Zwischen Wissenschaft und Literatur oder Was ist Philosophie?

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Jörn Budesheim
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So 25. Sep 2022, 16:19

Vielleicht mal ein Beispiel. Oben wurde ein Buch von Peter Wohlleben über die Bäume bzw den Wald erwähnt. Ich hatte mir dazu mal vor längerem eine Leseprobe besorgt, weil mich das Thema Natur auch als Künstler sehr interessiert (ich mache Ende des Jahres mit ein paar Kollegen und Kolleginnen eine Ausstellung im weitesten Sinne zu diesem Thema). Aber das Buch war letztlich für mich unbrauchbar, weil es ohne Hilfe eines Philosophen oder einer Philosophen geschrieben war und daher z.B. keine Reflexion auf das genutzte Vokabular vorlag. Meines Erachtens brauchen wir ein besseres Verständnis der Natur und dafür sind solche Bücher im Grunde unverzichtbar, aber in der vorliegenden Form leider unbrauchbar.

Zur Sicherheit: ich will damit keineswegs sagen, dass das das einzige Betätigungsfeld der Philosophie ist, Naturwissenschaftler, Forster oder wen auch immer gleichsam vor Torheiten zu schützen, aber es gehört auch dazu.




Nauplios
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So 25. Sep 2022, 16:26

Wie kann die Philosophie argumentativ mithalten? - Im wissenschaftlichen Diskurs derjenigen, die Künstliche Intelligenz entwickeln, kann der Philosoph nicht die Rolle desjenigen einnehmen, der besser entwickelt, besser programmiert, die Technologie besser bedient usw. Als Erinnerungs- und Restpostenverwalter kann er seinen Bedenken, seinen Beobachtungen Ausdruck verleihen (das ist nicht das Einzige, was er kann), also expressiv vorbringen, er kann die Erzählungen vom Menschen als Geschöpf und Schöpfer offenlegen, Arbeit am Mythos leisten, der Künstlichkeit der Künstlichen Intelligenz die Kunst zur Seite stellen, er kann die Dinge in eine Geistesgeschichte der Technik einordnen usw.




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Jörn Budesheim
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So 25. Sep 2022, 16:51

Ich finde, die Philosophen und Philosophinnen können dazu einiges beitragen. Sie haben diverse Antworten auf die Frage "was ist der Mensch?" Sie haben Antworten auf die Frage, wie Wörter zu ihren Bedeutungen kommen. Und einiges mehr ... Das müssen nicht mal fertige Antworten sein, es reicht manchmal schon eine besonders wertvolle Form der Begriffsstutzigkeit (ich weiß nicht mehr, wer das so schön formuliert hat). Und das kann dazu führen, dass man vor allzu voreiligen Schlüssen zurückschreckt, innehält und über das, was man sagen will, noch mal genauer nachdenkt.




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So 25. Sep 2022, 17:05

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Sep 2022, 16:19
Vielleicht mal ein Beispiel. Oben wurde ein Buch von Peter Wohlleben über die Bäume bzw den Wald erwähnt. Ich hatte mir dazu mal vor längerem eine Leseprobe besorgt, weil mich das Thema Natur auch als Künstler sehr interessiert (ich mache Ende des Jahres mit ein paar Kollegen und Kolleginnen eine Ausstellung im weitesten Sinne zu diesem Thema). Aber das Buch war letztlich für mich unbrauchbar, weil es ohne Hilfe eines Philosophen oder einer Philosophen geschrieben war und daher z.B. keine Reflexion auf das genutzte Vokabular vorlag. Meines Erachtens brauchen wir ein besseres Verständnis der Natur und dafür sind solche Bücher im Grunde unverzichtbar, aber in der vorliegenden Form leider unbrauchbar.
Von einem Philosophen geschrieben, dafür ohne Beteiligung von Förstern:

Iain Hamilton Grant - Die Natur der Natur

Grant bei einem Vortrag im Friedericianum. Ein Philosoph, der zu Beginn seines Vortrags die Ärmel hochkrempelt; wo gibt's das heute noch:





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So 25. Sep 2022, 17:24

Nauplios hat geschrieben :
So 25. Sep 2022, 11:23
Daß die Menschen sich von Gott in eine Schöpfung eingesetzt verstanden (also 1) - das ist der Inhalt meiner Behauptung. Diese Behauptung bezieht sich auf das christliche Mittelalter.
Aha, du schränkst es also jetzt zeitlich und örtlich ein.
Hinzukommen müsste nun noch, dass es exakt in dieser Zeit und diesem Gebiet einen Zwang der "Religionsanhängerschaft" gab.
Das, was du als Ergebnis vorlegen möchtest (du nennst es "Wirkungsgehalt"), ist eigentlich ein mit Macht durchgesetztes Design.
Und wir wissen beide, dass dort hart durchgegriffen wurde, damit es "so sein konnte".
Nauplios hat geschrieben :
So 25. Sep 2022, 11:23
Die Philosophie des Mittelalters stand im Dienst der Theologie. Und die Theologie hatte es u.a. mit der biblischen Überlieferung zu tun, daß Gott den Menschen in seine Schöpfung eingesetzt habe, eingepflanzt heißt es in der Genesis. Der Mensch sei der "Setzling" Gottes.
Ist dabei mehr als Suggestion herausgekommen?
Nauplios hat geschrieben :
So 25. Sep 2022, 12:09
Mein Eindruck ist, daß Philosophieren etwas anderes ist als Verdauen.
Eine interessante Aussage.
Steht für dich Verdauung für das Körperliche und das Denken und damit auch das Philosophieren soll oberhalb angesiedelt sein?

Ist das letztlich die eigentliche Antwort auf "Was ist Philosophie?": die Abgrenzung zum Körperlichen, ohne zu wissen, was stattdessen vorhanden sein soll.
Nauplios hat geschrieben :
So 25. Sep 2022, 12:09
Erhebe ich den philosophischen Anspruch, daß das Denken über allem stehen soll? - Über allem?
Hier geht es natürlich um Umstände wie Begründung und Korrektur.
Setzt man das Denken über alles, dann geht man davon aus, dass das Denken "sich selbst ausreichend" Begründung und Korrektur sein kann.
Du hast ja oben angesprochen, dass Philosophen in einer reinen Denkumgebung aufgehen. Für so etwas muss es ja eine Motivation geben.
Nauplios hat geschrieben :
So 25. Sep 2022, 12:09
Wenn er sagt "Die Wissenschaft denkt nicht", dann meint er: der Wissenschaft bleibt verborgen (im Sinne der griechischen Λήθη, das Vergessen), was nur ein Denken des Seins wieder entbergen kann: das "Seyn".
Sorry, auch das geht doch wieder in diese Motivationsrichtung.
Es ist deutlich sichtbar, dass abgewertet und aufgewertet werden soll.
Diese im Hintergrund wabernde Motivation scheint mir ganz entscheidend für "Was ist Philosophie?" zu sein.




Nauplios
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So 25. Sep 2022, 17:26

Wie stark das Interesse der Philosophie an der Natur in den letzten Jahren gewachsen ist, zeigt auch die Trefferliste eines ... hm ... renommierten deutschen Verlages beim Stichwort "Natur":

Suchergebnisse "Natur"

Darunter auch:

Martin Seel - Eine Ästhetik der Natur

"Martin Seels Abhandlung ist eine ausführliche Erkundung der Möglichkeit ästhetischer Naturwahrnehmung heute; ihr Anliegen ist das einer profanen Apologie des Naturschönen. Dieser Versuch, so wird rasch deutlich, darf sich nicht auf das Thema der Natur beschränken. Eine Ästhetik der Natur, die bloß von der Natur und nicht auch von der Kunst und anderen Bereichen des Ästhetischen handelt, hätte ihren Gegenstand verfehlt. Die ausgeführte Ästhetik der Natur erweist sich als Teil einer allgemeinen Ethik des guten Lebens. In dieser inhaltlichen Verschachtelung liegt die übergreifende These des Buchs. Das Naturschöne, so kann Seel zeigen, ist nur verstanden, wenn in ihm eine exemplarische Lebensmöglichkeit des Menschen anschaulich wird." (Verlagsbeschreibung)




Nauplios
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So 25. Sep 2022, 18:01

Nichts gegen eine gute Verdauung, Körper! ;)

Beim Philosophieren sehe ich einen Primat des Denkens. Was hätte uns gedankenloses Philosophieren zu bieten? Das heißt ja nicht, daß es dazu nicht auch einen Körper braucht. Kierkegaard eröffnet seine Schrift Die Krankheit zum Tode mit dem Satz "Der Mensch ist Geist." Dem darf widersprochen werden. Nietzsche nennt im Zarathustra den Leib "die große Vernunft", den Geist "die kleine Vernunft". Dem darf ebenfalls widersprochen werden. Zum Philosophieren braucht es aber auch eine Erdatmosphäre, die menschliches Leben ermöglicht u.a. Und es braucht wohl auch ein Nervensystem, idealerweise dazu ein gutes Nervenkostüm. All das streite ich nicht ab. Ich streite auch die Macht der Kirche nicht ab. (Giordano Bruno wurde übrigens nicht von einem kirchlichen Gericht zum Tode verurteilt, sondern von einem weltlichen.)

Daß das Denken "oberhalb angesiedelt" ist und die Verdauung darunter, damit hab' ich nichts zu tun; ich finde, wir sollten es uns nicht andersherum wünschen. Du siehst schon, ich werde langsam seltsam, weil sich bei mir eine gewisse Ratlosigkeit einstellt, die ich mit einem semper laetus zu überspielen versuche oder anders ausgedrückt: ich bin mit meinem Latein am Ende. ;)




Nauplios
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So 25. Sep 2022, 19:04

In einer Notiz vom 19. Juni 1931 schreibt Wittgenstein "Ein Motto für mein Buch: 'Seht ihr den Mond dort stehn? Er ist nur halb zu sehn und ist doch rund und schön.' "

Verse aus dem Abendlied Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius.


So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.


Eigentlich beschreiben diese Verse eine Grundkonstellation der Philosophie. Was sie sieht, sieht sie "nur halb", bedenkt und behandelt es aber als "rund", sogar "schön". Das Nicht-Sichtbare wird vom philosophischen Denken durch Sprachformen ergänzt, die es sich mit der Poesie teilt und so kann das Ganze des "Mondes" zur Anschauung gebracht werden, was der strenge Begriff "Halbmond" im Dunkeln lassen muß. Die Philosophie "zeigt" auf etwas ("Seht ihr .... das?) als "rund", was sie sprachlich nur "halb" erfassen kann. (Sagen/Zeigen ... Begriff/Ausdruck ... diskursiv/expressiv ... ) - Auch die thrakische Magd ist wieder mit von der Partie: Die "Sachen", auf welche die Philosophie "zeigt", die sie sichtbar macht, obwohl sie unsichtbar sind, sind solche, "die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn". So ist die Philosophie eine Schule des Sehens. Zuschauer mit Schiffbruch. ;)




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AufDerSonne
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So 25. Sep 2022, 21:51

Natur und Gott

Das 55 minütige Video habe ich nicht geschaut.
Ich stelle einmal eine These in den Raum. Die Natur steht über Gott. Auch über der Kunst, über dem Menschen, ja über allem.
Wenn man es einmal nüchtern betrachtet. Was sieht man? Doch nur Natur. Ja, auch all die Dinge, die der Mensch so herstellt. Aber dahinter? Natur.
Aber wenn man es so sieht, dann besteht möglicherweise die Gefahr, dass man Gott einfach mit Natur ersetzt und es ist nichts gewonnen. Denn Gott steht ja nach den Christen auch über allem.
Ich weiß nicht. Ich kann mir unter Natur einfach mehr vorstellen. Vielleicht gibt es doch einen Unterschied. Die Natur, wie ich sie verstehe, will nichts vom Menschen, sie beurteilt ihn nicht, sie kann nicht irgendwie moralisch in sein Leben eingreifen. In der Natur gibt es Gut und Böse sowieso nicht im herkömmlichen Sinn. Die Natur ist jenseits von Gut und Böse. Sie ist neutral. Das ist nicht das gleiche wie Gott oder? Ich meine der christliche Gott muss ja in das Schicksal der Meschen eingreifen können, auf jeden Fall irgendeinen Einfluss ausüben können. Das tut die Natur nicht. Ich denke, zur Natur betet man auch nicht. Dazu ist sie dann doch zu grob und gefährlich zum Menschen.

Also ich bin auf das Thema gekommen, wegen dem Mond.



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Timberlake
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So 25. Sep 2022, 23:06

Nauplios hat geschrieben :
So 25. Sep 2022, 19:04
In einer Notiz vom 19. Juni 1931 schreibt Wittgenstein "Ein Motto für mein Buch: 'Seht ihr den Mond dort stehn? Er ist nur halb zu sehn und ist doch rund und schön.' "

Verse aus dem Abendlied Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius.


So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.


Eigentlich beschreiben diese Verse eine Grundkonstellation der Philosophie. Was sie sieht, sieht sie "nur halb", bedenkt und behandelt es aber als "rund", sogar "schön". Das Nicht-Sichtbare wird vom philosophischen Denken durch Sprachformen ergänzt, die es sich mit der Poesie teilt und so kann das Ganze des "Mondes" zur Anschauung gebracht werden, was der strenge Begriff "Halbmond" im Dunkeln lassen muß. Die Philosophie "zeigt" auf etwas ("Seht ihr .... das?) als "rund", was sie sprachlich nur "halb" erfassen kann. (Sagen/Zeigen ... Begriff/Ausdruck ... diskursiv/expressiv ... ) - Auch die thrakische Magd ist wieder mit von der Partie: Die "Sachen", auf welche die Philosophie "zeigt", die sie sichtbar macht, obwohl sie unsichtbar sind, sind solche, "die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn". So ist die Philosophie eine Schule des Sehens. Zuschauer mit Schiffbruch. ;)
Apropos "philosophischen Denken durch Sprachformen" ..


  • „Im Satze ‚der Morgenstern ist die Venus‘ haben wir zwei Eigennamen ‚Morgenstern‘ und ‚Venus‘ für denselben Gegenstand. In dem Satze ‚der Morgenstern ist ein Planet‘ haben wir einen Eigennamen: ‚der Morgenstern‘ und ein Begriffswort: ‚ein Planet‘. Sprachlich zwar ist nichts geschehen, als dass ‚die Venus‘ ersetzt ist durch ‚ein Planet‘; aber sachlich ist die Beziehung eine ganz andere geworden. Eine Gleichung ist umkehrbar; das Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff ist eine nicht umkehrbare Beziehung. Das ‚ist‘ im Satze ‚der Morgenstern ist die Venus‘ ist offenbar nicht die blosse Copula, sondern auch inhaltlich ein wesentlicher Theil des Prädicats, so dass in den Worten: ‚die Venus‘ nicht das ganze Prädicat enthalten ist. Man könnte dafür sagen: ‚der Morgenstern ist nichts Anderes als die Venus‘, und hier haben wir, was vorhin in dem einfachen ‚ist‘ lag, in vier Worte auseinander gelegt, und in ‚ist nichts anderes als‘ ist nun ‚ist‘ wirklich nur noch die Copula. Was hier ausgesagt wird, ist also nicht die Venus, sondern nichts Anderes als die Venus. Diese Worte bedeuten einen Begriff, unter den freilich nur ein einziger Gegenstand fällt. Aber ein solcher Begriff muss immer noch von dem Gegenstande unterschieden werden.“

    Gottlob Frege: Über Begriff und Gegenstand
So ist die Philosophie eine Schule des Verstehens . Zuschauer ohne Schiffbruch. Wobei allerdings anzumerken ist , dass Markus Gabriel mit seinem "Neuen Realismus" doch schon sehr bemüht ist , daraus für den Zuschauer ein Schiffbruch zu machen ..
  • "Nun lernt man in einem Proseminar über Freges Sprachphilosophie in der Regel, „Abendstern“ und „Morgenstern“ seien verschiedene Arten des Gegebenseins desselben, nämlich der Venus und zwar ohne Anführungszeichen. Die Venus sei mithin die nackte Bedeutung der Eigennamen „Abendstern“ und „Morgenstern“. ..Doch, wie Frege an einer bemerkenswerten Stelle schreibt: „Der Sinn eines Eigennamens wird von jedem erfaßt, der die Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehört; damit ist die Bedeutung aber, falls sie vorhanden ist, doch immer nur einseitig beleuchtet. Zu einer allseitigen Erkenntnis der Bedeutung würde gehören, daß wir von jedem gegebenen Sinne sogleich angeben könnten, ob er zu ihr gehöre. Dahin gelangen wir nie. Wenn wir aber niemals auch nur eine einzige Bedeutung „allseitig erkennen“ können, wie können wir dann davon ausgehen, daß es Bedeutung überhaupt gibt, d. h. wie läßt sich ein radikaler semantischer Nihilismus vermeiden?"
    Markus Gabriel
Nur weil wir nie alle sprachlichen "Arten des Gegebenseins" der Venus werden angeben können , wird es lt. Markus Gabriel auch nie die eine einzige Venus geben können , auf die sich diese "Arten des Gegebenseins" beziehen. Danach ließe sich ein "radikaler semantischer Nihilismus" wohl tatsächlich nicht vermeiden.

Womit wir wieder bei den "Grenzen des Wissens" und damit bei Hogrebes "Relevante Philosophie" angekommen wären ..

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 24. Sep 2022, 12:50
Hogrebe hat auch etwas zu dem Thema des Fadens zu sagen: "Relevante Philosophie sei eine solche genannt, die sich an den Grenzen des Wissens aufhält und dennoch amüsiert."




Timberlake
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Mo 26. Sep 2022, 04:39

Um zum letzten Beitrag einmal Blumenberg zu Wort kommen zu lassen ..
  • Unbegrifflichkeit (3)
    "Philosophie, zumal in ihren deskriptiven Verfahren als Phänomenologie, ist Disziplin der Aufmerksamkeit ...Dienst an der Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit im weitesten Sinne ist das, was die Philosophie gemein hat und was sie gemein macht mit allen ‚positiven‘ Disziplinen".
    (Hans Blumenberg; Wirklichkeiten, in denen wir leben; S 5)
Darüber , ob nun von Gottlob Frege oder Markus Gabriel die Wahrnehmungsfähigkeit geschärft wurde , sollten doch wohl keinerlei Zweifel bestehen.

  • Unbegrifflichkeit (3)
    „Wo Verstehen sich nicht einstellt, genügt allemal das Vergnügen. Dieses muß jenes nicht ausschließen, kann es im Hintergrund sogar bereithalten … “
    Hans Blumenberg ..Höhlenausgänge; S. 23
Keine Frage , in dem bei Markus Gabriel "Neuen Realismus" , so zumindes mein Eindruck , sich durch ein Verstehen , ein Nichtverstehen von etwas einstellt , bereitet er Vergnügen. Er bestätigt damit tatsächlich, dass das Nichtverstehen , das Verstehen nicht nicht ausschließen muss. Das ein Nichtverstehen , ein Verstehen im Hintergrund sogar bereithalten kann. So wie Hans Blumenberg mit diesem Zitat seinen "Neuen Realismus" auf den Punkt gebracht hat , könnte man fast meinen , dass er Markus Gabriel schon gekannt hat. ;)




Nauplios
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Mo 26. Sep 2022, 14:11

"Der Wirklichkeitsbegriff ist ein 'implikatives Prädikat'. Der Grund dafür ist seine pragmatische Funktion. Der Leitfaden zum Wirklichkeitsbegriff ist jede Form von 'Realismus', aber nicht bevorzugt die, die sich selbst so nennt." (Hans Blumenberg; Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff; In: Günter Bandmann, Hans Blumenberg, Hans Sachsse, Heinrich Vormweg, Dieter Wellershoff: Zum Wirklichkeitsbegriff. Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse Nr. 4 (1974). S. 3)

"Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem metaphorisch." Eine oft zitierte Stelle bei Blumenberg.




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Jörn Budesheim
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Mo 26. Sep 2022, 15:43

Nauplios hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 14:11
"Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem metaphorisch." Eine oft zitierte Stelle bei Blumenberg.
Ob man über unseren Wirklichkeitsbezug wirklich so generell sprechen kann? Die Wirklichkeit einer Party und unser Bezug dazu ist doch sicher ganz anders als die Wirklichkeit der Bosonen bei denen wir einen Bezug nur über komplexe Theorien und Teilchenbeschleuniger herstellen können. Und ist der Bezug zur besagten Matthäus-Passion nicht ziemlich direkt, denn in einer gewissen Hinsicht sind wir ja ein integraler Teil von ihr.




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Mo 26. Sep 2022, 15:58

Nauplios hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 14:11

"Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem metaphorisch." Eine oft zitierte Stelle bei Blumenberg.
Was ich mich immer wieder frage, ob es für verschiedene Menschen verschiedene Wirklichkeiten gibt. (Hat nicht jeder seine eigene Realität?)



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Nauplios
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 15:43
Nauplios hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 14:11
"Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem metaphorisch." Eine oft zitierte Stelle bei Blumenberg.
Ob man über unseren Wirklichkeitsbezug wirklich so generell sprechen kann? Die Wirklichkeit einer Party und unser Bezug dazu ist doch sicher ganz anders als die Wirklichkeit der Bosonen bei denen wir einen Bezug nur über komplexe Theorien und Teilchenbeschleuniger herstellen können. Und ist der Bezug zur besagten Matthäus-Passion nicht ziemlich direkt, denn in einer gewissen Hinsicht sind wir ja ein integraler Teil von ihr.
Wir denken bei "Wirklichkeit" in der Regel an eine Summe, eine Gesamtheit von Gegenständen, Tatsachen, Sachverhalten ... das kann dann der Schreibtisch sein, vor dem man sitzt, das Oktoberfest, zu dem man geht, das Konzert (Schallwellen, Musiker, Dirigent, Sitznachbar ..., das man gehört hat ... auch fiktive Gegenstände können dabei sein, die Madeleine Prousts, das trimagische Turnier von Harry Potter ... usw. Man hat dann verschiedene ontologische Bereiche ...

Das ist ein Verständnis von Wirklichkeit, das erkenntnistheoretisch verankert ist; es geht dann auch darum, wie diese Dinge, diese Sachen gegeben sind.

Für Blumenberg ist Wirklichkeit nichts, bei dem wir etwas haben, erkennen ... Wirklichkeit ist etwas, das erschlossen wird, ein "implikatives Prädikat". Auf die Schnelle ist das nicht zu erklären. (Ich hab' ein paar Aspekte dazu im Blog festgehalten.) Der Referenzaufsatz, in dem dieses Wirklichkeitsverständnis entfaltet wird, ist Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans; in: Ästhetische und metaphorologische Schriften; S. 49.

Das bleibt jetzt etwas unbefriedigend, da müßte man in den Aufsatz reingehen und auch in andere Schriften ... Wirklichkeit als Form der Modalität (neben Möglichkeit und Notwendigkeit ... Kant ... )




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Mo 26. Sep 2022, 18:30

Nauplios hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 17:29

Wir denken bei "Wirklichkeit" in der Regel an eine Summe, eine Gesamtheit von Gegenständen, Tatsachen, Sachverhalten ... das kann dann der Schreibtisch sein, vor dem man sitzt, das Oktoberfest, zu dem man geht, das Konzert (Schallwellen, Musiker, Dirigent, Sitznachbar ..., das man gehört hat ... auch fiktive Gegenstände können dabei sein, die Madeleine Prousts, das trimagische Turnier von Harry Potter ... usw. Man hat dann verschiedene ontologische Bereiche ...

Das ist ein Verständnis von Wirklichkeit, das erkenntnistheoretisch verankert ist; es geht dann auch darum, wie diese Dinge, diese Sachen gegeben sind.
Wenn die Wirklichkeit für mich gerade der Tisch ist, an dem ich sitze, dann ist das doch nicht eine Summe von Gegenständen? Es ist nämlich tatsächlich so, dass der (schöne) Tisch, an dem ich gerade sitze, in mir ein Wirklichkeitsgefühl hervorruft. Aber es ist ja nur dieser Tisch. Nichts anderes. Hm. Wirklichkeit ist geheimnisvoll, auf jeden Fall. Eben Aristoteles. Was ist das Seiende?



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ahasver
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Mo 26. Sep 2022, 19:52

<r><QUOTE author="Jörn Budesheim" post_id="59360" time="1664199807" user_id="56"><s>
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 15:43
</s>
<QUOTE author="Nauplios" post_id="59359" time="1664194278" user_id="179"><s>
Nauplios hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 14:11
</s>
"Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem metaphorisch." Eine oft zitierte Stelle bei Blumenberg.
<e>
</e></QUOTE>

Ob man über unseren Wirklichkeitsbezug wirklich so generell sprechen kann? Die Wirklichkeit einer Party und unser Bezug dazu ist doch sicher ganz anders als die Wirklichkeit der Bosonen bei denen wir einen Bezug nur über komplexe Theorien und Teilchenbeschleuniger herstellen können. Und ist der Bezug zur besagten Matthäus-Passion nicht ziemlich direkt, denn in einer gewissen Hinsicht sind wir ja ein integraler Teil von ihr.
<e>
</e></QUOTE>

Ich versuchs derzeit damit: Der Wirklichkeitsbezug -egal ob menschlich oder sonstwie- ist direkt und metaphorisch, Noch direkter als Davidson vermutet, vermute ich.<br/>
<br/>
Alles auf meinem Mist gewachsen: Wahrnehmung ist primär. Ich kann nicht sagen "Ich sehe einen Apfel" , denn das >Apfelsehen< ist primär, das >ich< wird hinzugedichtet. Das >Apfelsehen< wird nicht durch ein Gehirn verursacht. Die Struktur des Gehirns bestimmt aber die Struktur und Qualität der Wahrnehmung, hier also des >Apfelsehens<. <br/>
Das Gehirn ereignet sich natürlich auch nur als Wahrnehmung, nämlich als >Gehirnsehen". Und wenn da ein >Apfelsehen"< sich ereignet, ereignet sich in der Regel nicht gleichzeitig ein >Gehirnsehen<. Das >Gehirnsehen< -zB qua Kernspintomographie- muss aber möglich sein. Es wird dem >Apfel sehen< zeitlich vorhergehen, dieses aber nicht verursachen. Ein Mensch mit stark beschädigtem Gehirn wird keinen Apfel mehr sehen (hier könnten Ausnahmen die Regel bestätigen). <br/>
<br/>
Unser >Apfelsehen< ist perspektivisch und läßt deshalb den Satz "Ich sehe einen Apfel" sinnvoll erscheinen. Der Apfel ist natürlich ein wirklicher Apfel, den ich essen oder ausspucken kann. Und wenn mir ein Sack voller Äpfel auf den Kopf fällt, wird ahasver euch nicht mehr mit unausgegorenem Unsinn belästigen können.</r>

Ich sehe nicht. Das sehen, hören, fühlen, denken... erzeugt erst sein Subjekt- also mich.

Und noch was: In Ausnahmefällen denken Wissenschaftler. ZB Heisenberg auf Helgoland. Aber davon hatte Heidegger, den ich durchaus sehr schätze, keine Ahnung.

Und noch was, mein lieber AufDerSonne: >Seiendes< ist ein obsoletes Konstrukt.
Wie verhält es sich dann mit dem >Sein< oder gar dem >Seyn<???



"Ich kann mich auch irren und nichts ist so sicher, als dass alles auch ganz anders ist."

Körper
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ahasver hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 19:52
Ich sehe nicht. Das sehen, hören, fühlen, denken... erzeugt erst sein Subjekt- also mich.
Naja, die Situation des Subjektes ist über den Körper vorhanden.

Das, was du meinst, ist vermutlich, dass die Zusammenhänge des Subjektes erst durch die Abgrenzung des Körpers mit der Umwelt über die Sinneszellen für "Sehen, Hören, Fühlen, usw." erschlossen werden.
Da ist aber dann nichts hinzugedichtet - wobei ich hier nicht sage, dass man umfassend an alle Anlässe für den Aufbau von Zusammenhängen herankommt.

Wenn ein Körper einem Apfel gegenüber steht, dann ist "ich sehe einen Apfel" die wahrnehmungstechnische Lösung für die Frage/Aufgabe: "welches ist die plausibelste Reaktion, die ein Körper in dieser Situation durchführen kann?".
Hier liegt also eine Korrektheit vor, denn der Körper hat keinen Einblick in seine (einzelnen) zellulären Vorgänge, wodurch er sich eine andere Einteilung der Welt erschliesst (Objektbegegnungen, Handlungsabläufe in Bezug zu sich als Zentralobjekt)

Wenn man nun philosophisch diese Aufgabenstellung übersieht bzw. verdreht (z.B. indem man den Körper aus der Rechnung herauslässt), dann kommt keine Korrektheit heraus, sondern es werden "ewig offene Fragen" kreiert.
Das ist meist der Ausgangspunkt für peinlich schräge Ontologien.
=> Der Stolz in der Philosophie, Fragen aufstellen zu können, ist ein Schuss, der ganz leicht nach hinten losgehen kann - genau dann, wenn die Fragen nichts taugen.




Timberlake
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Di 27. Sep 2022, 00:09

Nauplios hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 14:11
"Der Wirklichkeitsbegriff ist ein 'implikatives Prädikat'. Der Grund dafür ist seine pragmatische Funktion. Der Leitfaden zum Wirklichkeitsbegriff ist jede Form von 'Realismus', aber nicht bevorzugt die, die sich selbst so nennt." (Hans Blumenberg; Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff; I
Nur für den Fall , dass dieser , hier erwähnte 'Realismus' eine Reaktion auf jenen "neuen Realismus" darstellt , in dem in meinen Beiträgen die Rede war. Dazu nur mal zur Erinnerung ..
Timberlake hat geschrieben :
So 25. Sep 2022, 23:06

  • "Nun lernt man in einem Proseminar über Freges Sprachphilosophie in der Regel, „Abendstern“ und „Morgenstern“ seien verschiedene Arten des Gegebenseins desselben, nämlich der Venus und zwar ohne Anführungszeichen. Die Venus sei mithin die nackte Bedeutung der Eigennamen „Abendstern“ und „Morgenstern“. ..Doch, wie Frege an einer bemerkenswerten Stelle schreibt: „Der Sinn eines Eigennamens wird von jedem erfaßt, der die Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehört; damit ist die Bedeutung aber, falls sie vorhanden ist, doch immer nur einseitig beleuchtet. Zu einer allseitigen Erkenntnis der Bedeutung würde gehören, daß wir von jedem gegebenen Sinne sogleich angeben könnten, ob er zu ihr gehöre. Dahin gelangen wir nie. Wenn wir aber niemals auch nur eine einzige Bedeutung „allseitig erkennen“ können, wie können wir dann davon ausgehen, daß es Bedeutung überhaupt gibt, d. h. wie läßt sich ein radikaler semantischer Nihilismus vermeiden?"
    Markus Gabriel
Nur weil wir nie alle sprachlichen "Arten des Gegebenseins" der Venus werden angeben können , wird es lt. Markus Gabriel auch nie die eine einzige Venus geben können , auf die sich diese "Arten des Gegebenseins" beziehen. Danach ließe sich ein "radikaler semantischer Nihilismus" wohl tatsächlich nicht vermeiden.
  • Unbegrifflichkeit (3)
    „Wo Verstehen sich nicht einstellt, genügt allemal das Vergnügen. Dieses muß jenes nicht ausschließen, kann es im Hintergrund sogar bereithalten … “
    Hans Blumenberg ..Höhlenausgänge; S. 23
...
Keine Frage , in dem bei Markus Gabriel "Neuen Realismus" , so zumindes mein Eindruck , sich durch ein Verstehen , ein Nichtverstehen von etwas einstellt , bereitet er Vergnügen. Er bestätigt damit tatsächlich, dass das Nichtverstehen , das Verstehen nicht nicht ausschließen muss. Das ein Nichtverstehen , ein Verstehen im Hintergrund sogar bereithalten kann. So wie Hans Blumenberg mit diesem Zitat seinen "Neuen Realismus" auf den Punkt gebracht hat , könnte man fast meinen , dass er Markus Gabriel schon gekannt hat. ;)
Wenn denn .. so Blumenberg .. . der Leitfaden zum Wirklichkeitsbegriff jede Form von 'Realismus ist , würdest du denn sagen , dass Markus Gabriels "Neuen Realismus" zu einem solchen Leitfaden für die Wirklichkeit taugt ? Weil wir von einem Gegenstand .. niemals auch nur eine einzige Bedeutung „allseitig erkennen“( Gabriel) .. können, wohlgemerkt einem "Neuen Realismus" , bei dem sich deshalb ein "radikaler semantischer Nihilismus" wohl tatsächlich nicht vermeiden lässt. Keine Frage , so wie er es erklärt , stellt sich durchaus ein Verstehen ein. Gleichwohl bei dem , was man denn verstanden hat und zwar das wir Gegenstände , wie die Venus , aus sprachlichen Gründen niemals auf einen einzigen gemeinsamen Nenner bringen werden .. SELBST! .. kein Verstehen einstellt. Möglicherweise entspricht Markus Gabriel "Neuer Realismus" damit dem, was Blumenberg mit ".. aber nicht bevorzugt die, die sich .. SELBST! .. so nennt." meint.

Wie dem auch sei , um auf das Thema dieses Threads zurück zu kommen , solche sprachphilosophischen Betrachtungen würde ich nicht zwischen der Wissenschaft und der Literatur verorten, sonder klar außerhalb von beidem. Das ist ein Paradebeispiel für Philosophie , wenn man so will , in Reinstform und nicht zu vergessen möglicherweise auch deswegen Vergnügen bereitet . Dem genügt Markus Gabriel "Neuer Realismus" allemal.

Körper hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 22:12
ahasver hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 19:52
Ich sehe nicht. Das sehen, hören, fühlen, denken... erzeugt erst sein Subjekt- also mich.
Naja, die Situation des Subjektes ist über den Körper vorhanden.
Wie übrigens auch solche Diskussionen über das Leib-Seele-Problem . Ein Problem , dass .. so oft , wie es von ihm hier schon , zu den unterschiedlichsten Themen zur Sprache gebracht wurde .. offenbar insbesondere Körper , ein ganz besonderes Vergnügen bereitet. Wird sich auch diesbezüglich wohl kaum ein Verstehen einstellen.
Zuletzt geändert von Timberlake am Di 27. Sep 2022, 00:33, insgesamt 1-mal geändert.




Nauplios
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Di 27. Sep 2022, 00:32

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 18:30
Nauplios hat geschrieben :
Mo 26. Sep 2022, 17:29

Wir denken bei "Wirklichkeit" in der Regel an eine Summe, eine Gesamtheit von Gegenständen, Tatsachen, Sachverhalten ... das kann dann der Schreibtisch sein, vor dem man sitzt, das Oktoberfest, zu dem man geht, das Konzert (Schallwellen, Musiker, Dirigent, Sitznachbar ..., das man gehört hat ... auch fiktive Gegenstände können dabei sein, die Madeleine Prousts, das trimagische Turnier von Harry Potter ... usw. Man hat dann verschiedene ontologische Bereiche ...

Das ist ein Verständnis von Wirklichkeit, das erkenntnistheoretisch verankert ist; es geht dann auch darum, wie diese Dinge, diese Sachen gegeben sind.
Wenn die Wirklichkeit für mich gerade der Tisch ist, an dem ich sitze, dann ist das doch nicht eine Summe von Gegenständen? Es ist nämlich tatsächlich so, dass der (schöne) Tisch, an dem ich gerade sitze, in mir ein Wirklichkeitsgefühl hervorruft. Aber es ist ja nur dieser Tisch. Nichts anderes. Hm. Wirklichkeit ist geheimnisvoll, auf jeden Fall. Eben Aristoteles. Was ist das Seiende?
Du sitzt gerade an Deinem schönen Schreibtisch, AufDerSonne. Schön ist er vielleicht, weil in ihm auf beiden Seiten feinste Intarsien eingearbeitet sind, denn es ist ein Erbstück Deiner reichen Tante aus Zürich. Drei rechteckige Lederflächen sind eingearbeitet. Deine Hände fahren darüber. Wunderbar. Ein feiner Schreibtisch. Ein Lächeln liegt auf Deinem Gesicht.

Vor Dir liegt ein Brief. Du öffnest ihn und beginnst zu lesen: "Sehr geehrter Herr AufDerSonne, leider müssen wir Ihnen mitteilen, daß der monatliche Abschlag für Gas ab Obtober auf 3.000,00 Franken monatlich steigt. Mit freundlichen Grüßen. Ihre Stadtwerke Bern." - Du bist entsetzt. Dann greifst Du zum Telefon und rufst bei den Stadtwerken an. Nach endlos langer Zeit in der Warteschleife, wirst Du mit einer Dame verbunden: "Ich hab' jetzt Feierabend, Herr AufDerSonne. Rufen Sie morgen wieder an. Und schreien Sie nicht so. Was wollen Sie überhaupt von mir!? 3.000 Franken, das ist doch geschenkt! Andere zahlen noch mehr. Ihr Nachbar zahlt 4.000 Franken! Das sind 1.000 Franken mehr! Sie sind doch Mathematiker! Muß ich Ihnen den Unterschied erklären!? Und wegen läppischer 3.000 Franken rufen Sie mich an??"

Vielleicht verläuft das Gespräch auch etwas anders; jedenfalls bist Du noch ein Weilchen mit der Auskunft der netten Dame beschäftigt. Dann legst Du den Brief beiseite und greifst zu dem Buch, das vor Dir liegt. Aristoteles.

Ist der Schreibtisch noch da? - Selbstverständlich. - Hast Du ihn in den letzten Minuten wahrgenommen? - Nein. Er war ganz selbstverständlich da, obwohl Du ihn überhaupt nicht mehr beachtet hast. Der Stuhl, auf dem Du sitzt, ist auch noch da? - Ja, der Stuhl ist auch noch da. Alle anderen Sachen wie Lampe, Kugelschreiber, Bleistifte, Papier auch. Daß sie da sind, hast Du als ganz selbstverständlich hingenommen, ohne Dich von ihrer Existenz zu überzeugen. Ein besonderer exklusiver Erkenntnisakt war dafür nicht erforderlich.

Den Schreibtisch hattest Du vorher in Augenschein genommen, hast ihn sogar berührt, hast Dich ihm zugewandt. - Dieses Zuwenden nennt Husserl ein intentionales Erlebnis. Du hast Deinen schönen Schreibtisch ja regelrecht erlebt. - Oder hast Du Dir den Schreibtisch vielleicht nur in der Phantasie vorgestellt? - Jedenfalls hattest Du ein Schreibtisch-Erlebnis. Aber was ist mit all dem, dem Du Dich nicht durch einen Akt der Wahrnehmung oder einen Akt der Phantasie zugewandt hattest? - Es war trotzdem da. Ganz selbstverständlich.

Dieses Reich des Selbstverständlichen nennt Blumenberg die Lebenswelt. Die Lebenswelt ist gleichsam immer in Deinem Rücken. Die Lebenswelt hört dann auf, Lebenswelt zu sein, wenn man sich ihr zuwendet. Sie ist das Selbstverständliche. Zu ihr gehört (mit vielen anderen Sachen) der Schreibtisch in dem Moment, wenn er nicht mehr Gegenstand Deiner Erkenntnis, Deiner Wahrnehmung ... ist. Denn dann wird er selbstverständlich. Das ändert sich in dem Moment, wenn er zusammenbricht. "Oh, was ist denn mit dem schönen Schreibtisch passiert?"

Wolltest Du in jedem Moment Dich vergewissern, ob ein bestimmtes Objekt noch da ist, ob es noch funktioniert ..., dann wärst Du gar nicht mehr lebensfähig. Du gehst nicht über eine Treppe in der Erwartung, daß sie im nächsten Moment zusammenbricht. Du greifst nicht zum Telefon mit der bangen Erwartung, es würde bei Berührung explodieren. Du fährst nicht mit dem Fahrrad durch eine Gasse mit der Befürchtung, die Gasse würde sich im nächsten Moment in eine Wand verwandeln, gegen die Du fährst und stürzt.

Der erkenntnistheoretisch (epistemologisch) orientierte Philosoph wird jetzt überlegen, wie kommen Gegenstände, Tatsachen, Sachverhalte ... in den Kopf? Was gehört alles zur Wirklichkeit? - Wie können wir sie erkenntnistheoretisch erfassen? Wie können wir Wissen von der Wirklichkeit haben? Wie ist unbezweifelbares Wissen vom Schreibtisch möglich? Oder könnte der Schreibtisch auch eine Illusion sein?

Blumenberg ist an dieser epistemologischen Fragestellung gar nicht so recht interessiert. Ihn interessiert der pragmatische Zusammenhang, in dem der Schreibtisch auftaucht. "Wirklich" ist kein Prädikat, daß Du im Regelfall von einer Sache aussagst. Eher schon "schön", aber daß der schöne Schreibtisch "wirklich" ist, würdest Du ja nicht hinzufügen, wenn Du ihn beschreiben müßtest. Würde bei Dir eingebrochen und der Schreibtisch würde gestohlen, dann würdest Du bei der Berner Kantonspolizei sagen: "Er ist braun, hat mosaikartige Intarsien, drei eingearbeitete Flächen aus Leder, wiegt 30 kg und hat unten an der rechten Seite eine kleine Macke." Aber Du würdest nicht hinzufügen: "Und außerdem ist er auch wirklich."

Das Wirkliche kommt eigentlich erst dann ins Spiel, wenn sich etwas als widerständig erweist, wenn sich eine Sache als ganz anders erweist als man gedacht hat. "Ich war gar nicht bei der Sache", sagt man, wenn man zum Beispiel etwas übersehen hat, wenn es eine Art von Scheitern, von Enttäuschung gibt. Wirklichkeit ist ein "implikatives Prädikat"; das soll heißen: es ist nicht ausdrücklich hinzugefügt. Im Falle des Scheiterns, des Mißgeschicks wird uns klar, daß die Wirklichkeit anders war als gedacht. Aus dem Gegenteil, ex negativo läßt sich die Wirklichkeit erschließen.

Wenn das Telefon bei Berührung wirklich explodiert, wenn die Gaase sich in Wirklichkeit als Wand herausstellt, dann wird Wirklichkeit bedeutend:





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