Genuss - was ist das denn?

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Stefanie
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Do 21. Dez 2023, 14:11

https://missy-magazine.de/blog/2023/05/ ... nn-genuss/

Hä, was heißt denn Genuss?

Allgemein ist von Genuss die Rede, wenn mindestens ein Sinnesorgan positiv stimuliert wird, bspw. gustatorisch durch Essen, auditiv durch Musik oder taktil durch eine Massage oder Sex. Dabei genießen nicht alle Menschen gleich. Wie genussfähig jemand ist, kann kulturell oder regional variieren oder aber psychisch bedingt sein...(...)
Das Nürnberger Institut für Genussforschung fand im Jahr 2000 im Rahmen einer Studie heraus, dass das Genussverhalten geschlechterspezifische Unterschiede aufweisen kann und weibliches Genussempfinden differenzierter und anspruchsvoller ist.
(...)
Während ein Leben nach dem Lustprinzip häufig als egoistisch gilt, gibt es auch linke Positionen, die für mehr Genuss plädieren – aus gutem Grund, hatte doch schon 1973 z. B. Jacques Lacan darauf hingewiesen, dass die Weigerung, den „Anderen“ ihre eigene, von „unserer“ abweichende „Jouissance“ (frz. für – auch sexuell konnotierten – Genuss) zuzugestehen, eine der Triebfedern für Rassismus ist. Linker Hedonismus fordert das gute Leben für alle – und zwar jetzt sofort. Dabei soll es zwischen politischem Handeln und Theorie auch Platz fürs Genießen geben, bspw. durch Partykultur, Drogenkonsum und Sexualität.
(...)

Dabei haben wir nach wie vor die Haltung, dass politische Inhalte durchaus genussvoll serviert werden dürfen und Feminismus geil ist – und somit auch Spaß machen darf. Der traditionellen „GraubrotÄsthetik“ linker Publikationen, die Wert darauf legen, den Inhalt über die Form zu stellen, und somit wenig Wert auf die Aufmachung, setzte unsere Artdirektion seit jeher ein so prall lustvolles wie gut durchdachtes Design entgegen. Das ist besonders wichtig, weil in der Abwertung von Genuss häufig auch eine Femininitätsfeindlichkeit steckt, da die Liebe für das Angenehme, Frivole als (ver-) weiblich(t), geistlos und damit illegitim gilt. Freude an Schönheit und Kunst muss keine Einbußen an politischer Radikalität bedeuten.

(...)

Das Schlimme an Genuss ist nicht seine Existenz, sondern, dass er nur wenigen Menschen vorbehalten ist. Übrigens: Ursprünglich bedeutete Genuss etwas viel Allgemeineres, nämlich etwas zu nutzen, im Sinne von „Nutznießung“. „Genossen“ finden wir nicht nur in der Vergangenheitsform von „genießen“, sondern „Genoss*in“ leitet sich tatsächlich davon ab – war doch ein*e solche*r Teil einer Community, die Dinge gemeinsam nutzte. So lasst uns, liebe Genoss*innen, die Welt zu einem besseren, genussvolleren Ort für alle machen!
GraubrotÄsthetik.... ;- )



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Jörn Budesheim
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Do 21. Dez 2023, 17:21

Lesenswerter Artikel mit (für mich) überraschenden Bezügen zum Thema Sexismus und Rassismus.




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Stefanie
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Do 21. Dez 2023, 22:28

Ich war auch überrascht.
Aus dem Artikel
"Das ist besonders wichtig, weil in der Abwertung von Genuss häufig auch eine Femininitätsfeindlichkeit steckt, da die Liebe für das Angenehme, Frivole als (ver-) weiblich(t), geistlos und damit illegitim gilt."

Wieso gilt Genuss als verweiblicht?



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Jörn Budesheim
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Fr 22. Dez 2023, 09:26

Ich kenne das nicht im Detail, aber es gibt eine Linie in der Philosophie, die versucht, die großen Dichotomien und ihre Zusammenhänge zu untersuchen und zu "dekonstruieren". Und zu diesen Dichotomien gehören wohl auch Geist/Körper und Mann/Frau.




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Fr 22. Dez 2023, 14:18

Stefanie hat geschrieben :
Do 21. Dez 2023, 22:28
Ich war auch überrascht.
Aus dem Artikel
"Das ist besonders wichtig, weil in der Abwertung von Genuss häufig auch eine Femininitätsfeindlichkeit steckt, da die Liebe für das Angenehme, Frivole als (ver-) weiblich(t), geistlos und damit illegitim gilt."

Wieso gilt Genuss als verweiblicht?
Wohl weil der ("natürlich" männliche!) "Indianer keinen Schmerz kennt", ein Junge nicht weint (oder Mann Gefühle zeigt) - und so wohl auch nicht "in aller Öffentlichkeit" genießt (außer in eben sozusagen ausdrücklich gesellschaftlich anerkannten Feldern wie etwa in einer ausgelassen feiernden, gerne - auch permanent "herausposaunt" & "performt": - alkoholisierten Gesellschaft/"geselligen Runde" etc. - um danach wieder "den harten Kerl" zu mimen, den nichts anficht und sich und die Seinen "allseits bereit" bis zum Äußersten, gerne auch aggressiv "vorwärtsverteidigend" "vor der bösen Welt" usf. eben zu verteidigen bereit ist. Was im aktuellen Falle, d.h. im von interessierter Seite (!), gelinde gesagt "aufgezwungenem" Ukrainekrieg quasi (vorsätzlich aktiv) wahr gemacht wurde - die Ukrainer werden genötigt "soldatisch" - noch so etwas traditionell "Höchst-Männliches"! - etc. um ihre komplette Existenz - etwa auch "kulturell" usw. - sowie ihr blankes Überleben zu kämpfen, oder aber sie hätten in der Tat noch die Option, sich abschlachten zu lassen und ansonsten total zu unterwerfen, wie manche hierzulande es offenbar ernstgemeint "offerieren", weil für "vernünftig", "dem Frieden dienend" usw. [Schwarzer, Wagenknecht & Co.].) Verweiblicht gehöre dagegen zum "Gedöns" (der alte weiße Silberrücken Schröder dürfte auch darin einig mit seinem "lupenrein demokratischem " "Männerfreund" Putin sein) wie "Gefühle", überhaupt "Soziales", auch "verfeinerter Genuss" u. diverses anderes "Dekadentes" des "(modernen, verweichlichten/verweiblichten/'verschwulten') Westens" bla bla. Das Übliche einfach halt, seit unzähligen Jahrzehnten (Jahrhunderten?) tief "in der Volksseele" verwurzelt, aktuell wieder "im Turbomodus" auf dem Vormarsch (wegen des neurechten Zeitgeistes). Usw. usf.




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Stefanie
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Do 4. Jan 2024, 15:17

https://www.zeit.de/campus/2012/06/robe ... ettansicht
ROBERT PFALLER
"GENUSS IST POLITISCH"
Von Oskar Piegsa
Der Philosoph Robert Pfaller verteidigt die Unvernunft. Das Leben sei nur dann lebenswert, sagt er, wenn wir miteinander feiern, trinken und schlafen.
(...)
Während uns die sozialen Ideale abhandengekommen sind, beherrscht uns heute das viel perfidere, im "Ich" verankerte Ideal der Vernunft. Wir erleben nicht mehr den äußeren Druck, uns auf irgendeine Weise akzeptabel zu verhalten, sondern den inneren Druck, immer vernünftig zu sein. Das heißt: möglichst effizient zu handeln, uns permanent selbst zu optimieren und alles zu vermeiden, was zwar lustvoll, aber scheinbar schlecht für uns ist. Deshalb trinken wir Bier ohne Alkohol, essen Margarine ohne Fett und haben im Internet Sex ohne Körperkontakt.
(...)
Wer nur vernünftig ist, funktioniert wie eine Maschine. Das ist nicht lebenswert. Wir arbeiten dann ständig dafür, unser Leben zu finanzieren und zu verlängern. Aber wir fragen uns nicht, wofür wir überhaupt am Leben sind. Erst wenn wir unvernünftige Dinge tun, tanzen, trinken oder uns verlieben, haben wir das Gefühl, dass es sich zu leben lohnt.
(...)
ZEIT Campus: Mal ehrlich: Beschäftigen Sie sich nicht mit philosophischen Luxusproblemen?
Pfaller: Die Genussfrage ist aus meiner Sicht eine politische Frage. Früher gab es einen öffentlichen Raum, der von gemeinsamen Idealen geprägt war. Man trug in der Öffentlichkeit feinere Kleider und benahm sich höflicher als zu Hause. Wenn andere rauchen wollten, dann ließ man das zu, denn das galt als elegant. Weil es diese geteilten Vorstellungen von Eleganz nicht mehr gibt und jeder die Qualität von Öffentlichkeit mit seinen privaten Maßstäben misst, sind wir heute schnell dabei, alles zu verbieten, was uns stört: Auf manchen öffentlichen Plätzen darf kein Alkohol mehr getrunken werden, in Bars und Restaurants gilt das Rauchverbot.
(...)

ZEIT Campus: Aber es ist doch auch unhöflich, anderen Rauch ins Gesicht zu blasen.

Pfaller: Während uns das Rauchverbot als Fortschritt verkauft wird, finden enorme politische Beraubungen statt. Sie haben heute vielerorts keinen Anspruch mehr auf öffentlich finanzierte Hochschulbildung, auf soziale Sicherheit oder auf eine verlässliche Altersvorsorge – geschweige denn auf Würde, Eleganz und Genuss. Das müssen Sie alles privat für sich regeln. Die Öffentlichkeit wird zu einer Sphäre von Verboten und von Verzicht.

ZEIT Campus: Man könnte auch sagen, dass es ein Zeichen von Souveränität und Freiheit ist, Alkohol und Zigaretten abzulehnen.

Pfaller: Dann stellt sich die Frage, wo wir Freiheit verorten. Bin ich da frei, wo ich auf meine kleine, einsame Privatexistenz reduziert bin und mir nicht zugetraut wird, über meine Befindlichkeiten hinauszuwachsen? Oder ist Freiheit das, was meine gesellschaftliche, politische und öffentliche Existenz ausmacht? Ich denke, Freiheit liegt in der Öffentlichkeit, in der Existenz als politischer Bürger gemeinsam mit anderen. Wenn jeder nur seine Eigeninteressen verfolgt, ist das keine Befreiung, sondern Entpolitisierung und Entsolidarisierung.

ZEIT Campus: Erst dadurch, dass wir genießen, werden wir zu politischen Bürgern?

Pfaller: Umgekehrt: Wir müssen politische Bürger werden, um genießen zu können. Wir müssen uns öffentliche Räume zurückerobern, um glücksfähig zu werden. Dabei müssen wir uns gegen eine Regierung wehren, die die Bankenaufsicht vernachlässigt und stattdessen das Rauchen verbietet – und auch dagegen, dass uns Ideen als befreiend oder solidarisch vorkommen, die es gar nicht sind.

ZEIT Campus: Was meinen Sie damit konkret?

Pfaller: Etwa die Idee der Vielfalt, oder diversity, die in Wahrheit immer eine Vielfalt von einfältigen Identitäten und homogenen Communitys ist. Statt von Community, also Gemeinschaft, sollten wir von Gesellschaft sprechen.

ZEIT Campus: Was ist falsch an der Community?

Pfaller: Niemand ist nur Frau, nur Muslim oder nur Bondage-Fan. Alle können auch etwas anderes, Öffentliches sein. Wir brauchen öffentliche Räume, in denen man uns zutraut, von unseren privaten Eigenschaften abzusehen und mit Menschen solidarisch zu sein, mit denen wir keine privaten Interessen teilen. Das allein macht schon ziemlich glücklich.



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Jörn Budesheim
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Do 4. Jan 2024, 16:18

Stefanie hat geschrieben :
Do 4. Jan 2024, 15:17
https://www.zeit.de/campus/2012/06/robe ... ettansicht
Wer nur vernünftig ist, funktioniert wie eine Maschine. Das ist nicht lebenswert. Wir arbeiten dann ständig dafür, unser Leben zu finanzieren und zu verlängern. Aber wir fragen uns nicht, wofür wir überhaupt am Leben sind. Erst wenn wir unvernünftige Dinge tun, tanzen, trinken oder uns verlieben, haben wir das Gefühl, dass es sich zu leben lohnt.
Ich will gleich zugeben, dass ich nach diesem Absatz keine Lust mehr hatte, weiter zu lesen. Denn das halte ich für kompletten Bullshit. Eins ist sicher, wer durchgängig funktioniert wie eine Maschine und glaubt, dass sei vernünftig, der ist sicher nicht vernünftig. Ebenso sinnlos finde ich zu glauben, dass tanzen, trinken, sich verlieben und unvernünftig ist.




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Stefanie
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Do 4. Jan 2024, 17:03

Ich glaube er bezieht sich auf das vorher gesagte zur Vernunft.
Das hier:
'Das heißt: möglichst effizient zu handeln, uns permanent selbst zu optimieren und alles zu vermeiden, was zwar lustvoll, aber scheinbar schlecht für uns ist. Deshalb trinken wir Bier ohne Alkohol, essen Margarine ohne Fett und haben im Internet Sex ohne Körperkontakt.,"

Im Vergleich dazu wäre dann tanzen, trinken und sich verlieben unvernünftig.



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Jörn Budesheim
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Do 4. Jan 2024, 17:07

Es gibt doch keinen Sinn, das Unvernünftige Vernunft zu nennen, oder?




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AufDerSonne
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Do 4. Jan 2024, 17:20

Eine schwächere Form von Genuss ist Freude. Also an etwas Freude haben. Da ich mich ein wenig mit psychischen Krankheiten beschäftigt habe, ist mir noch folgendes in den Sinn gekommen.
Wann ist ein Mensch depressiv? Ein Mensch ist dann depressiv, wenn er keine Freude mehr empfinden kann. (Ich denke dann auch kein Genuss mehr.)

Diese Definition von Depression hat mir total eingeleuchtet. Ich kann sie gut nachvollziehen. Allerdings kann sich das ein gesunder Mensch kaum vorstellen, dass man einfach gar keine Freude mehr empfindet.



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AufDerSonne
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Do 4. Jan 2024, 17:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 4. Jan 2024, 17:07
Es gibt doch keinen Sinn, das Unvernünftige Vernunft zu nennen, oder?
Wenn es der Mainstream vorschreibt schon. Wenigstens mehr Sinn als vorher.
Der Mensch als Maschine, übrigens, ist eine schwierige Angelegenheit. Es sprich vieles dafür, dass der Mensch eine Maschine ist, aber eben auch einiges dagegen.
Der andere Satz: Der Mensch ist keine Maschine, hat auch etwas für sich.



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Stefanie
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Do 4. Jan 2024, 18:09

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 4. Jan 2024, 17:07
Es gibt doch keinen Sinn, das Unvernünftige Vernunft zu nennen, oder?
Ich denke schon. Aber es gibt doch den Satz, es ist vernünftig mal unvernünftig zu sein.
Es stört mich an seinen Aussagen noch irgendetwas, was ich aber noch nicht richtig beschreiben kann.

Edit. Das habe ich blöd geschrieben. Es macht keinen Sinn, wie Du geschrieben hast.



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Nauplios
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Do 4. Jan 2024, 18:57

Im Europa des 16./17. Jahrhunderts (insbesondere in England) gab es eine starke Strömung, die sich die Strenge calvinistischer Askese zu eigen machte. Der Mensch galt als vollkommen "verderbt" und erlösungsbedürftig. Sexualität um ihrer Lust wegen war der Inbegriff dieser Verderbtheit. Den Puritanern war alles verdächtig, das mit Lust, Freude, Genuß u.ä. verbunden war. Selbst das Weihnachtsfest geriet in diesen Verdacht. Und weil es ohnehin "katholisch" war, wurde es verboten. - In den Jahrzehnten nach Cromwells Tod (1658) herrschten in England vergleichsweise lockere Sitten, was sich unter Queen Victoria wieder änderte. Der Viktorianismus etablierte strenge Moralvorschriften. Getanzt wurde nach der Quadrille, einem Gesellschaftstanz mit festgelegten Tanzfiguren. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die Quadrille abgelöst durch einen "wilden" Tanz; beim Charleston schüttelte man sich ausgelassen den Viktorianismus des 19. Jahrhunderts aus den Gliedern. Josephine Baker (gibt es von ihr ein Portait im "Frauen"-Thread?) machte den Charleston zu einem Tanz der Befreiung. Als geradezu obszön galt der Tango.

Man sieht ein ständiges Auf und Ab. Auf die Enge der 50er Jahre folgte die "sexuelle Revolution". Oswald Kolle klärte die Gesellschaft auf. Fünf Sekunden eines nackten Busens ("Die Sünderin") hatten noch 1951 für wochenlange Empörung gesorgt.

"ZEIT camus: Heute ist aber auch viel mehr erlaubt als in den 1950ern!

Pfaller: Da sollten wir uns nicht täuschen. Wir dürfen heute nicht viel mehr. Der Unterschied ist, dass wir uns mit immer besseren Argumenten selbst verbieten, was uns früher von anderen Menschen verboten worden wäre."

Robert Pfaller trifft den Zeitgeist in seinen Pendelschlägen recht genau wenn er sagt: " Frauen und Männer sind heute mindestens genauso sexfeindlich und scheu wie in den 1950ern." - Bekümmern muß das nicht, denn Pendel kennen zwei Richtungen. ;)




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Jörn Budesheim
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Do 4. Jan 2024, 19:02

Pfaller hat geschrieben : Nur wenn wir ein bisschen verschwenderisch mit dem Leben umgehen, verhalten wir uns wirklich souverän und frei, weil das Leben dann nicht mehr Mittel zum Zweck ist. Alles, was uns Genuss verschafft, hat deshalb ein zwiespältiges und unvernünftiges Element. Alkohol ist ungesund, Sex ist unappetitlich, und Musikhören ist Zeitverschwendung.
Ich habe jetzt noch ein paar Zeilen weitergelesen, aber es quält mich, denn der Text ist mir äußerst unsympathisch.

Zum Zitat: Wenn wir uns nur dann wirklich souverän und frei verhalten, wenn wir ein wenig verschwenderisch mit dem Leben umgehen, dann ist es vernünftig, verschwenderisch mit dem Leben umzugehen.

Es scheint mir ziemlich offensichtlich, dass er den Begriff der Vernunft mit irgendetwas verwechselt, ich weiß nicht mit was, vielleicht mit irgendwelchen verqueren Erwartungen der Gesellschaft, irgendwelchen verqueren Normenvorstellungen oder was auch immer.

Vielleicht lese ich morgen noch ein paar Zeilen, ich habe jetzt keine Lust auf schlechte Laune :)




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Quk
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Di 9. Jan 2024, 10:36

Schlimm finde ich, wenn man den reinen Begriff "Genuss" gleichsetzt mit "Exzessiver Genuss", als gäbe es zwischen Null und Überschäumen keine wohldosierte Zischenzone. So wurde leider auch der alte griechische Begriff "Hedonismus", in dem es ursprünglich um Entspannung durch Bescheidenheit ging, in der Gegenwart zu einem Inbegriff ungezügelter, egoistischer Champagner-Orgien und dergleichen. Der Begriff ist seither nicht mehr verwendbar.

Ich bin ja ein alter Fan vom Epikur. Genuss ist für mich lebenswichtig. Aber eben nicht Genuss im Sinne von Verschwendung und Selbstsucht. Lebenswichtig ist für mich meine Bescheidenheit. Bescheidenheit ist kein Vakuum. Bescheidenheit bereitet einen kleinen Raum für Genuss. Dieser Genuss ist gerade deshalb so besonders reichhaltig, weil der ihm zur Verfügung stehende Raum so klein ist. Das ist doch der Trick bei der Sache! Wenn man den Genuss täglich höher dosieren muss, wird der Genuss in Wahrheit immer kleiner. Wenn die kleine Yacht keine Freude mehr macht, muss eine größere her. Und so weiter. Dieses verschwenderische Auftürmen ist im ursprünglichen Sinn kein Hedonismus und auch keine Sache des Epikur. Es ist genau das Gegenteil. Eigentlich muss man gar nichts besitzen, um Wunderbares genießen zu können. Wer genießen will, muss diszipliniert handeln, denn er muss den Genuss auch zügeln können, um ihn hinauszuzögern. Der Genuss ist sozusagen die Belohnung für die vorausgehende Selbstkontrolle und Bescheidenheit.

Heute morgen aß ich eine frische, rohe Salatgurke. Ohne Zutaten. Es war ein unglaublich großer Genuss. Während des Genießens wollte ich diese Gurke durch nichts eintauschen. Sie hat mich völlig erfüllt mit Glück. Das ist Epikur.




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