NaWennDuMeinst
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Sa 9. Jan 2021, 21:34

Stefanie hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 17:46
Es führt die Frau.
:- )
Deshalb tanze ich nicht :-D



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

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Stefanie
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Sa 9. Jan 2021, 22:56

Noch eine Zwischennruf. Es gibt im Grunde zwei Arten von Führen.

Ich war in der Tanzschule, und habe danach noch mit einigen Anderen etwa 2 Jahre weiter gemacht, sogar mit richtigen Tanzschuhen, die ich heute wegen dem Absatz wahrscheinlich nicht mehr tragen würde bzw. könnte. Das war der klassische Turniertanz. Talentiert war ich nicht wirklich, machte aber Spass.
Gerade bei den Standardtänzen (Walzer etc. und auch der Tango) muss jemand die führende Person sein, sonst geht das schief. Bein- und Fussdurcheinander. In der Regel ist das der Mann. Könnte aber auch die Frau sein, was in einem Turnier wahrscheinlich noch nicht gut ankommt.
In der RTL Sendung Let's Dance gab es schon das erste Tanzpaar aus zwei Frauen, auch hier muss eine von beiden führen. Oder auch, wenn man zwei Männer tanzen. Ich nenne es mal das technische führen.
Der Turniertanz Tango ist was anderes als der argentinische Tango. Beide sollen aber die Spannung zwischen den Partnern zeigen, und hier führt beim Tanz von Mann und Frau eben die Frau, das technische Führen mag beim Mann liegen, aber im Grunde führt die Frau. Der Mann führt, die Frau verführt. Will Frau nicht oder kann nicht, wird das nix, da kann der Mann noch so gut im technischen Führen sein.
Umgekehrt kann der Mann das technische führen nicht richtig, aber die Frau ihr führen, wird das noch was. Umgekehrt ...nee dann wird das nix.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Stefanie
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Sa 9. Jan 2021, 23:04

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 21:34
Stefanie hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 17:46
Es führt die Frau.
:- )
Deshalb tanze ich nicht :-D
Nur Mut, wir beißen nicht, wir wollen nur spielen : - )



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Nauplios
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So 10. Jan 2021, 01:12

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 14:25
Nauplios hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 14:14
Ich habe mich damals schon gefragt: Warum dieser Strauß-Walzer? - Die Musik ist eine Brücke in die Unendlichkeit.
Der Begriff "Brücke" ist mir auch eingefallen.
Die Erkenntnissphären stehen aus genannten Gründen nebeneinander, aber sie haben natürlich Wirkung aufeinander. Es existieren Brücken zwischen ihnen.
Der Physiker kann uns etwas darüber sagen wie unsere (materielle) Welt aufgebaut ist, also dass sich die Erde um die Sonne und die Sonne wiederum um ein galaktisches Zentrum dreht.
Was das aber für uns bedeutet, welches Weltbild wir daraus ableiten, das besprechen wir an anderer Stelle (ist Teil anderer Erkenntnissphären).
Es gibt von Georg Simmel einen kleinen Aufsatz mit dem Titel Brücke und Tür. Er beginnt mit:

"Das Bild der äußeren Dinge hat für uns die Zweideutigkeit, daß in der äußeren Natur alles als verbunden, aber auch alles als getrennt gelten kann. Die ununterbrochenen Umsetzungen der Stoffe wie der Energien bringen jedes in Beziehung zu jedem und machen aus allen Einzelheiten einen Kosmos."

Nur dem Menschen ist es, der Natur gegenüber, gegeben, zu binden und zu lösen, und zwar in der eigentümlichen Weise, daß eines immer die Voraussetzung des anderen ist. Indem wir aus der ungestörten Lagerung der natürlichen Dinge zwei herausgreifen, um sie als »getrennt« zu bezeichnen, haben wir sie schon in unserem Bewußtsein aufeinander bezogen, haben diese beiden gemeinsam gegen das Dazwischenliegende abgehoben. Und umgekehrt: als verbunden empfinden wir nur, was wir erst irgendwie gegeneinander isoliert haben, die Dinge müssen erst außereinander sein, um miteinander zu sein. Praktisch wie logisch wäre es sinnlos, zu verbinden, was nicht getrennt war, ja, was nicht in irgendeinem Sinne auch getrennt
bleibt. Nach welcher Formel nun in den menschlichen Vornahmen beide Wirksamkeiten sich zusammenfinden, ob die Verbundenheit oder ob die Getrenntheit als das natürlich Gegebene empfunden wird und das jeweilig andere als die uns gestellte Aufgabe — danach läßt sich all unser Tun gliedern."

Alethos schrieb gestern an anderer Stelle:
Alethos hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 15:15

Das gerade sollten wir vermeiden: Aus den vielen Verschiedenen ein grosses einheitliches Ganzes machen zu wollen. Das wird logisch nicht zu schaffen sein.

(...)

Die Wirklichkeit aus einem einzigen Blickwinkel ins Auge nehmen zu wollen, der nur dieser oder nur dieser ist, nur moralisch, nur naturwissenschaftlich, nur historisch, nur rechtlich: Das wird nicht gehen.
Für die Natur gilt nicht: Ex pluribus unum, wir können das Viele nicht auf einen gemeinsamen ontologischen Nenner bringen.
Wie schon bei Simmel können wir "das Viele" nicht unter dem einen Gesichtspunkt systematisieren, sei es durch die Wissenschaft, sei es durch die Religion. Wir können die Wirklichkeit nicht "aus einem einzigen Blickwinkel ins Auge nehmen" (Alethos); es kann in der äußeren Natur "alles verbunden, aber auch alles als getrennt gelten" (Simmel). Ähnlich wie bei einem Sternbild können wir allerdings Linien denken und ziehen, können Punkte miteinander verbinden, können sie über-brücken. Ein Versuch:

Der Strauß-Walzer, dieses leicht schaukelne und kreisende Eins/Zwei/Drei hat den eigentümlichen Charakter des Und-so-weiter. Es dreht sich alles ... wie im Kreis ... Eins/Zwei/Drei ... Eins/Zwei/Drei ... Um aus dieser Kreisbewegung herauszukommen, bedient sich Strauß am Ende oft sehr langer Fermaten, verlängerter Noten oder Pausen, die nach neun oder zehn Minuten dem "endlosen" Eins/Zwei/Drei mit einem Mal abrupt ein Ende bereiten; oft folgt dann in der Coda (am Schluß) ein Accellerando (ein Schnellerwerden), das mit Paukenwirbel und offenem Beckenschlag, eine Art "TUSCH", endet.

Diese Beschreibung paßt ziemlich genau auf den Verlauf Deiner Animation zum weißen Zwerg von gestern, NWDM. Die beiden weißen Punkten kreisen wie in einem Walzer umeinander, dann setzt gegen Ende ein immer größeres Accellerando ein und im Paukenwirbel und Beckenschlag verschmelzen sie am Ende mit einem großen hellen Tusch. Die Planeten kreisen wie in einem Eins/Zwei/Drei um die Sonne, ziehen ihre Bahnen. Sie tanzen im Rhythmus eines unendlichen Walzers. "And the Waltz goes on" ist eine Komposition des britischen Schauspielers Sir Anthony Hopkins. "Und der Walzer lebt weiter". Im Film von Kubrick korrespondieren diese beiden Bewegungen. Zwischen Kosmos und Musik wird eine Brücke gespannt. -




Nauplios
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 14:29


Ja, diese Eingangsszene ist nicht ohne Grund sehr gelobt worden. Was zeigt sie uns? Den Kosmos? Ich würde sagen nein. Sie zeigt uns den Menschen.
Sie zeigt uns den Menschen. Sie zeigt ihn uns sozusagen vor dem dunklen schwarzen Hintergrund des Kosmos. Das berühmte Foto von der Apollo-8-Mission Earthrise zeigt fast parallel dazu die blau-weiße Kugel im dunklen All, davor die graue Mondwüste. William Anders in seiner Weihnachtsbotschaft ("In the beginning God .... ")




Nauplios
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So 10. Jan 2021, 01:32

Schaut man in einer klaren Winternacht zum nächtlichen Sternenhimmel und sieht dieses kälte-klirrende Funkeln der Sterne, dann kann man diesen leisen tremolierenden A-Dur-Dreiklang der Streicher zu Beginn des Donau-Walzers hören. :!: :shock:




Nauplios
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So 10. Jan 2021, 01:44

Alethos hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 14:48

Wenn philosophische Opponenten lernen könnten sich als das zu sehen, als Tanzpartner, die in einem intensiven Tanz streckenweise die Führung übernehmen, den Takt vorgeben, die Schritte, die Richtungen und die kurzen dramatischen Wendungen: Wenn wir das Sprechen des Anderen für einmal kurz erlauben könnten das zu sein: „eine Hand, die sich über unsere Rückenmitte hinaus legt“, dann würden wir ihn vielleicht verführen können zu tanzen, wie ein richtiger Mann! Gut und edel! Voller zarter Leidenschaft. Und wir würden verführt werden zu tanzen, wie eine richtige Frau, wenn wir ihm zeigen könnten, dass er darf. Dass er soll. Und wir, wir drückten uns einmal ganz nah aneinander, und stiessen uns kraftvoll ab, aber wir fänden immer zurück an den Ort unseres chronotopischen Objekts... zu unserem Miteinander als Tanzende.

Wir sässen nicht einfach auf gegenüberliegenden Seiten eines Tischs, starre Opposition betreibend, unser Rechthaben verteidigtend. Wir tanzten einen lodernden Tanz, der mir jeder kurzen Piroutte, mit jedem trippenden Vor und Zurück melodiöse Geschichte schreibt.

Freunde, wenn wir das schaffen, ich kaufe mir ein Akkordeon und importiere aus meiner Heimat die ganze Freude in die Melodie zu diesem Tanz.

Vamos. Vamos juntos! :)
So hört sich das also an, wenn es einem Eidgenossen ins Temperament schießt. ;)

"... tanzen wie eine richtige Frau ... ihm zeigen, dass er darf. Dass er soll ... " - Mir wird ganz blümerant. Ich denke mal darüber nach. ;)




Nauplios
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So 10. Jan 2021, 02:53

Stefanie hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 22:56
Noch eine Zwischennruf. Es gibt im Grunde zwei Arten von Führen.

Ich war in der Tanzschule, und habe danach noch mit einigen Anderen etwa 2 Jahre weiter gemacht, sogar mit richtigen Tanzschuhen, die ich heute wegen dem Absatz wahrscheinlich nicht mehr tragen würde bzw. könnte. Das war der klassische Turniertanz. Talentiert war ich nicht wirklich, machte aber Spass.
Gerade bei den Standardtänzen (Walzer etc. und auch der Tango) muss jemand die führende Person sein, sonst geht das schief. Bein- und Fussdurcheinander. In der Regel ist das der Mann. Könnte aber auch die Frau sein, was in einem Turnier wahrscheinlich noch nicht gut ankommt.
In der RTL Sendung Let's Dance gab es schon das erste Tanzpaar aus zwei Frauen, auch hier muss eine von beiden führen. Oder auch, wenn man zwei Männer tanzen. Ich nenne es mal das technische führen.
Der Turniertanz Tango ist was anderes als der argentinische Tango. Beide sollen aber die Spannung zwischen den Partnern zeigen, und hier führt beim Tanz von Mann und Frau eben die Frau, das technische Führen mag beim Mann liegen, aber im Grunde führt die Frau. Der Mann führt, die Frau verführt. Will Frau nicht oder kann nicht, wird das nix, da kann der Mann noch so gut im technischen Führen sein.
Umgekehrt kann der Mann das technische führen nicht richtig, aber die Frau ihr führen, wird das noch was. Umgekehrt ...nee dann wird das nix.
Ich hab´s in der Tanzschule noch nicht mal bis zum Mittelball gebracht. Allerdings hatte ich als Musiker sehr oft mit Tanzschulen zu tun. In diversen Besetzungen war es unsere Aufgabe, Abschlußbälle in der Dortmunder Westfalenhalle oder im Spielcasino Aachen zu gestalten. Auf der Bühne waren wir in der komfortablen Lage, das Treiben der DebütantInnen zu beobachten.

Ganz allgemein lassen sich zwei Sozialtypen von Tanzpaaren unterscheiden. Das Ehepaar, dem das Tanzen nicht mehr den Zwecken des Näherkommens dient, tanzt im Gestus des "Schaut her!". Die Köpfe haben eine leichte Neigung in den Nacken, die Mienen strahlen Selbstbewußtsein aus. Das Lächeln von leichtem Gefrierbrand starr. Er: blasiert. Sie: spätblühend. Jeder weiß, was zu tun ist. Keine Halbherzigkeiten. Solche Paare strömen bei den ersten Takten der Musik auf die Tanzfläche, damit sie noch gesehen werden, bevor diese sich füllt. - Die DebütantInnen dagegen erkennt man an ihren Suchbewegungen. Ein rötlicher Schimmer auf den Gesichtern läßt die seltsame Kombination von Kontrollverlust und Orientierungslosigkeit erahnen. Wo ist meine Rose? - Habe ich das Einstecktuch? - Sitzt meine Frisur noch? - Wo ist Mama? - Beim Tanzen haben die Köpfe eine leichte Neigung zur Brust, um aus den Augenwinkeln die Füße im Blick zu behalten. Wer auch immer führt, die Bewegungen haben den drolligen Einschlag des Patscherten wie man in Österreich sagt. - Man ist bemüht. Geschafft. Schnell zurück zum Platz. Hat Papa auch alles aufgenommen?

Lästern tut, wer gar nichts kann. Vor Jahren setzte sich meine Lebensgefährtin in den Sinn, es müsse doch etwas geben, was wir gemeinsam tun könnten. (An alle Junggesellen: So fangen Ehekrisen an.) Immer nur rumsitzen, das könne doch auf Dauer für ein erfülltes Leben nicht ausreichend sein. Ich schlug eine gemeinsame Lektüre vor. Ein stummes Augenrollen signalisierte mir, der Angelegenheit mit mehr Ernst zu begegnen. - Ich mach´ es kurz: Ein Tanzkurs für ... tja, für was ... für Ältere sollte es sein. So etwas gäbe es bestimmt auch bei uns. Die Zuversicht, die mir aus diesen Worten entgegenwehte, ließ auf vorherige Erkundigungen schließen. Der Satz "Vielleicht kommen ja Sybille und Robert auch mit" enttarnte alsbald das schlichte Faktum eines Komplotts. - Mein Einverständnis war halbherzig und um mich zu ermutigen wurden zum Zwecke einer Vor-Lektion ein paar Möbelstücke zur Seite geschoben. Es bedurfte keiner Simulation für die Einsicht: Ich war ein hoffnungsloser Fall. Trotz Führung vermochte es mein Körper nicht, die ihm über Jahre antrainierte Steifheit und Ungelenkheit auch nur zu kaschieren. - Hätten all die Tanzenden, über die ich mich mokiert hatte, mich damals im Wohnzimmer erlebt - nicht auszudenken. - Aus dem Tanzen ist dann nichts geworden. Heute kochen wir. Das heißt ... naja ....




Nauplios
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So 10. Jan 2021, 03:27

Eine mögliche Definition: Der Tanz ist eine durch gesellschaftliche Konvention lizenzierte Ermächtigung zur zeitweisen Erforschung der Konstitution fremder Körper unter dem Vorwand einer ästhetischen Ausdrucksbewegung. - Die Tanzenden willigen für die Dauer des Tanzes darin ein, auf übliche Abstandsregelungen sowie auf Schadensansprüche, entstanden durch deren Aussetzung, zu verzichten. Die Tanzeinwilligung erfolgt durch verbale oder nonverbale Bestätigung einer vorhergehenden Verbeugung. Das Nähere regelt kein Gesetz. -

Also eines ist der Tanz nicht. Er ist keine actio per distans. Ist es nicht verblüffend, daß in einer individualistischen Gesellschaft, die auf soziale Distanz eingerichtet ist, sich wechselseitig unbekannte Menschen in eine Nähe zueinander begeben, die ansonsten nur verwandtschaftlichen oder intimen Beziehungen vorbehalten bleibt? - Der Tanz als choreographische Vorwegnahme, gleichsam als öffentliche Präfiguration und Inszenierung virtueller Nähe. -




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So 10. Jan 2021, 03:32

Friederike hat geschrieben :
Sa 9. Jan 2021, 18:24
Mir gefällt der Titel am besten. Der getanzte traurige Gedanke. Das ist ein so zartes "traurig" ... ich werde das gleich tun.
Ich bin etwas verstört von diesem "ich werde das gleich tun". Was bedeutet das? -




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So 10. Jan 2021, 04:07

Der französische Dirigent Georges Prêtre hat in einem Interview darauf hingewiesen, daß in vielen Strauß-Walzern die Rhythmus-Struktur

Viertelnote (als Auftakt auf 3)
Halbenote (im nachfolgenden Takt auf Zählzeiten 1 und 2)
Viertelnote (wiederum auf 3)

vorkommt. Also in etwa:
ta taaaa ta tam

ich lie-be dich

Diese Strauß-Walzer sind eine geheime Liebeserklärung an ihre Hörer. -




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Jörn Budesheim
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So 10. Jan 2021, 06:41

Nauplios hat geschrieben :
So 10. Jan 2021, 03:27
actio per distans
Kommt drauf an. Beim Tanzen in Diskotheken kann die "Distanz" zu den Anderen auch dann groß sein, wenn man eng gedrängt tanzt. Und wenn die Musik schlecht ist, oder es noch zu früh ist, dann kann es auch passieren, dass Einzelne mit großer Distanz auf der Tanzfläche für sich allein tanzen.

Tanz auf Distanz - für manche war das genau das, was sie wollten, zugleich allein und unter Leuten sein, war das Ziel.




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Friederike
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So 10. Jan 2021, 09:33

Nauplios hat geschrieben :
So 10. Jan 2021, 03:32
Ich bin etwas verstört von diesem "ich werde das gleich tun". Was bedeutet das? -
Den traurigen Gedanken tanzen.




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So 10. Jan 2021, 18:14

Friederike hat geschrieben :
So 10. Jan 2021, 09:33
Nauplios hat geschrieben :
So 10. Jan 2021, 03:32
Ich bin etwas verstört von diesem "ich werde das gleich tun". Was bedeutet das? -
Den traurigen Gedanken tanzen.
Das klingt - traurig, eine Prise lyrique marotique, Leichtigkeit im Gewand von tristesse. Von Clément Marot stammt die "Ausdauer der Herzen" (fermeté des cœurs, wörtlich die "Festigkeit" ...) "Den traurigen Gedanken tanzen" - Es ist die Pluralität der Leiden: "Die Leiden des jungen Werther" heißt es dementsprechend. Man hat im Grunde immer diese Ambiguität der Liebe als Glück, entfaltet im Unglück. Leichtigkeit und Schwermut. Liebe und Trauer. Das Unbehagen in der Liebe. Die Festigkeit des Herzens - auch sie drückt sich aus "im Singen eines Grammophons".




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So 10. Jan 2021, 19:09

"Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder - Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft ...", schreibt Nietzsche im Zarathustra (II, 556) - Wiederkunft ("erinnre dich" - Günther Eich) - der Pastorensohn Nietzsche wählt den Ausdruck mit Bedacht. Die christliche Eschatologie ist die Erwartung der Wiederkunft Jesu. Und auch die Liebe hat diese eigentümliche Struktur der Erwartung.

Arnold Schönberg nennt sein Opus 17 "Erwartung", ein Monodram, welches nachts in einem Wald spielt. Eine Frau erwartet ihren Geliebten. In Verzweiflung darüber, daß er nicht kommt, irrt sie durch den Wald. Angst und Hoffnung bestimmen ihren Gemütszustand. Dann stößt sie mit dem Fuß an etwas. Es ist die Leiche ihres Geliebten. -

Nicht immer nimmt das (Er-)Warten des Liebenden solch' dramatische Ausmaße an; doch schon das Erwarten eines Anrufs, eines Briefs (Proust), das Warten im Café ... es ist die kleine Eschatologie, das Erwarten der Wiederkunft, welche so typisch ist für die Szenographie der Liebe, oft verbunden mit dem Verlust für Proportionen: sind fünf Minuten lang? -




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Mo 11. Jan 2021, 19:57

Mais vous pleurez, Milord ("Aber Sie weinen ja, Milord") singt Édith Piaf in einem ihrer berühmten Chansons. Die Tränen erzählen eine Geschichte, einen "Mythos des Schmerzes" (Barthes). In der Nieuwe Kerk in Amsterdam geben sich am 02. Februar 2002 die Argentinierin Máxima Zorreguieta Cerruti und der damalige niederländische Kronprinz Willem-Alexander das Ja-Wort. Während Ástor Piazzollas Komposition Adiós Nonino aufgeführt wird, vermag Máxima ihre Tränen nicht länger zurückzuhalten. - Welche Geschichte erzählen diese Tränen?





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Mo 11. Jan 2021, 23:47

Was ist die Bezeugung der Liebe? - Ihr Sagen? Ihr Zeigen?

Die Liebe ist stumm, sagt Novalis; es ist die Poesie, die sie zum Sprechen bringt.




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Jörn Budesheim
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Di 12. Jan 2021, 06:09

Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Band 100 hat geschrieben : "Es ist recht übel" sagte Klingsohr, "dass die Poesie einen besonderen Namen hat, und die Dichter eine besondere Zunft ausmachen. Es ist gar nichts besonderes. Es ist die eigentümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes.

Dichtet und trachtet nicht jeder Mensch in jeder Minute?" - Eben trat Mathilde ins Zimmer, als Klingsohr noch sagte: "Man betrachte nur die Liebe. Nirgends wird wohl die Notwendigkeit der Poesie zum Bestand der Menschheit so klar, als in ihr. Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen. Oder die Liebe ist selbst nichts, als die höchste Naturpoesie. Doch ich will dir nichts sagen, was du besser weißt als ich."
Friedrich Schlegel, 116tes Athenaeumsfragment hat geschrieben : "Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang."

(Unterstrichen von mir)




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