Zwischen Wissenschaft und Literatur oder Was ist Philosophie?

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Jörn Budesheim
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Fr 7. Okt 2022, 12:13

Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 7. Okt 2022, 09:02
Die Philosophie produziert blanken Unsinn, sobald sie Text um des Textes willen und nicht um der Wirklichkeit willen produziert.
Allerdings ist ein Text auch ein Teil der Wirklichkeit und ein Text kann ggf. auch sich selbst zum Gegenstand haben.




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Lucian Wing
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Fr 7. Okt 2022, 12:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 7. Okt 2022, 12:13
Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 7. Okt 2022, 09:02
Die Philosophie produziert blanken Unsinn, sobald sie Text um des Textes willen und nicht um der Wirklichkeit willen produziert.
Allerdings ist ein Text auch ein Teil der Wirklichkeit und ein Text kann ggf. auch sich selbst zum Gegenstand haben.
Ja, ich hatte beim Formulieren überlegt, ob ich "Wirklichkeit" oder "Wahrheit" hinschreiben soll. Wobei mir der wichtigste Teil des Versuchs in dem "um ... willen" liegt. Aber ich muss noch einmal in mich gehen, ob ich meine Idee schärfer fassen kann. Ein bisschen spukt mir dabei immer der Gedanke Steiners von der "Stadt des Primären" im Kopf herum.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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AufDerSonne
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Mo 10. Okt 2022, 18:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Okt 2022, 18:42
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Die armen Bäume! Müssen auch immer für alles herhalten! :lol:



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Timberlake
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Di 11. Okt 2022, 01:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 10. Okt 2022, 18:42
Frege:
Philosophie ist wurzeltriebig
Naturwissenschaften sind wipfeltriebig
Ich antworte dir einmal darauf "sicherheitshalber" hier ... Zwischen Wissenschaft und Literatur oder Was ist Philosophie? ...2.0!




Timberlake
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Fr 14. Okt 2022, 14:10

Timberlake hat geschrieben :
Fr 14. Okt 2022, 13:52
Wo wir schon mal dabei , also dem Zynismus, sind ...

  • Der Epikureer hat denselben Gesichtspunkt wie der Zyniker; zwischen ihm und jenem ist gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine höhere Kultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während der Zyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschützten, halbdunklen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verraten, wie heftig bewegt da draußen die Welt ist. Der Zyniker dagegen geht gleichsam nackt draußen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab.
    Friedrich Nietzsche .. Zyniker und Epikureer.
Ich denke mal, dass Nietzsche hier sehr schön auf den Punkt gebracht hat , was Nauplios "Zwischen Wissenschaft und Literatur oder Was ist Philosophie?" und meine ...2.0 .. Version , hier in diesem Thread , unterscheidet. Nauplios wandelt darin in "gleichsam in windstillen, wohlgeschützten, halbdunklen Gängen" während ich hier .. "gleichsam nackt draußen im Windeswehen umher gehe". So wird m.E. auch verständlich , warum man dem Thread von Nauplios sehr viel eher zu geneigt ist.

Damit er bzw. jene "zu geneigten" dazu positionieren können, habe ich diesen Beitrag noch mal in Nauplios "Zwischen Wissenschaft und Literatur oder Was ist Philosophie?" gepostet.




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Jörn Budesheim
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Sa 15. Okt 2022, 22:04

Maurice Merleau-Ponty hat geschrieben : Die Philosophie ist nicht Wissenschaft, denn die Wissenschaft glaubt ihr Objekt überschauen zu können und hält die Wechselbeziehung zwischen Wissen und Sein für gesichert, während die Philosophie der Inbegriff jener Fragen ist, bei denen der Fragende durch sein Fragen selbst infrage gestellt wird.121




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Nauplios
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So 16. Okt 2022, 13:32

Timberlake hat geschrieben :
Fr 14. Okt 2022, 14:10
Timberlake hat geschrieben :
Fr 14. Okt 2022, 13:52
Wo wir schon mal dabei , also dem Zynismus, sind ...

  • Der Epikureer hat denselben Gesichtspunkt wie der Zyniker; zwischen ihm und jenem ist gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine höhere Kultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während der Zyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschützten, halbdunklen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verraten, wie heftig bewegt da draußen die Welt ist. Der Zyniker dagegen geht gleichsam nackt draußen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab.
    Friedrich Nietzsche .. Zyniker und Epikureer.
Ich denke mal, dass Nietzsche hier sehr schön auf den Punkt gebracht hat , was Nauplios "Zwischen Wissenschaft und Literatur oder Was ist Philosophie?" und meine ...2.0 .. Version , hier in diesem Thread , unterscheidet. Nauplios wandelt darin in "gleichsam in windstillen, wohlgeschützten, halbdunklen Gängen" während ich hier .. "gleichsam nackt draußen im Windeswehen umher gehe". So wird m.E. auch verständlich , warum man dem Thread von Nauplios sehr viel eher zu geneigt ist.
Damit bin ich durchaus einverstanden. "windstille, wohlgeschützte, halbdunkle Gänge". Gedanken brauchen solche (Gedanken-)Gänge. So viel gibt es zu entdecken, wobei dieses Entdecken dann ja auch kein Entdecken im gleißenden Aufklärungslicht ist, sondern im Sinne eines Auf-etwas-Stoßens. Der Epikureer befindet sich zwar in einer Distanz zu "herrschenden Meinungen" (im "Brief an Menoikeus" führt Epikur das aus), aber diese Distanz ist nicht von Umsturz und Revolution getragen. Der Epikureer verflüssigt starre Denkformen wie Weltanschauungen u.ä. Im Gerinnungssystem verfestigten Denkens ist seine Funktion die von Marcumar.




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Nauplios
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So 16. Okt 2022, 13:49

Jörn, Du hattest im Thread "Einen Tisch wahrnehmen" am frühen Morgen aus einer Dissertation zitiert; jetzt weiß ich weder die Autorin noch den Titel dieser Arbeit. Erschienen ist sie in einem renommierten deutschen Verlag für Philosophie. Es ging u.a. um das Ding bei Heidegger. - Kannst Du den Titel nennen? - Danke.




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Jörn Budesheim
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So 16. Okt 2022, 13:58

Voila :)
PHÄNOMENOLOGIE,
Texte und Kontexte
Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler

KONTEXTE Band 30

Kristin Theresa Drechsler,
Zartheit der Dinge,
Das poetische Moment der Wahrnehmung,
Verlag Karl Alber Freiburg /München

Das Buch bringt philosophische (bes. Heidegger und Merleau-Ponty) und künstlerische Positionen (Rilke, Ponge, Cézanne, Morandi u. a.) miteinander ins Gespräch und beleuchtet die Frage, ob es für den Menschen notwendig ist, den Dingen in ihrer Einzigkeit zu begegnen. Mit dieser Fragestellung wird ein Schritt hinter die aktuellen ›DingDebatten‹ zurückgegangen. Entscheidend ist die Beobachtung, dass Dingwahrnehmung auch eine ethische Komponente birgt. Ding erscheint als Ort der Begegnung gegenläufiger Bewegungen – nicht als beharrlicher austauschbarer Gegenstand, sondern in seiner Zartheit. Die Autorin: Kristin Theresa Drechsler, geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie lebt in Hamburg und ist dort u. a. als philosophische Praktikerin und Musikerin tätig.
Ich habe mir das Buch gekauft, weil mir der Gedanke mit der Begegnung gut gefallen hat. Bis jetzt bin ich nicht unzufrieden damit ...




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Nauplios
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So 16. Okt 2022, 14:07

Ja, das war es.

Danke Dir. :-)




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Jörn Budesheim
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So 16. Okt 2022, 14:39

Jetzt habe ich erst begriffen, worum es geht. Ich gabe das Zitat ja wieder entfernt, das hatte ich ganz vergessen. Aber es ist kein Geheimnis.
Drechsler, Zartheit der Dinge, Das poetische Moment der Wahrnehmung hat geschrieben :
... Heidegger [weist] darauf hin, dass beispielsweise zwischen einem Tisch 1 und Tisch 2 unterschieden werden könne, wobei der Tisch 1 »der seit der Kindheit bekannte Tisch« und Tisch 2 der wissenschaftliche Tisch sei.

Der Tisch kann sowohl physikalischer Gegenstand als auch der Tisch sein, an dem der Erwachsene einst als Kind seine ersten Schreibversuche, das weihnachtliche Plätzchenbacken oder das tägliche Abendbrot erlebt hat. Die erfahrene Wirklichkeit des Tisches ist hier jeweils eine andere. Dem Physiker bedeutet der Tisch vermutlich etwas Anderes als dem, der emotional mit diesem verbunden ist. Und doch würde man deshalb nicht von zwei Tischen sprechen, sondern davon, dass es hierbei um einen Tisch geht, der in unterschiedlicher Weise erlebt werden kann. Eine auf den ersten Blick ebenso banale Einsicht, ähnlich der, dass in der Wahrnehmung der Leib anwesend ist. Diese Banalität verkompliziert sich, wenn es darum geht, nach dem Ding zu fragen. Denn wonach wäre dann hier zu fragen? Nach welchem Tisch? Oder ist nicht die Frage ungenau, da nicht geklärt ist, was mit Ding eigentlich gemeint ist? Den Tisch als Ding anzunehmen würde ja bereits ein spezifisches Dingverständnis voraussetzen, das jedoch zunächst herauszustellen wäre. Folglich muss sich die Frage nach dem Was des Dinges hier in die nach dem Wie des Dinges wandeln, so dass es darum geht, zu fragen, wie der Tisch als Ding ist, nicht ob Tisch 1 eher einer ›Tischwirklichkeit‹ nahekommt als Tisch 2 ...




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Nauplios
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So 16. Okt 2022, 15:38

Ja, das hatte ich gelesen, ganz früh am Morgen, noch halb in Trance und dachte mir: merk dir das mal, das scheint eine interessante Untersuchung zu sein ... hab' dann auch im Netz die entsprechende Fundstelle gefunden, bin aber zum Lesen dann gar nicht mehr gekommen ... bin wieder eingeschlafen ... Stunden später war's dann weg ... :-)




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AufDerSonne
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So 16. Okt 2022, 22:46

Russell: "Wenn das, was hier gesagt worden ist, wahr ist, unterscheidet sich philosophische Erkenntnis nicht wesentlich von wissenschaftlicher Erkenntnis; es gibt keine besondere Quelle der Weisheit, die der Philosophie zugänglich wäre und der Wissenschaft nicht, und die Ergebnisse der Philosophie sind nicht radikal von den Ergebnissen der Wissenschaft geschieden."

"Die Philosophie kann mit Recht in Anspruch nehmen, dass sie die Gefahr des Irrtums vermindert und in einigen Fällen so geringfügig macht, dass man sie praktisch vernachlässigen kann."
"Mehr als das ist nicht möglich in einer Welt, in der Fehler gemacht werden müssen, und mehr würde auch kein vernünftiger Anwalt der Philosophie für sie in Anspruch nehmen."

Mit dem letzten Satz habe ich Mühe. "...Fehler gemacht werden müssen..." Aber vielleicht hat Russell recht.
Aber der zweitletzte Satz, dass also die Philosophie praktisch sichere Erkenntnisse liefern kann, finde ich ok. Ich denke, wenn man den Irrtum vermindern kann, ist das schon sehr gut. Nach Russell ist aber mehr möglich.

Beim ersten Satz, dass also Wissenschaft und Philosophie nicht sehr verschieden sind, frage ich mich dann, wenn er stimmt, ob dann nicht der Unterschied zur Literatur grösser werden müsste.
Oder gibt es eine schwache Verbindung vielleicht zwischen Literatur und Wissenschaft?



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AufDerSonne
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So 16. Okt 2022, 23:05

Ich weiss nicht wieso, aber bei "...Fehler machen müssen..." ist mir "The Sting" in den Sinn gekommen und die Musik dazu.
Hier der Link zum Lied: https://www.youtube.com/watch?v=vsFGcPujqKE

Vielleicht war der Gedanke. Ja, Verbrecher machen zwangsläufig Fehler. :D
Der Film ist übrigens genial.



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Nauplios
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Mo 17. Okt 2022, 10:51

AufDerSonne hat geschrieben :
So 16. Okt 2022, 22:46

Beim ersten Satz, dass also Wissenschaft und Philosophie nicht sehr verschieden sind, frage ich mich dann, wenn er stimmt, ob dann nicht der Unterschied zur Literatur grösser werden müsste.
Oder gibt es eine schwache Verbindung vielleicht zwischen Literatur und Wissenschaft?
Diese Vermutung, AufDerSonne, läßt sich allerdings von der vermeintlichen Selbstverständlichkeit leiten, daß die Literatur uns über den Menschen und sein In-der-Welt-Sein nichts Bedeutendes, nichts Wesentlichens zu sagen hat. Erkenntnis wäre danach die Domäne der Wissenschaft, während die Literatur und die Kunst allenfalls Erbauungs-, Trost-, und Unterhaltungsstücke aufführen, die dem Zeitvertreib, der Urlaubsbeschäftigung u.ä. dienen.

Es ist natürlich nicht so, daß Literatur und Kunst in direktem Vergleich mit dem methodisch gewonnenen Wissen der Wissenschaften ineins zu setzen sind. Kunst und Literatur haben eine andere Art von Wissen. Über das Paris des 19. Jahrhunderts und die bürgerlich-aristokratische Gesellschaft wird man kaum etwas in Erfahrung bringen, wenn man historische Straßenkarten, Einwohnermeldeverzeichnisse, konfessionelle Verteilungen, Einkommensverhältnisse und ähnliche Daten studiert; wohl aber durch die Lektüre eines Autors wie Marcel Proust. Damit sind sozialhistorische Studien keineswegs diskreditiert. - Ein Beispiel ist die monumentale Studie über den Mythos von Paris von Karlheinz Stierle, der natürlich auch eine Vielzahl solcher Daten zusammengestellt hat, aber darüber hinaus eine einzigartige Liebeserklärung an die Stadt abgibt.

Was die Verbindung zwischen Wissenschaft und Kunst angeht: wissenschaftliche Daten, etwa in der Medizin (welche Gehirnarreale sind wann aktiv?) werden ästhetisch aufbereitet, etwa bei der Farbgebung. Das wäre mal ein sehr lohnenswerter Forschungsbereich!




Timberlake
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Mo 17. Okt 2022, 14:25

Nauplios hat geschrieben :
Mo 17. Okt 2022, 10:51

Es ist natürlich nicht so, daß Literatur und Kunst in direktem Vergleich mit dem methodisch gewonnenen Wissen der Wissenschaften ineins zu setzen sind. Kunst und Literatur haben eine andere Art von Wissen. Über das Paris des 19. Jahrhunderts und die bürgerlich-aristokratische Gesellschaft wird man kaum etwas in Erfahrung bringen, wenn man historische Straßenkarten, Einwohnermeldeverzeichnisse, konfessionelle Verteilungen, Einkommensverhältnisse und ähnliche Daten studiert; wohl aber durch die Lektüre eines Autors wie Marcel Proust.
Um auf Hegel bzw. seine absolute Methode zurück zu kommen, so haben übrigens auch Philosophien eine andere Art von Wissen ..
  • Was wir als Hegels Philosophie bezeichnen , ist vor allem eine Methode , um den Lauf der Geschichte zu begreifen . Deshalb können wir von Hegel fast nicht sprechen, ohne den Gang der Geschichte zu erwähnen. Hegel Philosophie lehrt uns eigentlich nichts über die innerste Natur des Dasein , aber sie kann uns beibringen , auf fruchtbare Weise zu denken.
    Jostein Gaarder .. Sofies Welt S 426
.. wenn man denn Jostein Gaarder glauben schenken darf , im Fall Hegels eine Methode, um die o.g. bürgerlich-aristokratische Gesellschaft . wie auch alle anderen Gesellschaften , im Lauf der Geschichte zu begreifen.
  • Der Geist ist sich selbst voraus
    Der Philosoph Hans Blumenberg hat darauf hingewiesen, dass Metaphern für das menschliche Denken und Verhalten nicht weniger wichtig seien als klare Definitionen. Damit konnte Blumenberg die philosophische Begriffsgeschichte kategorial erweitern.
Oder um es mal mit einer Metapher zu versuchen ..
  • Für Hegel war die Geschichte ein .. Flußlauf. Noch die kleinste Bewegung im Wasser an einem bestimmten Punkt im Fluß wird in Wirklichkeit vom Fall des Wasser und den Wasserwirbeln weiter oben im Fluß bestimmt . Aber wichtig ist auch , welche Steine und Biegungen es im Fluß an der Stelle gibt , wo du stehst und ihn betrachtest.
    Jostein Gaarder .. Sofies Welt S 427
AufDerSonne hat geschrieben :
So 16. Okt 2022, 22:46

"Die Philosophie kann mit Recht in Anspruch nehmen, dass sie die Gefahr des Irrtums vermindert und in einigen Fällen so geringfügig macht, dass man sie praktisch vernachlässigen kann."
In diesem Sinne , dass Hegel eine Methode anbietet , die Geschichte zu begreifen , so kann eine Philosophie wohl tatsächlich , zumindest diesbezüglich , die Gefahr des Irrtums vermindern. Um allerdings den Irrtum in "einige Fällen" so geringfügig zu machen, dass man ihn praktisch vernachlässigen kann., dazu allerdings gehört seine Philosophie wohl tatsächlich .. vom Kopf auf die Füße gestellt.
  • Dialektischer Materialismus
    Marx dreht die hegelsche Dialektik um (stellt sie „vom Kopf auf die Füße“) und postuliert, dass sich die Welt, die objektive Wirklichkeit, aus ihrer eigenen materiellen Existenz erklären lässt und keinesfalls die Verwirklichung einer göttlichen, absoluten Idee oder gar des menschlichen Denkens ist, wie im Idealismus behauptet.




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Nauplios
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Mo 17. Okt 2022, 16:24

Es hat ja in der Geschichte der Philosophie schon sehr früh Spekulationen über die Geschichte, über die Art ihres Verlaufs (linear, zyklisch u.a.), über ein inneres Ziel, über Weg und Richtung dieses Ziels, über die Möglichkeiten menschlicher Einflußnahmen usw. gegeben.

Eine der frühen Vorstellungen ging von einem "Goldenen Zeitalter" aus als Startpunkt, von dem sich die Geschichte der Menschheit entfernt; einer der späten Entwürfe (Marx) sah in der "klassenlosen Gesellschaft" (nach Art eines letzten Goldenen Zeitalters) den Zielpunkt der Geschichte. Die christliche Religion geht von einem Heilsplan aus (Geschichte als Heilsgeschichte); Endzeiterwartungen und theologische Denkfiguren wie die Eschatologie spielen da mit hinein. Geschichte ist denkbar als Verfalls- und Dekadenzgeschichte ("Der Untergang des Abendlandes") oder als Geschichte einer Vervollkommnung ("Das Wirkliche ist das Vernünftige"); dann geht es nicht ohne die Inanspruchnahme eines Weltgeistes in der Steuerzentrale des Fortschritts. Einmal das Ganze vom Kopf auf die Füße - und wieder zurück.

Ich bin skeptisch gegenüber der Geschichtsphilosophie. Sie will zuviel. Und das Viele, was sie will, will sie mit wenigem erreichen. In ihrer Form bei Hegel und Marx macht sie verlockende Angebote, insbesondere für politische Agenden. "Wir haben den geschichtlichen Auftrag ..." Hier müssen die Warnglocken des Skeptikers Sturm läuten.




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Mo 17. Okt 2022, 16:39

Nauplios hat geschrieben :
Mo 17. Okt 2022, 10:51
AufDerSonne hat geschrieben :
So 16. Okt 2022, 22:46


Oder gibt es eine schwache Verbindung vielleicht zwischen Literatur und Wissenschaft?


Was die Verbindung zwischen Wissenschaft und Kunst angeht: wissenschaftliche Daten, etwa in der Medizin (welche Gehirnarreale sind wann aktiv?) werden ästhetisch aufbereitet, etwa bei der Farbgebung. Das wäre mal ein sehr lohnenswerter Forschungsbereich!
Bearbeitet haben diese Thematik etwa

Wolfgang Krohn (Hg) und andere in "Ästhetik in der Wissenschaft" in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft

"Physikerinnen und Physiker stützen sich bei der Beurteilung ihrer Arbeitsergebnisse exzessiv auf ihren Schönheitssinn. Sogar so weit, dass sie Ergebnisse, die hässlich sind, verwerfen. Sie feilen mit Blick auf die Ästethik der Ergebnisse so lange weiter, bis sie doch ihren Schönheitssinn befriedigen können.“

"Physiker setzen auf schöne Theorien"




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Nauplios
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Mo 17. Okt 2022, 16:52

"Bei den ästhetisch ansprechenden Farbbildern, die jetzt präsentiert wurden, ist allerdings eines zu bedenken: Unser Auge kann die Infrarotstrahlung, für das das James Webb Teleskop besonders empfindlich ist, nicht sehen. Daher sind diese Bilder Falschfarbenaufnahmen – dem Auge erschiene vieles einfach recht dunkel, jedenfalls nicht so bunt." (Link)

"Das atemberaubende Aussehen des Carina-Nebels in den frühesten veröffentlichten Bildern des James-Webb-Weltraumteleskops verdankt Alyssa Pagan viel. Als Entwicklerin von Science Visuals am Space Telescope Science Institute ist sie eine der Verarbeiterinnen, die die von Webb erfassten Daten in etwas übersetzen, das nicht nur sichtbar, sondern auch schön ist.

Pagan nennt die Arbeit eine 'Zusammenarbeit' zwischen Daten, ästhetischen Prinzipien, die über Jahrzehnte wissenschaftlicher Studien aufgebaut wurden, und subjektivem Geschmack." (Link)




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