Zwischen Wissenschaft und Literatur oder Was ist Philosophie?

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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AufDerSonne
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Fr 30. Sep 2022, 18:36

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 30. Sep 2022, 16:33

Der "Pythagoreische Lehrsatz" ist ein Beispiel für das, was Frege meint, stimmt. Allerdings ist er nicht einfach nur ein Beispiel für Gedanken die zeitlos wahr sind, unabhängig davon, ob irgendjemand sie für wahr hält. Sondern zugleich für etwas, was nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Das sind mehrere Aspekte, von denen man nicht einfach einen weglassen kann, ohne den Sinn des Beispiels zu tangieren.
Du redest doch nur von genau einem Aspekt? Etwas, was nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Wo sind die anderen Aspekte?
Man kann ein rechtwinkliges Dreieck zeichnen mit Bleistift und Lineal. Und dieses Dreieck mit den Sinnen wahrnehmen und sich von dem besagten Gesetz überzeugen.

Der Satz des Pythagoras hat übrigens eine große Bedeutung für die Geometrie.

Ach so. Habe es wieder nicht richtig verstanden. Sorry. Nein, Frege irrt hier glaube ich. Den Satz des Pythagoras kann man mit den Sinnen wahrnehmen.



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Nauplios
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Stefanie hat geschrieben :
Fr 30. Sep 2022, 23:25

In dem anderen Thread was ist Philosophie sind wir auch bislang nur im europäischen Teil der Philosophie, vielleicht mal mit Duldung nordamerikanische Philosophinnen und Philosophen.
"In dem anderen Thread" - also in diesem Thread. Damit der Frauen-Thread nicht zum Schauplatz der hier verhandelten Thematik wird, eine Bemerkung dazu an dieser Stelle:

"... vielleicht mal mit Duldung" - von meiner Seite als Threadstarter dazu dies: die Beiträge dieses Strangs unterliegen (aus meiner Perspektive) nicht der Regentschaft einer Duldung oder Nicht-Duldung. Wenn auch als Plauderei angelegt, ist dennoch gelegentlich mit "Inhalten" zu rechnen, in friedlicher Koexistenz; die Übergänge sind fließend.

Diese Inhalte bemessen sich - wie zu erwarten - nach der Wirkungsgeschichte der europäischen Philosophiegeschichte. Wonach denn sonst?? Daß in diese europäische Philosophietradition auch außereuropäische Einflüsse eingehen, darauf habe ich vor wenigen Tagen hingewiesen:
Nauplios hat geschrieben :
So 25. Sep 2022, 11:23

Dort gibt es natürlich auch andere Einflüsse: die antike Philosophie, die arabische Philosophie, den Islam (auch eine Religion)! -
(Nebenbei: Auf die Kritik der schwarzen Vernunft des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe hab' ich im Forum mehrfach hingewiesen; außerdem auf Tsenay Serequeberhan; Die Philosophie und das postkoloniale Afrika: Historizität und Denken, in: Afrikanische politische Philosophie; S. 59f - Link)

Daß die europäische Tradition der Philosophie in die griechische Antike zurückreicht und von dort ihre Impulse bezogen hat und nicht von der chinesische Shang‑Dynastie, daran bin ich schuldlos.

Daraus zu induzieren, nur der "europäische Teil der Philosophie" erfreue sich hier der "Duldung" ist Beckmesserei.




Nauplios
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Sa 1. Okt 2022, 02:21

Eines der in der afrikanischen Philosophie wirkmächtigen Konzepte ist das der Négritude. Es geht zurück auf den Dichter und späteren ersten Präsidenten der Republik Senegal, Léopold Sédar Senghor. Das kleine Zitat aus einer Rede Senghors, das hier im Bericht zu seinem Tode 2001 in der Neuen Zürcher Zeitung wiedergegeben wird, zeigt die Nähe zur Thematik dieses Threads. Es geht um Distanz, um diskursive Vernunft, um tiefer liegende Realitätsschichten u.ä.:

"Senghor hat die Négritude stets als Ensemble der von Schwarzen - Afrikas, aber auch Amerikas - hervorgebrachten zivilisatorischen Werte wirtschaftlicher, politischer und kultureller Art definiert. In seinen späteren Schriften ergänzte er diesen objektivistischen Begriff mit dem Zusatz, die Négritude umfasse auch die Art und Weise, wie jeder Schwarze jene zivilisatorischen Werte auslebe. (...) 'Der Weisse', sagte er in einem Vortrag an der Lovanium-Universität in Kinshasa, 'hält den Gegenstand auf Distanz. Er betrachtet ihn, analysiert ihn, tötet oder zumindest zähmt ihn - um ihn zu gebrauchen. Der Negro-Afrikaner berührt den Gegenstand, noch bevor er ihn wahrnimmt, er schliesst sich seinen Wellen und Konturen an, um dann, quasi in einem Liebesakt, sich ihm anzugleichen, um ihn in seiner ganzen Tiefe kennenzulernen. Dort, wo sich die diskursive Vernunft, die Augenvernunft des Weissen, mit der Erscheinungsoberfläche der Dinge zufriedengibt, dringt die intuitive, umklammernde Vernunft des Afrikaners über das bloss Sichtbare hinaus in die tiefer liegende Realitätsschicht vor, um deren Sinn zu erfassen.' Gelegentlich hat Senghor diese Dichotomie, die sich ganz ungeniert metaphysischer Konzepte bedient, zum Satz 'Die Emotion ist schwarz, die Vernunft hellenisch' zugespitzt." (Verkünder der Négritude)




Nauplios
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Sa 1. Okt 2022, 03:02

Am Center for Contemporary European Philosophy der Radbound Universiteit in Nijmegen hat Séverine Kodjo-Grandvaux aus der Elfenbeinküste 2018 einen Vortrag über Afrikanische Philosophie gehalten.




"Le concept de la traversée en privilégiant les rencontres, le mouvement, les fusions et les médiations, en multipliant les perspectives et en choisissant de croiser les expériences, nous suggère que le philosophe peut être ce nomade qui erre de lieu en lieu. Errer, ce n’est pas nécessairement se tromper et divaguer. C’est aussi la possibilité de traverser des réalités différentes, de les habiter, d’accepter l’imprévisible et le non-encore, parce que justement l’on refuse de marcher sur un chemintracéd’avance etd’yêtre entravé." (Séverine Kodjo-Grandvaux: Effets de miroir: penser l’Afrique, penser le monde in: Alain Mabanckou (Hg) Penser et écrire l' Afrique aujourd'hui; S. 62)

"Das Konzept der Überschreitung durch die Förderung von Begegnungen, Bewegungen, Verschmelzungen und Vermittlungen, durch die Multiplikation von Perspektiven und die Entscheidung, Erfahrungen zu überqueren, legt uns nahe, dass der Philosoph dieser Nomade sein kann, der von Ort zu Ort wandert. Irren heißt nicht unbedingt Fehler machen. Es ist auch die Möglichkeit, verschiedene Realitäten zu durchqueren, sie zu bewohnen, das Unvorhersehbare und das Noch-nicht zu akzeptieren, gerade weil man sich weigert, einen vorgezeichneten Weg zu gehen und sich von ihm einengen zu lassen."

Der Philosoph als Nomade der Überschreitung, als der Wanderer von Ort zu Ort - vielleicht ja auch ein Philosoph, der den Umweg kultiviert.




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Jörn Budesheim
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Sa 1. Okt 2022, 07:16

Nauplios hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 01:15
Stefanie hat geschrieben :
Fr 30. Sep 2022, 23:25

In dem anderen Thread was ist Philosophie sind wir auch bislang nur im europäischen Teil der Philosophie, vielleicht mal mit Duldung nordamerikanische Philosophinnen und Philosophen.
"In dem anderen Thread" - also in diesem Thread. Damit der Frauen-Thread nicht zum Schauplatz der hier verhandelten Thematik wird, eine Bemerkung dazu an dieser Stelle:

...
Wenn man Bücher über die Geschichte der Philosophie liest, wird dort ebenso zumeist die Entwicklung der "westlichen/europäischen" Philosophie betrachtet. Beginnend bei den Vorsokratikern bis hin zur Dekonstruktion ... (Das ist natürlich nicht grundsätzlich so, manchmal werden auch andere Linien zumindest erwähnt.)

Der Philosoph Gernot Böhme hat dazu einen interessanten Vorschlag gemacht, der sich aber nicht durchgesetzt hat, den ich verkürzt, aber hoffentlich noch einigermaßen richtig wiedergeben möchte: Sein Vorschlag ist, diese diversen Traditionen nicht insgesamt und allgemein Philosophie zu nennen. Er schlägt stattdessen vor, einen neuen Oberbegriff zu wählen: er spricht von Weisheitslehren. Weisheitslehren gibt es in allen Winkeln der Welt in verschiedenen Ausprägungen. Philosophie ist dann der der europäische Weg, die europäische Ausprägung der Weisheitslehre.

Das erinnert mich ein bisschen an die Kunstgeschichte - dort wird in der Regel auch nur die europäische Linie erzählt, die sich dann natürlich "globalisiert".




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Jörn Budesheim
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Sa 1. Okt 2022, 12:49

"Kann ich das auch?" ist der Titel des Buches von Kolja Reichert, das Kunst ganz einfach erklären will.

Der ehemalige FAZ-Kritiker beantwortet 50 Fragen, die man auch ohne Expertenwissen an Kunstwerke haben könnte
...

"Worauf kommt es an?" Worauf denn?

Kolja Reichert: Auf alles. Beim Busfahren, beim Fußball, selbst in der Liebe gibt es Regeln und Normen, die man ausblendet, wenn man Spaß haben will. In der Kunst steht wirklich alles zur Debatte, wie in der Philosophie. Kunst ist Philosophie mit Objekten. Jeder kleinste Eisenspan, jeder Pinselstrich, ist ein Argument, das trägt oder nicht, in seiner je eigenen, nie ganz übersetzbaren Sprache. Jedes Detail kann das Ganze ruinieren. Deshalb steht für Künstler, die sich nicht hinter Maschen verstecken, alles auf dem Spiel. Und deshalb erlaubt uns Kunst, wie auch Literatur oder Theater, die größtmögliche Geistesgegenwart. Mit dem Unterschied, dass auch wir in jedem Moment selbst entscheiden müssen, wie und wie lange wir von wo drauf schauen.

https://www.monopol-magazin.de/kolja-re ... h-das-auch




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AufDerSonne
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Sa 1. Okt 2022, 16:35

Vielleicht die Frage, was ist Philosophie, einmal noch aus einem anderen Blickwinkel.
Wann beginnt Philosophie? Ich meine im Alltag. So ein kurzer Smalltalk zwischen Arbeitskollegen würden wir vielleicht noch nicht als Philosophie bezeichnen.
Einen Roman schon eher. Oder auch noch nicht? Ein Fachbuch über Computer auch eher nicht.

Auf der anderen Seite haben wir dann Kant oder Aristoteles, was kaum jemand freiwillig liest. Also wo beginnt Philosophie?



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Sa 1. Okt 2022, 17:57

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 16:35

Auf der anderen Seite haben wir dann Kant oder Aristoteles, was kaum jemand freiwillig liest.
Wie bitte? :o

"Auf der anderen Seite"? - Welche "andere Seite" denn? - Es gibt nur diese eine Seite. Eine Verpflichtung, sich damit zu beschäftigen, gibt es nirgendwo. Nicht mal das Glück ist davon abhängig. Ohne Philosophie lebt es sich genauso gut - vielleicht sogar besser. - Wenn man sich dennoch mit Platon, Aristoteles, Kant und Co. beschäftigt, beruht das auf einem Akt der Neugier, von mir aus auch, um die Zeit zu vertreiben, vor allem jedoch aus einer freien Entscheidung heraus. Man tut es oder man tut es nicht. Letztes, weil man Besseres zu tun hat, weil einem die Zeit dafür zu schade ist, weil man Philosophie grundsätzlich für nutzlos hält u.ä.

Wofür man sich auch immer entscheidet: Zwang ist nicht dabei. Falls man sich dennoch dafür erwärmt, sind Platon und Kant sinnvolle Adressen. Wer denn sonst? - Dieter Bohlen? Lukas Podolski?

Daß die lesende Beschäftigung mit einem Philosophen mühevoll ist, ist eine Erfahrung, die man selbstverständlich auch macht. In Zeiten des Internets gibt es viele Möglichkeiten der Hilfe. Unter anderem kann ein Forum dazugehören.




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Sa 1. Okt 2022, 18:12

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 07:16

Das erinnert mich ein bisschen an die Kunstgeschichte - dort wird in der Regel auch nur die europäische Linie erzählt, die sich dann natürlich "globalisiert".
"Eine wegweisende Station seiner Biografie wird durch eine Reise markiert, die er 1895/96 in den Westen der USA zu den Indianern unternimmt. Sein Ziel sind zunächst die Cliff dwellings' in der Mesa Verde von Colorado. Das sind Höhlenwohnungen und unterirdische Festplätze, sogenannte 'Kivas'. Diese Fahrt bezeichnet er als 'Reise in das amerikanische Pompeji'. Von Colorado geht es weiter nach Santa Fe und Albuquerque in New Mexico. Dort befinden sich Reservate der Pueblo-Indianer, wo er einigen ihrer Tänze beiwohnt. So kann er die Entstehung symbolischer Kunst in actu studieren und sich Zusammenhänge zwischen religiösen Vorstellungen und künstlerischer Tätigkeit erschließen. Nach und nach wird aus dem detailverliebten Bildhistoriker ein Anthropologe, der in Ritualen und Symbolen die Geschichte des Leidens wie der Leidenschaften verkörpert sieht." (Link)

Die Rede ist von Aby Warburg.




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AufDerSonne
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Sa 1. Okt 2022, 18:14

Ha @Nauplios! Ich habe dich wieder einmal verstanden. Du hast einen ganzen Post ohne ein Fremdwort geschrieben. Hut ab! :D
Ich will nur sagen, dass die meisten Menschen Aristoteles oder Kant nicht lesen. Vielleicht in der Schule einmal ein wenig, aber sonst nicht.
Es gibt aber sehr viele Menschen, die zur Unterhaltung gerne einmal einen Roman lesen. Oder sonstige Literatur. Etwa ein Krimi oder so.

Noch einmal. Es sind nur wenige Menschen, die ein Buch von Kant oder Aristoteles tatsächlich gelesen haben. Noch weniger werden sie verstanden haben.
Dann gibt es noch die Gruppe, zu der ich gehöre, die sich zwar für Philosophie interessieren, aber nur Laie sind. Also die die ganz schwierigen Bücher auch nicht verstehen.

Ich kämpfe ein bisschen damit, dass man, um hier im Forum gehört zu werden, schon die halbe Philosophiegeschichte kennen muss und alle bedeutenden Philosophen noch gleich dazu.
Dazu fehlt mir im Moment die Lust und auch das Interesse ist nicht stark genug. Aber ein wenig plaudern möchte ich schon.

Aber meine Frage finde ich gar nicht schlecht. Ist ein Gespräch im Alltag Philosophie oder nicht?



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Sa 1. Okt 2022, 18:49

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 18:14
Ha @Nauplios! Ich habe dich wieder einmal verstanden. Du hast einen ganzen Post ohne ein Fremdwort geschrieben. Hut ab! :D
Ich will nur sagen, dass die meisten Menschen Aristoteles oder Kant nicht lesen. Vielleicht in der Schule einmal ein wenig, aber sonst nicht.
Es gibt aber sehr viele Menschen, die zur Unterhaltung gerne einmal einen Roman lesen. Oder sonstige Literatur. Etwa ein Krimi oder so.

Noch einmal. Es sind nur wenige Menschen, die ein Buch von Kant oder Aristoteles tatsächlich gelesen haben. Noch weniger werden sie verstanden haben.
Dann gibt es noch die Gruppe, zu der ich gehöre, die sich zwar für Philosophie interessieren, aber nur Laie sind. Also die die ganz schwierigen Bücher auch nicht verstehen.

Ich kämpfe ein bisschen damit, dass man, um hier im Forum gehört zu werden, schon die halbe Philosophiegeschichte kennen muss und alle bedeutenden Philosophen noch gleich dazu.
Dazu fehlt mir im Moment die Lust und auch das Interesse ist nicht stark genug. Aber ein wenig plaudern möchte ich schon.

Aber meine Frage finde ich gar nicht schlecht. Ist ein Gespräch im Alltag Philosophie oder nicht?
Plauderei gehört zur DNA dieses Threads, AufDerSonne. Dagegen gibt es nichts zu sagen.

Die eigentliche Beschäftigung mit der Philosophie geht in Plauderei allerdings nicht vollständig auf. Diese eigentliche Beschäftigung ist ein einsames Geschäft: ein Text - ein Leser. Wir können uns nicht zu einem Kollektivbewußtsein zusammenschalten. Das Bewußtsein hat keine Anschlußbuchsen dafür. Wir können dennoch Anschluß suchen, können über das Gelesene reden, auch plaudern. Nur der "Ursprungsakt", aus dem heraus wir reden, plaudern, erzählen, argumentieren ... ist ein einsamer.

Ist das schlimm? - Für den, der ohnehin einsam ist: ja. Er wird in einem Forum vielleicht eine Wärmestube in der Wirklichkeit sozialer Kälte und Vereinsamung sehen. Das kann ich gut nachvollziehen. Das ist auch nicht zu bemängeln; wir haben ja spezielle Rubriken dafür.

Ich möchte noch mal etwas zu Deiner Frage sagen, die Du vor dem Hintergrund "Subjekt/Objekt" am Donnerstag gestellt hast: "Bin ich jetzt dumm?"

Mit diesem Attribut der Dummheit läßt sich wenig anfangen, eigentlich gar nichts, weil das Verstehen nicht eine Frage besonderer Schlauheit ist, sondern eine Frage des Mensch-Seins. Die Frage nach "dem Menschen" (s. den Beitrag von Jörn von Donnerstag, 14.37 Uhr) gibt da die entsprechenden Hinweise.




Nauplios
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Sa 1. Okt 2022, 19:08

Apropos "Ein Text - ein Leser": spricht nicht auch der Text zum Leser? - Man ist beim Lesen zunächst mal mit sich allein - aber bleibt man es?

Ist nicht das Lesen - bei aller Mühe des Verstehens - eine lustvolle Angelegenheit?




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Sa 1. Okt 2022, 19:17

AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 18:14

Aber meine Frage finde ich gar nicht schlecht. Ist ein Gespräch im Alltag Philosophie oder nicht?
Nein. Auch liest man einen Roman von Thomas Mann, von Marcel Proust, von James Joyce von Robert Musil ... nicht "zur Unterhaltung". Das schließt nicht aus, daß es auch einen unterhaltenden Effekt haben kann. Das kann ein philosophischer Text aber auch haben. Ich mißtraue diesen Unterschieden; nicht mal einen Kriminalroman würde ich auf die Funktion der Unterhaltung beschränken.




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Stefanie
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Sa 1. Okt 2022, 20:55

Nauplios hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 19:08
Apropos "Ein Text - ein Leser": spricht nicht auch der Text zum Leser? - Man ist beim Lesen zunächst mal mit sich allein - aber bleibt man es?

Ist nicht das Lesen - bei aller Mühe des Verstehens - eine lustvolle Angelegenheit?

Sehe ich wohl auch so.
Natürlich ist Mann und Frau beim Lesen eines Buches nicht allein, das Buch und der Text ist doch dabei.
Blöd wird es nur dann, wenn z.B. in Runden mit andern Menschen, sei es Kolleginnen, Verwandten, Bekannten, festgestellt wird, dass ich oft ganz was anderes gelesen habe, ich meine jetzt Romane, als alle anderen. Ich lese keine Krimis, keine Thriller, kein Herr der Ringe, kein Harry Potter, keine Fantasy-Romane, keine Charlotte Link und Co. Oder Nele Neuhaus. Dann klappt das in der Regel nicht mit einer Unterhaltung über Romane.

Mühe.. Ich weiß nicht, ob es Mühe ist, wenn versucht wird etwas zu verstehen. Ich lese ja philosophische Texte nicht weil ich muss, sondern weil ich es will.
Ich liebe Geschichten, und das unterhält mich natürlich.
Zudem gehöre ich zu denjenigen, die eine Buch nicht zu Ende lesen, wenn es mich nicht eingefangen hat.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Lucian Wing
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Sa 1. Okt 2022, 21:33

Nauplios hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 19:17
AufDerSonne hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 18:14

Aber meine Frage finde ich gar nicht schlecht. Ist ein Gespräch im Alltag Philosophie oder nicht?
Nein. Auch liest man einen Roman von Thomas Mann, von Marcel Proust, von James Joyce von Robert Musil ... nicht "zur Unterhaltung". Das schließt nicht aus, daß es auch einen unterhaltenden Effekt haben kann. Das kann ein philosophischer Text aber auch haben. Ich mißtraue diesen Unterschieden; nicht mal einen Kriminalroman würde ich auf die Funktion der Unterhaltung beschränken.
Warum sollte ich den Zauberberg oder den Mann ohne Eigenschaften nicht rein zur Unterhaltung lesen?
Dürrenmatt sagte über sich, er lese Philosophie wie Kriminalromane, und Rorty meinte, Blumenberg schreibe Wissenschaftskrimis - beide verweisen also explizit auf das Unterhaltungsgenre. Letztendlich bestimmt ja die Lektürehaltung des Individuums, und es gibt bekanntlich ein paar grundsätzlich unterschiedliche Ansätze, den Schwerpunkt des textlichen Inhalierens.

Stefanie hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 20:55
Nauplios hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 19:08
Apropos "Ein Text - ein Leser": spricht nicht auch der Text zum Leser? - Man ist beim Lesen zunächst mal mit sich allein - aber bleibt man es?

Ist nicht das Lesen - bei aller Mühe des Verstehens - eine lustvolle Angelegenheit?

Ich liebe Geschichten, und das unterhält mich natürlich.
Zudem gehöre ich zu denjenigen, die eine Buch nicht zu Ende lesen, wenn es mich nicht eingefangen hat.
Ja, das ist das dritte der zehn unantastbaren Rechte des Lesers nach Pennac:

Das Recht, nicht zu lesen
Das Recht, Seiten zu überspringen
Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen
Das Recht, noch einmal zu lesen
Das Recht, irgendwas zu lesen
Das Recht auf Bovarysmus (also das Gelesene mithilfe der Fantasie real werden zu lassen)
Das Recht, überall zu lesen
Das Recht, herumzuschmökern
Das Recht, laut zu lesen
Das Recht, zu schweigen

(Persönlich hätte ich vielleicht noch das Recht, lieber zu lesen als irgendwas unternehmen - sowas in der Art - noch hinzugefügt. :D )



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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Und wie lauten die Rechte des Textes?




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Eine Lanze für den Kriminalroman möchte ich doch brechen. Georges Simenon: das sind ja im Grunde sozialhistorische Miniaturen der französischen Gesellschaft der 30er/40er Jahre ... Raymond Chandler und sein melancholischer Detektiv Philip Marlowe für die 40er/50er Jahre in Amerika ... Wilkie Collins für das viktorianische Zeitallter ...

Nichts gegen den Kriminalroman. -




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AufDerSonne
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Sa 1. Okt 2022, 22:05

Nauplios hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 19:08
Apropos "Ein Text - ein Leser": spricht nicht auch der Text zum Leser? - Man ist beim Lesen zunächst mal mit sich allein - aber bleibt man es?

Ist nicht das Lesen - bei aller Mühe des Verstehens - eine lustvolle Angelegenheit?
Beim Lesen eines Buchs ist man in gewisser Weise mit dem Autor zusammen.
Man versucht ja, die Gedanken eines anderen Menschen, vom dem, der das Buch geschrieben hat, zu verstehen.
In einem gewissen Sinn ist man zu zweit. :) Lesen ist also ein sozialer Akt?



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Sa 1. Okt 2022, 22:11

Nauplios hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 18:49


Ich möchte noch mal etwas zu Deiner Frage sagen, die Du vor dem Hintergrund "Subjekt/Objekt" am Donnerstag gestellt hast: "Bin ich jetzt dumm?"

Mit diesem Attribut der Dummheit läßt sich wenig anfangen, eigentlich gar nichts, weil das Verstehen nicht eine Frage besonderer Schlauheit ist, sondern eine Frage des Mensch-Seins. Die Frage nach "dem Menschen" (s. den Beitrag von Jörn von Donnerstag, 14.37 Uhr) gibt da die entsprechenden Hinweise.
Hmja. Also das Verstehen hat ja schon mit Schlauheit zu tun. Und gerade bei Subjekt und Objekt ist mir fast nie klar, was der Autor meint. Subjekt ist doch in der Regel der Handelnde. Objekt das, woran die Handlung ausgeführt wird. Zum Beispiel. Subjekt bin ich und Objekt ist mein Schreibtisch. Ist das in etwa richtig?



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Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 1. Okt 2022, 21:33

Warum sollte ich den Zauberberg oder den Mann ohne Eigenschaften nicht rein zur Unterhaltung lesen?
Dürrenmatt sagte über sich, er lese Philosophie wie Kriminalromane, und Rorty meinte, Blumenberg schreibe Wissenschaftskrimis - beide verweisen also explizit auf das Unterhaltungsgenre. Letztendlich bestimmt ja die Lektürehaltung des Individuums, und es gibt bekanntlich ein paar grundsätzlich unterschiedliche Ansätze, den Schwerpunkt des textlichen Inhalierens.
Es spricht nichts dagegen, wenn man den Zauberberg oder den Mann ohne Eigenschaften "rein zur Unterhaltung" liest. Es kommt vielleicht dabei auch darauf an, wie weit man sich unterhalten fühlt, ob es für Finnegans Wake oder für Arno Schmitts Zettels Traum auch noch gilt.

Marquards Charakteristik der Bücher Blumenbergs als "gelehrte Wälzer getarnte Problemkrimis" mag zutreffen, aber so ganz ohne "Mühe" von seiten des Lesers wird sich dabei kein Unterhaltungswert ergeben, oder?

Ich meine mit "Unterhaltung", daß dem Lesen dabei nichts abverlangt wird, was es nicht ohnehin bereitwillig gibt; Lektüre ohne Zumutung.




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