Wie im Himmel, so auf Erden

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Nauplios
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Pántes ánthropoi toû eidénai orégontai phýsei (Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.) - Mit diesem Satz beginnt die Metaphysik des Aristoteles. "Wissen" ist hier nicht in erster Linie das Wissen von "Einzelwissenschaften" (geschweige denn ein Wissen im Sinne der modernen Naturwissenschaften), denn es geht Aristoteles in der Metaphysik um die Prinzipien und Ursachen alles Seienden. Das Verbum orégontai ist gebildet aus oréxis: das Verlangen, das Bestreben, die Begierde. Für Aristoteles ist das Wissen, die Erkenntnis mithin verknüpft mit einem Verlangen, mit einem Wünschen. Dieser Konnex zwischen dem Wissen und dem Verlangen verblaßt mit der Ausdifferenzierung des neuzeitlichen Systems der Wissenschaft. Auch das "metaphysische" Motiv der "Ersten Philosophie" (Aristoteles), das Verlangen nach der Erkenntnis der Prinzipien alles Seienden, tritt in den Hintergrund. Mit Kant setzt sich die Vernunft schließlich selbst Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten. Die oréxis, der "Hunger der Seele", wird nicht nur durch den Begriff gestillt. Das Denken bildet Bedeutung auch da, wo es der Logizität an Reichweite fehlt. Mit seinen Bildern und Figurationen ist sich der Geist (mit dem "Mut zur Vermutung") selbst voraus. In der Ästhetik, in der Rhetorik treffen wir die oréxis, das aristotelische Verlangen wieder an. Die Frage "Was war es, was wir wissen wollten?" zielt auf eben dieses Verlangen.

In der latinisierten Form der an-orexia ist der orexia ein "Alpha privativum" als Präfix vorgesetzt (entspricht dem deutschen Präfix "un-"), welches die orexia verneint. Anorexia cogitandi: das Nicht-Verlangen, (über die Prinzipien des Seienden nach)-zu-denken.




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Jörn Budesheim
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Di 26. Jan 2021, 18:57

Harald Lesch hat geschrieben : Ich habe in meinem Garten ein Buch über Elementarteilchenphysik gelesen und dann bin ich darüber eingeschlafen und als ich wieder aufgewacht bin, sah ich eine kleine, blaue Traubenhyazinthe vor mir. Und dann dachte ich mir so: »Meine Güte, was ist das für ein Universum, das aus Quarks eine kleine blaue Traubenhyazinthe macht!«




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Nauplios
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Di 26. Jan 2021, 19:38

"Three quarks for Muster Mark."
(James Joyce; Finnegan' s Wake)

... womit wir beim Mikro-Kosmos wären und der Thaumatophilie des Kleinsten und bei möglichen Analogien und Verbindungen zwischen dem Kleinsten und dem Größten ...
"Ich werde zeigen, dass es starke Verbindungen gibt zwischen der Mikrowelt und der Makrowelt", verspricht Prof. Dr. Frank Wilczek. "Wenn wir die kleinsten Dinge verstehen, scheint es dazu zu führen, dass wir auch die größten Dinge begreifen: Die Struktur des Universums fußt auf Quantenfluktuationen."
... und einer neuen Kandidatur für den Gedanken, daß vielleicht doch alles mit allem verbunden sein könnte. ;)

https://www.magazin.uni-mainz.de/2040_DEU_HTML.php




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Di 26. Jan 2021, 19:38
"Three quarks for Muster Mark."
Dass die Physik sich in der Literatur bedient, um die Namen für ihre Entitäten zu finden, ist ja schön, aber zeigt das, dass die Quantenphysik uns beim Verständnis der Literatur behilflich sein kann?




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Nauplios
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Di 26. Jan 2021, 22:21

Auf dem langen Weg zur Wiederverzauberung der Welt wär's vielleicht ein kleiner Schritt. ;)




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Nauplios
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Als die Welt nämlich noch verzaubert war, schrieb der Verfasser der Metaphysik nämlich auch eine Physik, weil er Philosoph und Naturforscher war. ;)




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Jörn Budesheim
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Ja sicher, Quantenphysik war das größte Steckenfeld von Aristoteles.




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Jörn Budesheim
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Mi 27. Jan 2021, 20:43

Stefanie hat geschrieben :
So 24. Jan 2021, 20:57
Wir leben im 21. Jahrhundert, die große Mehrheit der Menschen glaubt nicht mehr, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt...
Stattdessen glauben sie, dass die Naturwissenschaften das Unendliche und das Unverfügbare verfügbar und beherrschbar machen kann. Das ist eine Religion, die nicht durchschaut, dass sie eine ist.




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Nauplios
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Fr 29. Jan 2021, 20:46

Am 06. April 1774 schreibt Kant einen Brief an Johann Georg Hamann. Darin geht es u.a. um den soeben erschienenen ersten Band von Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, Herders Interpretation der Heiligen Schrift als das "älteste Stück der Morgenröte der Zeiten". Kant erhofft sich in diesem Brief Aufschluß von Hamann über die "kosmische Symbolik" von Herders Schrift, "aber wo möglich in der Sprache der Menschen. Denn ich armer Erdensohn bin zu der Göttersprache der anschauenden Vernunft gar nicht organisiert." -

Im weiteren Verlauf geht es dann um die Rolle der intellektuellen Anschauung in Platos Siebten Brief. Kant trennt den Briefschreiber Plato vom Akademiker Kant. Dieser "gebrauchte seine intellektuellen Anschauungen nur rückwärts zum Erklären der Möglichkeit eines synthetischen Erkenntnisses a priori, nicht vorwärts, um es durch jene im göttlichen Verstande lesbare Ideen zu erweitern." Den Briefschreiber Plato hingegen bezeichnet Kant als "Vater aller Schwärmerei". -

"Arbeit am Mythos" versteht sich in diesem Sinne "nicht vorwärts", weil diese Arbeit nicht die Angelegenheit eines "göttlichen Verstandes" sein kann - es sei denn im Auftrag einer "Schwärmerei". Der Mythos ist sozusagen unabschließbar, was natürlich nicht seine Resurrektion als ein "vorwärts" gerichtetes Programm bedeuten kann. -




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Jörn Budesheim
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Sa 6. Feb 2021, 14:43

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Auf den Mann im Mond warten




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iselilja
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Do 11. Feb 2021, 17:33

Nauplios hat geschrieben :
Di 26. Jan 2021, 19:38
"Three quarks for Muster Mark."
(James Joyce; Finnegan' s Wake)

... womit wir beim Mikro-Kosmos wären und der Thaumatophilie des Kleinsten und bei möglichen Analogien und Verbindungen zwischen dem Kleinsten und dem Größten ...
"Ich werde zeigen, dass es starke Verbindungen gibt zwischen der Mikrowelt und der Makrowelt", verspricht Prof. Dr. Frank Wilczek. "Wenn wir die kleinsten Dinge verstehen, scheint es dazu zu führen, dass wir auch die größten Dinge begreifen: Die Struktur des Universums fußt auf Quantenfluktuationen."
... und einer neuen Kandidatur für den Gedanken, daß vielleicht doch alles mit allem verbunden sein könnte. ;)

https://www.magazin.uni-mainz.de/2040_DEU_HTML.php
Ich greife diesen Gedanken einmal auf, der sich bereits bei Demokrit zeigt, dass wenn es ein Verständnis des Kleinsten gäbe, man somit gleich einem Prinzip alles andere mitverstünde. Diese Richtungsgebundenheit unseres Weltverständnisses hat sich bis heute nicht nur in den Naturwissenschaften sondern auch in vielen anderen Bereichen unseres Daseins gefestigt. Zurecht? Schauen wir mal...

Was eine Fata Morgana ist, wissen wir soweit. Der Blick aus der Ferne zeigt uns etwas, was unser Gehirn nahezu automatistisch in ein bereits bekanntes Muster objektiviert. Kurz, man sieht etwas, was eigentlich nicht da ist, was unser Gehirn also in irgendeiner Weise konstruiert. Gehen wir näher heran, so erkennen wir, worum es sich dabei wirklich handelt. *1

Hm...

Nun würde doch bei obigem Verständnis daraus folgen, dass wenn wir noch näher heran gingen, wir auch noch wirklicher erkennen könnten, worum es sich handelt. Also gehen wir mit Forscherdrang der Sache nach und stellen fest, dass wenn die Augen so nah wie nur eben möglich an der Sache sind, wir vielleicht den ein oder anderen verschwommenen Farbton und vielleicht auch ein paar Konturen erkennen. Da wir in allen drei Situationen die selben Augen benutzen und auch den selben Verstand, so wäre die Konklusion korrekt, dass das zuletzt wahrgenommene der Wahrheit am nächsten kommt. Doch wieso eigentlich? Wir hatten doch eben festgestellt, dass sich alle drei Situationen in ihrer fundamentalen Objektivität überhaupt nicht unterscheiden. Zu drei Zeitpunkten werden drei verschiedene Dinge "gesehen". Man könnte ohne in Widerspruch zu geraten, auch sagen, dass der erste Anblick, also jener aus der Ferne der richtige war. Denn auch dies passiert uns oft, dass wir einen Schritt zurücktreten, um zu erkennen, was wirklich ist.

Ist es also, wie man heute allzuoft dahin sagt, eine bloße Frage der Mesoskopie oder muss die Frage mit einem ganz anderen Ansatz erfolgen? Oder anders gefragt.. kann Quantenphysik überhaupt etwas erklären, was außerhalb dieser Dimensionen liegt?

*1 Lassen wir mal außer Betracht, dass wir Kenntnis davon haben, dass es sich dabei um eine Luftschichtenthermik handelt. Man könnte also genausogut auch einen Stern - aus der Ferne betarchtet - als Beispiel nehmen.




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Nauplios
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Fr 12. Feb 2021, 00:52

iselilja hat geschrieben :
Do 11. Feb 2021, 17:33

Ist es also, wie man heute allzuoft dahin sagt, eine bloße Frage der Mesoskopie oder muss die Frage mit einem ganz anderen Ansatz erfolgen? Oder anders gefragt.. kann Quantenphysik überhaupt etwas erklären, was außerhalb dieser Dimensionen liegt?
Die Frage nach der Mesoskopie ist ja im Grunde die Frage nach der richtigen Distanz. Dabei ist die Vorstellung leitend, daß die Richtigkeit dieser Distanz nicht per se schon im kürzesten aller Abstände zur Wirklichkeit liegt, aber auch nicht in der denkbar größten Distanz. Die Wirklichkeit erfordert von sich aus ein Maß an Distanz, das ein Optimum an Einsicht ermöglicht in ihren Wesenszusammenhang. Im mésos der Skopie liegt dann das Richtige beschlossen. -

Ich möchte Dich in dieser Angelegenheit an die Habilitationsschrift Blumenbergs verweisen und ihre späteren Aus- und Umgestaltungen, Iselilja. - Die ontologische Distanz, in der das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit in seinen historischen Veränderungen untersucht wird. Ich denke, daß Deine Überlegungen aus dem "Entzauberungs"-Thread in der ontologischen Distanz ebenfalls eine Resonanz finden. Dort hattest Du geschrieben:

"Ich möchte vielmehr auf sowas wie Paradigmenwechsel, Bedeutungsverluste in der Sprache, Verschwinden und Hinzukommen technischer Gegebenheiten hinaus. Also im weitesten Sinne auf die weltliche Veränderung, die zwischen zwei Zeiten diagnostizierbar ist."

Das berührt zudem das Problem der Epochenschwelle. Auch Deine Überlegungen zur "Realität und mögliche Verstehensweisen eines Neuen Realismus"[*] können womöglich an die ontologische Distanz andocken. Ich bin zur Zeit noch nicht ausreichend vertraut mit der Habilitationsschrift Blumenbergs (Kurt Flasch berichtet ausführlich darüber in seiner Blumenberg-Monographie) ebensowenig mit den Weiterentwicklungen dieses Konzepts, die
im vergangenen Jahr unter dem Titel Realität und Realismus erschienen sind. Es ist also kaum mehr als ein Ahnen, was mich Dich auf diese Veröffentlichung aus dem Nachlaß aufmerksam machen läßt. - Vielleicht demnächst darüber mehr. -

[*] Realität und mögliche Verstehensweisen eines Neuen Realismus oder des Neuen Realismus? ;)




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iselilja
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Fr 12. Feb 2021, 21:57

Ich habe Deine Frage, ob sich meine Ausführungen dem Neuen Realismus widmen, bei mir aufgegriffen und auch einen vagen Ausblick versucht anzugeben. Einen wirklichen Fahrplan, wie ich es letztendlich in der Gesamtheit gestalte, habe ich nicht, nur so eine latent bleibende Vermutung, was davon am Ende hoffentlich verständlich bleiben könnte. Der Thread, den ich da gewagt habe, ist keineswegs einem rein logischen Kalkül geschuldet, welches sich auf sprachliche Konsistenz zu stützen versucht und dabei eine weitestgehende Widerspruchsfreiheit anstrebt, mit der Aussicht auch den kritischsten Argumenten stand zu halten. Ich folge also keinem wissenschaftlichen Kalkül in dieser Hinsicht.

Das Optimum - schön dass Du diesen Begriff ins Spiel bringst, denn dieser Gedanke leitet auch meine Überlegungen seit einer Weile - gewissermaßen als Gegenentwurf eines nach Maximalität strebenden Verständnisses von was auch immer. Doch wie findet man das optimale Maß, eine Sache zu beurteilen, ohne ein Kriterium des Maßnehmens angeben zu können - was am Ende bloße Willkür im Verstehen bleiben könnte. Und im Fokus verschiedener Epochen findet man einen solchen Anhaltspunkt, einen Punkt des gedanklichen Stehenbleibens - wenn auch nur für einen Moment. Es ist nämlich die Differenz, die sich offenbart. Man könnte es auch als Zeitgeist bezeichnen, das andere, welches dem eigenen Zeitgeist zuwider läuft. Und so wie sich schon am Ende einer (historischen) Epoche die Geister des Kommenden am Horizont zeigen, so erkennen auch manche Menschen frühzeitig die Notwendigkeit, sich mit jenen Geistern irgendwann auseinandersetzen zu müssen. So dass neue philosophische - oder auch philologische, im allgemeinen also geisteswissenschaftliche - Ansätze her müssen.

Philosophie ist hier der Schreibtisch der Geschichte, auf dem sich mehr Material angesammelt hat, als dass es jemand in der Lage wäre zu lesen. Und es ist das mesos, was uns gewiß macht, dass wir immer noch am Schreibtisch sitzen und nicht in irgendeinem Himmelreich. :-) Oder um es anders zu nenen.. es würde wenig Sinn machen, Textualität quantenphysikalsich beschreiben/erklären/begreifen zu wollen. Was übrigens auch umgekehrt gilt.




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Nauplios
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Sa 13. Feb 2021, 01:03

iselilja hat geschrieben :
Fr 12. Feb 2021, 21:57

Philosophie ist hier der Schreibtisch der Geschichte, auf dem sich mehr Material angesammelt hat, als dass es jemand in der Lage wäre zu lesen. Und es ist das mesos, was uns gewiß macht, dass wir immer noch am Schreibtisch sitzen und nicht in irgendeinem Himmelreich. :-) Oder um es anders zu nenen.. es würde wenig Sinn machen, Textualität quantenphysikalsich beschreiben/erklären/begreifen zu wollen. Was übrigens auch umgekehrt gilt.
Ja, ich bin durchaus einverstanden mit diesem Ausblick auf eine Theorie des Realismus. ;) Insbesondere hat mir das Bild von der Philosophie als "Schreibtisch der Geschichte" gefallen. Dieser Schreibtisch hat diverse Schubladen, unter denen es bestimmt auch solche gibt, in denen man die am "Material" gefundenen Wahrheiten aufbewahrt. Mindestens eine sollte dabei für Antworten auf die Frage reserviert sein, wie sich mit diesen Wahrheiten leben läßt. ;)




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Nauplios
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Do 18. Feb 2021, 02:00

Unter den Phantasmen und Imaginationen des menschlichen Vorstellungsvermögens nimmt die Reise zu den Sternen seit je einen prominenten Platz ein. In der Streitschrift zu Ludwig Börne ist von einem Wachtraum die Rede: "... und so flog ich von einem Stern zum andern. Sind aber keine bevölkerten Welten, wie andere träumen, sondern nur glänzende Steinkugeln, öde und fruchtlos. Sie fallen nicht herunter, weil sie nicht wissen, worauf sie fallen können. Schweben dort oben auf und ab, in der größten Verlegenheit." (Heinrich Heine; Sämtliche Schriften; Bd. IV, S. 55) -

Was sich hier an Verlegenheit hinsichtlich ihres Sinns zeigt, hatte sich in Heines ominöser nächtlichen Berliner Begegnung mit Hegel noch ganz anders dargestellt. So überliefert Heinrich Hubert Houben in seinen Gespräche(n) mit Heine davon wie ihm Heine einst von einem nächtlichen Spaziergang berichtet habe: "Plötzlich habe sich ihm, der ganz vergessen gehabt habe, wo er sei, eine Hand auf die Schulter gelegt, und er habe gleichzeitig die Worte gehört: Die Sterne sind's nicht: doch was der Mensch hineinlegt, das eben ist's. Er habe sich umgedreht und Hegel sei vor ihm gestanden." (Heinrich Hubert Houben; Gespräche mit Heine; S. 484f) -

So ließ sich noch einmal Kants Verklammerung des gestirnten Himmels mit dem moralischen Gesetz in der nächtlichen Begegnung im Herbst 1822 paraphrasieren. -




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Do 18. Feb 2021, 19:03

Was haben diese Sterne droben
Für ein Recht an mich
Daß sie mich begaffen.

(Goethe; Prometheus-Fragment I)

Die Integration der Götter in die kosmische Weltordnung (s. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; Der Glaube der Hellenen) ist übrigens keineswegs immer dem Prinzip des den kataskopischen Blick ermöglichenden erhöhten Plateaus gefolgt. Zwar ist der Olymp ihr erster Wohnsitz, doch sind es die metakosmía des Epikur, deren Übersetzung mit Intermundien unzureichend ist, welche die Götter ohne Anteilnahme an der Gestaltung des Kosmos sein läßt. Mit dieser Verstrickungsgeschichte wird es noch das Christentum in Form der Differenz
von Schöpfergott und Erlösergott zu tun bekommen. Deren Entfaltung in Dualismen wie Gut/Böse, Licht/Finsternis oder Geist/Fleisch durch die Gnosis hat bis heute ihre Attraktivität nicht eingebüßt.




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Nauplios
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Fr 19. Feb 2021, 18:36

Wenn in diesen Tagen die Blicke von Astronomen auf den Mars gerichtet sind, dann besteht eine der Hoffnungen dabei auf Antworten auf die Frage, ob es dort je Leben gegeben hat und wenn ja, in welcher Form. Gleichzeitig wird die jüngste Mars-Mission, deren Kosten sich auf ca. zwei Milliarden Dollar belaufen, auch auf ihren möglichen Nutzen für die Menschheit befragt, gerade in diesen Tagen. Doch hat sich die Neugier des Menschen noch nie vollends auf die Kalkulation eines Nutzens beschränken lassen. Das wirkmächtige curiositas-Verdikt des Augustinus hatte die Neugier schon deswegen in den Lasterkatalog aufgenommen, weil es den Menschen nichts anzugehen hatte, ob der Schöpfer sich eventuell noch an der Erschaffung anderer Welten, Prototypen oder Updates der bekannten, erprobt hatte. So klingt es nach einem Augenzwinkern in die christliche Spätantike zurück, wenn der Rover, der seit August 2012 Bodenproben von der Oberfläche des Mars analysiert, den Namen Curiosity trägt.




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iselilja
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So 28. Feb 2021, 09:49

iselilja hat geschrieben :
Fr 26. Feb 2021, 20:52
[...]
Ich meine die Realität, die keiner Theorie oder Meinung bedarf um Realität zu sein. Es ist aber durchaus möglich, dass Vico das selbe meinte. :-) Man bricht sich nicht das Bein, weil man zuvor die richtige Theorie des Beinbrechens hatte. Heidegger erklärt das besser als ich.. obwohl ich der Meinung bin dass Realität keiner Erklärung bedarf, denn jeder erlebt sie.

ps: Ich schreibe dazu nochmal etwas ausführlicher in deinem Thread "Wie im Himmel so auf Erden". Vielleicht wird dann etwas ersichtlich, was ich hier thematisch nicht so recht einordnen kann bzw. will, weil die in Richtung Religionskritik ginge.
[...]
Wo ich jetzt gedanklich hinführen möchte, versuche ich mal mit einer Erfahrung meinerseits einzuleiten. Es wird später hoffentlich sichtbar, warum ich das so mache.

Seit ich in diversen Philosophieforen schreibe und lese (möglicherweise war das aber auch schon zuvor so), bemerke ich einen qualitativen Unterschied meiner gadanklichen Herangehensweise an bestimmte Themen oder Sachverhalte. Ich schreibe (und lese) abends oder nachts in einem anderen Duktus als morgens oder am Tage. Abends stehen meine Gedanken im Schein des Mondes, morgens im Zeichen der aufgehenden Sonne. Ich könnte diesen metaphorisch - und leicht ans Esoterisch-Astrologische erinnernde - stehenden Kommentar dessen, was ich erlebe, auch in einer anderen Art und Weise erläutern. Ich könnte mich also ins Feld der Wissenschaft begeben und dort nach Erklärungen suchen, was der Grund dafür sei, dass ich an mir selbst solche Unterschiede in der Bezugnahme zu Themen/Sachverhalten erkenne. Warum habe ich das hier aber nicht gemacht, denn es wäre doch sehr viel fundierter?

Nun die Antwort ist eigentlich ganz einfach.. weil ich so nur einen einzigen Satz dafür benötige, um in groben Zügen verständlich zu machen, was hier "gesagt sein" will. Eine wissenschaftliche Erklärung dafür ließe sich bspw. schon bei Wikipedia finden, wenn man sich näher mit neurowissenschaftlichen Themen dort auseinander setzt. Die Funktioalität unserer Gehirnstruktur ist morgens regeneriert, während sie abends vom gedanklichen Ballast des Tages angereichert ist. Und wir wissen aus Erfahrung, dass es sich in engen - weil zugemüllten - Räumen schlechter bewegen lässt. Unsere Orienterung trifft am Abend auf qualitativ andere Räume als morgens. Unsere Gedanken sind mit den Gedanken des Tages eingefärbt/angereichert - also nicht klar und frei auf die Sachlichkeit des Themas gerichtet.

Doch was genau gewinne ich durch die moderne neurologische oder psychologische Begründung des Phänomens, welches ich erlebe? An dem Erlebten ändert sich dadurch nichts - ich erlebe deshalb ja nichts anderes. Die metaphorische Kommentierung des Erlebten verliert ebenfalls nicht ihren Wahrheitsanspruch. Denn sie ist ja auch überhaupt keine nach Begründung suchende Erläuterung des WARUMS. Sie ist vielmehr eine weltliche Einordnung, dessen was ich erlebe. Konkret: sie setzt das Erlebte in einen klar wiedererkennbaren zeitlichen Zusammenhang, der der Empirie gemäß korrekt ist. Ich erlebe es abends so und morgens so. Der Mond "geht abends auf" (präziser: er ist deutlicher sichtbar, wenn es dunkel ist) und die Sonne geht morgens auf.


Nun rechnen wir heute solche metaphorischen Bezugnahmen einer längst vergangenen Zeit zu, die sich obendrein - zumindest unserer Vorstellung nach - nicht mit realen Dingen beschäftigte, sondern einen religiösen oder spirituellen oder esoterischen Sinn in die Dinge hineinlegten. Bzw. auch heute wird das gelegentlich noch gemacht, es wird dann aber als esoterisch oder vielleicht auch lyrisch abgetan. Die Begründung dafür lautet zumeist, es ist unwissenschaftlich - es entspricht nicht unseren heutigen Vorstellungen von brauchbarem Wissen.

Nun ist es aber so, wie ich bereits angedeutet habe, dass sich durch unsere wissenschaftliche Näherung an das Erlebte, das Erlebte selbst nicht ändert. Und es hat sich auch nicht dann und dadurch geändert, wenn vor 2000 Jahren oder früher, jemand einen solchen Bezug zu den Sternen nahm - zu dem, was sich am Himmel abspielt. Denn wir müssen ja auch berücksichtigen, dass es zu dieser Zeit noch keine Zeitvorstellung gab, die der unseren heutigen entspricht. Minuten und Sekunden, geschweigedem Nanosekunden waren ja noch nicht als Maß erfunden. Das Maß war der Tag und der sichtbare Sonnenverlauf. Und im Horizont dieses auf der Höhe der Zeit liegenden Weltverständnisses waren selbstverständlich - alles andere wäre implausibel - auch die subsumierenden Zusammenfassungen solcher erlebter Sachverhalte das Maß des menschlichen mögliche Weltverständnisses.

Kurz: die Menschen haben sich zu allen Zeiten an der Realität mit ihren Bezugnahmen orientiert. Also an dem, was ihnen phänomenologisch in Erscheinung treten kann, und nicht an dem, was so noch garnicht da ist. Bspw. eine Zeiteinteilung nach Sekunden.


Und was wir heute in unserer Zeit erleben - gerade im Angesicht immer weiter auseinander gehender Welterklärungsversuche - ist nichts anderes, als eine polytheoretische Sicht der Welt. Wir könnten vor jedem universitären Bereich eine Statue aufstellen, die in anthropomorpher Gestalt verdeutlicht, was in diesem modernen "Tempel" gelehrt wird. In einigen Fällen machen wir das tatsächlich noch.. die Justizia ist uns mit ihrer Blindheit und ihrer Waage noch heute sehr vertraut. Gleichzeitig erkennen wir aber auch die Geister am Horizont, die nach einem einheitlichen Verständnis der Welt verlangen. Ein Beispiel dafür wäre etwa der Neue Realismus, der unter einer bestimmten Theorie das Gewicht der einzelnen Weltanschauungsmodelle zu verbinden sucht. Diese geschichtliche Paralleele finden wir auch im Aufkommen der Monotheismen wieder.

Und am Ende sehen wir (vermutungsweise) dass sich der Kreislauf der Geschichte des Menschen schließt, genauso wie sich die Bahnen der Himmelkörper immer wieder im Kreis schließen. Die Menschen waren schon immer realistisch, sonst hätte der Mensch auch garnicht überleben können. Und deshalb sollten wir auch versuchen, Götterglaube nicht als bloßen Glauben abzutun, sondern die dahinter sich entfaltende Weltsicht verstehen. Denn sie ist alles andere als unsinnig. :-) Denn ich sehe doch Mond und Sonne klar und deutlich und bilde mir das nicht ein.

ps: Und mit einer ganz ähnlichen Klarheit und Deutlichkeit kann ich erkennen, dass sich Geschichte wiederholt.




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iselilja
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So 28. Feb 2021, 10:54

iselilja hat geschrieben :
So 28. Feb 2021, 09:49
Und was wir heute in unserer Zeit erleben - gerade im Angesicht immer weiter auseinander gehender Welterklärungsversuche - ist nichts anderes, als eine polytheoretische Sicht der Welt.
Sogar unsere im 20. Jahrhundert immer stärker etablierte Bildungsinstitution des Polytechnikums orientiert sich eben genau an diesem polytheoretischen (früher polytheistischen) Bildungskanon, der eben eine breit angelegte Struktur unserer Weltsicht vermittelt. Das wesentliche Kriterium dabei ist die Differenzierbarkeit all dessen.




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iselilja
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Mo 1. Mär 2021, 19:31

Der Mythos zeigt auf etwas. Er ist damit das prädestinierte Mittel, etwas begreiflich zu machen, was zu gefährlich ist, es den Zuhörer erleben zu lassen - um zu begreifen. Und er kann ebenso auf etwas zeigen, was längst vergangen ist, zu lang, um es selbst nochmal erleben zu können.. etwa die eigene Kindheit.

Heute haben wir - entgegen der allgemeinen Auffassung, den Mythos nicht etwa durch den Logos ersetzt, sondern eher so etwas wie Fotorealismen - also Fotoalben und dergleichen, Filmdokumente etc. Spielfilme, Theater (ganz wichtig).

Theater ist deshalb so wichtig - vor allem für die philosophsiche Refelxion - weil es sich das Wort mit Theismus und Theorie teilt. Diese Dinge haben eine gemeinsame Basis.


Eine ganz ähnliche Paralleele finden wir im Sport der Olympioniken. Sport versucht sich in der Antike ebenfalls im agonalen Vergleich mit Waffen (das ist in der Reallität gefährlich) .. nur stirbt man daran nicht, wenns schlecht läuft. Genauso wie der Zuschauer im Theater nicht stirbt, und sei der Mythos noch so dramatisch.




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