Schlösser, die im Monde liegen

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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AndreaH
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So 4. Feb 2024, 00:23

Nauplios hat geschrieben :
Sa 3. Feb 2024, 01:36
Ich muß gestehen, daß ich mich mit nordischer Mythologie nur wenig auskenne. Wenn Du magst, erzähle etwas darüber.
Ganz so intensiv habe ich mich mit der nordischen Mythologie auch noch nicht befasst. Das was ich bisher so erfahren habe, finde ich sehr interessant.
Von den Kelten gibt es keinen schriftlichen Nachlass, daher stützt man sich auf die Mythologie und überlieferte Gedichte und Lieder.
Die Runen sind zwar Schriftzeichen, jedoch wurden sie eher als Werkzeug genutzt. Man findet heute noch Steine in Skandinavien die mit Runen beschriftet sind. Die Götterwelt der Kelten war kriegerisch ausgelegt. Odin gilt als Gott der Runen und ist der Oberste des Göttergeschlechts der Asen. Er ist Gott der Kriege und Krieger, Zauberer und Seher. Zu seinen Wirkungsbereich zählen Magie und Weissagung.
Odin hat der Überlieferung nach sein Auge geopfert, um aus den Brunnen des Wissens trinken zu können. Daher wird er oft mit zwei Raben, die auf seinen Schultern sitzen abgebildet. Diese Raben fliegen für ihn auf der Welt herum, um zu sehen und ihm davon zu berichten.
Ich denke aber, es gab womöglich verschiedene Epochen oder auch Orte in denen der Glaube anders ausgelebt wurde. Ich habe ein Buch gefunden, indem ein Irischer Philosoph die spirituelle Welt der Kelten beschreibt. Die tiefe Verbindung zur Natur, ihre Sichtweise auf das Wesen der Liebe und ihre Beziehung zum Tod wird in der Lektüre behandelt.
Die Verbindung zur Natur war ein großer Bestandteil der keltischen Kultur. Deshalb richtet sich der keltische Jahreskreis nach den Sonnen- und Mondfesten.




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AndreaH
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So 4. Feb 2024, 00:26

Timberlake hat geschrieben :
Sa 3. Feb 2024, 01:46
AndreaH hat geschrieben :
Sa 3. Feb 2024, 01:34
Nauplios hat geschrieben :
Sa 3. Feb 2024, 01:30
Guten Abend Andrea. ;)
Guten Abend Nauplios! :)
Timberlake hab ich gerade auch gesehen!
Guten Abend Timberlake! :)

Wir Nachteulen wieder! ;) :D
.. Nachteulen sehen im Dunkeln besser !
Ich habe ein schönes Eulenbuch, von dem werde ich morgen berichten. ;) :)




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Nauplios
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So 4. Feb 2024, 11:51

AndreaH hat geschrieben :
So 4. Feb 2024, 00:23

Von den Kelten gibt es keinen schriftlichen Nachlass, daher stützt man sich auf die Mythologie und überlieferte Gedichte und Lieder.
Die Runen sind zwar Schriftzeichen, jedoch wurden sie eher als Werkzeug genutzt. Man findet heute noch Steine in Skandinavien die mit Runen beschriftet sind. Die Götterwelt der Kelten war kriegerisch ausgelegt. Odin gilt als Gott der Runen und ist der Oberste des Göttergeschlechts der Asen. Er ist Gott der Kriege und Krieger, Zauberer und Seher. Zu seinen Wirkungsbereich zählen Magie und Weissagung.
Vermutlich liegt in der fehlenden Schriftlichkeit der keltischen Mythologie daß sie keine hermeneutisch verfolgbare Wirkungsgeschichte hatte. Der griechische Mythos ist quellenmäßig gut dokumentiert. Über Jahrhunderte zieht sich seine Tradierung in der Poesie, Literatur, Philosophie usw. Man hat Texte, die man bis zum heutigen Tag deuten und auslegen kann. Diese Texte von Homer, Hesiod, Ovid u.a. werden durch die gesamte Kulturentwicklung immer wieder neu angereichert.

Bei der keltischen Mythologie hingegen gibt es keine Schriftbestände, an denen sich eine Hermeneutik abarbeiten könnte. Man hat ein paar Erwähnungen und Beschreibungen bei antiken Autoren, aber ansonsten ist man auf die Ausgrabungen der Archäologie, die Forschungen der Althistoriker u.ä. angewiesen.

Aufgefallen ist mir, daß offenbar in beiden Mythologien die Weissagung eine Rolle spielt. Auch bei den Kelten gab es Formen des mantischen Sehens. Der Seher, beziehungsweise die Seherin ist in der griechischen Mythologie oftmals blind, und diese Figur des Weissagens taucht in der keltischen Mythologie ebenfalls auf.

Es gibt eine interessante Studie von Wolfram Hogrebe zur Mantik, deren Hauptthese ist: "Mantik geht der Hermeneutik voraus". Er sieht die Mantik als eine Art Vorform der Hermeneutik, d.h. das verstehende Verhältnis des Menschen zu sich und der ihn umgebenden Welt hat einen mantischen Bezug. Am Begriff der Auslegung läßt sich das ganz gut zeigen. Im antiken Griechenland wurden Eingeweide von Tieren "ausgelegt" oder auch der Vogelflug u.a.




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AufDerSonne
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So 4. Feb 2024, 12:19

Nauplios hat geschrieben :
So 4. Feb 2024, 11:51
"Mantik geht der Hermeneutik voraus".
Das kann Sinn machen. Mantik (Kunst des Sehens und Wahrsagens) lässt der Phantasie mehr Spielraum als Hermeneutik (Erklärung eines Texts). Es gibt so eine Idee, dass die Natur immer den einfachsten Weg wählt oder ihn wenigstens bevorzugt. Muss man eigentlich, um aus der Mythologie einen Nutzen ziehen zu können, das Unmögliche explizit zulassen? Ich meine es so. Wenn man immer nur von den Dingen ausgeht, die es gibt, dann wird daraus wohl keine Mythologie?



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Nauplios
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So 4. Feb 2024, 16:52

AufDerSonne hat geschrieben :
So 4. Feb 2024, 12:19

Muss man eigentlich, um aus der Mythologie einen Nutzen ziehen zu können, das Unmögliche explizit zulassen? Ich meine es so. Wenn man immer nur von den Dingen ausgeht, die es gibt, dann wird daraus wohl keine Mythologie?
"Nutzen ziehen" - das ist eine Formulierung, die mir immer schon Unbehagen bereitete. Wenn dieser "Nutzen" darin besteht, daß man etwas besser versteht oder überhaupt erst etwas versteht, dann kann ich dieser Formulierung etwas abgewinnen. Aber vermutlich ist es anders gemeint.

Ansonsten gibt es nirgendwo eine Pflicht, sich mit dem Mythos zu beschäftigen. - Der Mythos löst ohnehin meistens Kopfschütteln aus. Wenn du jemandem sagst, daß du dich mit Fragen der Mythen und der Mythenrezeption beschäftigst, machst du dich ganz schnell verdächtig, ein Esoteriker zu sein, ein Zurückgebliebener, ein irrationaler Wirrkopf, der an irgendwelchen Bullshit glaubt. Fallen dann noch Namen wie Deleuze, Foucault oder Barthes, bist du eine Gefahr für den Weltgeist. ;)




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Nauplios
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So 4. Feb 2024, 18:12

Zum Erklärungsanspruch des Timaios gehörte es, die Beschaffenheit des Kosmos, seine Ordnung und Harmonie, mit der Seele des Menschen zu analogisieren. Der Kosmos selbst war dabei etwas Unerreichbares, das zwar bewundert werden konnte, aber dem sich die Seele nicht anverwandeln konnte. Dieser Gedanke kommt erst im Mittelalter auf. Der Traum von der astralen Unsterblichkeit äußert sich bei Marsilio Ficino:

"Warum betrachtet ihr euch so lange, göttliche Wesen? Erhebt eure Augen zum Himmel, Bürger eines himmlischen Vaterlandes, die ihr auf Erden wandelt! Ja, der Mensch ist ein irdischer Stern (terrena stella), von einer Wolke umgeben, und der Stern seinerseits ist ein himmlischer Mensch (celestis homo)." (Epistolarum familiarum liber I; S. 194)

"Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können", läßt Nietzsche seinen Zarathustra vier Jahrhunderte später verkünden.




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Nauplios
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So 4. Feb 2024, 18:59

"Das Individuum tritt in die Welt oder die Welt ins Individuum." - So schreibt Richard Strauss über den Beginn seiner symphonischen Dichtung Also sprach Zarathustra. "Sonnenaufgang", so hatte Strauss den ersten Teil überschrieben. Er beginnt mit den "Naturtönen" c-g-c, die wie aus dem Nichts kommend von den Trompeten vorgetragen werden. Eine kosmische Ursuppe entläßt diese Töne, die sich durch ein Crescendo hindurch zu einem Signal steigern, einem musikalischen Weckruf, auf den das Tutti des Orchesters dann pompös und erhaben antwortet.

Stanley Kubrick unterlegt die berühmte Anfangsszene von Odyssee im Weltraum mit dieser Musik von Richard Strauss. Im Grunde ist das eine cineastische Adaption von Ficinos "terrena stella"/"celestis homo". Und man sieht daran, daß es auch im 15. Jahrhundert "moderne" Gedanken und Vorstellungen gab.




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Nauplios
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So 4. Feb 2024, 19:18

"Ja, der Mensch ist ein irdischer Stern (terrena stella), von einer Wolke umgeben, und der Stern seinerseits ist ein himmlischer Mensch (celestis homo)." (Marsilio Ficino; Epistolarum familiarum liber I; S. 194)
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So 4. Feb 2024, 19:26





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AufDerSonne
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So 4. Feb 2024, 19:54

Nauplios hat geschrieben :
So 4. Feb 2024, 16:52
Der Mythos löst ohnehin meistens Kopfschütteln aus. Wenn du jemandem sagst, daß du dich mit Fragen der Mythen und der Mythenrezeption beschäftigst, machst du dich ganz schnell verdächtig, ein Esoteriker zu sein, ein Zurückgebliebener, ein irrationaler Wirrkopf, der an irgendwelchen Bullshit glaubt. Fallen dann noch Namen wie Deleuze, Foucault oder Barthes, bist du eine Gefahr für den Weltgeist. ;)
Ich habe keine Ahnung von Mythologie. Aber ich entdeckte vor ein paar Jahren, dass ich eine esoterische Ader in mir habe. Da hat mich der Tarot fasziniert. Also das Wahrsagen mit Karten.
Apropos Sterne. Die Sterne sind in einem gewissen Sinn die Atome des Universums. Ich glaube, weil sie so hell leuchten und eine riesige Masse haben und sich zu Galaxien formieren. Was auch erstaunlich ist, dass ein Stern über Milliarden von Jahren quasi stabil existiert. So wie unsere Sonne. Die ist jetzt ungefähr in ihrer Lebenshälfte und wird noch ein paar Milliarden Jahre lang leuchten. Ich meine, wir sprechen von Milliarden von Jahren, nicht nur von tausenden oder so. Und dann wandern ein paar Planeten darum herum. Jööh, herzig! Weil sie so klein sind im Vergleich zur Sonne. Darum herzig!

Die Spannung zwischen Chaos und Kosmos, Unordnung und Ordnung, finde ich auch interessant.



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Nauplios
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Mo 5. Feb 2024, 19:45

Schaut man auf die Bestände der alteuropäischen Literatur, lassen sich ganz unterschiedliche Textsorten ausmachen. Epische Dichtung steht neben philosophischen Fragmenten und Schriften, Poesie neben historischen Kriegsdarstellungen, dazwischen "Fachliteratur" über Kunst, Traktate über Ackerbau und Geographie. Selten sind dagegen Schriften, die sich mit der Architektur beschäftigen. Am bekanntesten sind sicher die Zehn Bücher über Architektur ("De architectura libri decem") des römischen Schriftstellers und Architekten Vitruv.

Heute ist dieses Werk kaum noch bekannt. Anders dagegen der homo vitruvianus von Leonardo da Vinci:
Da_Vinci_Vitruve_Luc_Viatour.jpg
Da_Vinci_Vitruve_Luc_Viatour.jpg (110.15 KiB) 601 mal betrachtet


(Leonardo da Vinci - homo vitruvianus - 1490)

Leonardo greift damit einen Gedanken auf, der bereits in den alten Kulturen aufkam und die Renaissance und das Mittelalter beschäftigt hat: gibt es strukturelle und proportionale Ähnlichkeiten zwischen dem Kosmos und dem Menschen? - Träfe das zu, wäre der Mensch in den Proportionen seines Körperbaus eine Miniatur des physischen Universums, ein Mikrokosmos, eine kleine Welt, in der die große Welt erschlossen werden könnte. Auch dieser Gedanke stellt die Verbindung zwischen Mensch und Kosmos her.




Timberlake
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Mo 5. Feb 2024, 20:38

AufDerSonne hat geschrieben :
So 4. Feb 2024, 19:54

Ich habe keine Ahnung von Mythologie. Aber ich entdeckte vor ein paar Jahren, dass ich eine esoterische Ader in mir habe.
Wäre denn das Entstehen einer Mythologie ohne eine esoterische Ader überhaupt denkbar? Wie dem auch sei , das Wirken einer streng wissenschaftlichen Ader können wir mit Sicherheit ausschließen. Ist doch von daher weder das Entstehen einer Mythologie , noch das Entstehen von "Schlössern die hinter dem Monde liegen" denkbar.
uni-frankfurt.de hat geschrieben :
Aspekte philosophischer Mythentheorien im 20. Jahrhundert

Unsere abendländische Kulturgeschichte ist nach Blumenberg der Versuch, die für uns Menschen
bedrohliche, übermächtige Wirklichkeit gedanklich, wissenschaftlich/technisch zu verarbeiten, sie
literarisch, künstlerisch zu durchdringen. Diesen Prozess, der mit der Mythenbildung begann und im
Zeitalter von Wissenschaft und Technik nicht abgeschlossen ist, bezeichnet Blumenberg als die
„Arbeit am Mythos.“ Er meint damit nicht die Überwindung des Mythos, sondern „Distanzgewinn
<......> und Abmilderung des bitteren Ernstes.“54

.. oder vielleicht doch , wenn denn mit dem Zeitalter von Wissenschaft und Technik tatsächlich der Prozess der Mythenbildung begann. Zwar eine bedrohliche, übermächtige Wirklichkeit zunächst literarisch, künstlerisch bzw. esoterisch aber auch philosophisch gedanklich durchdringend , jedoch im Verlauf des wissenschaftlichen technnischen Fortschritts dazu tatsächlich ein steter Distanzgewinn zu verzeichenen war. Wenn es denn in dem o.g. Zitat heißt , dass im Zeitalter von Wissenschaft und Technik die „Arbeit am Mythos.“ nicht abgeschlossen ist, dann ganz sicher vor dem Hintergrund , dass eine literarisch, künstlerisch , esoterisch aber auch philosophisch Aufarbeitung einer bedrohliche, übermächtige Wirklichkeit ja noch immer stattfindet und ganz sicher auch noch in Zukunft stattfinden wird. Jeglichem wissenschaftlichen technischen Fortschritts zum Trotz. In soferen man deine esoterische Ader als deine ganz persönliche „Arbeit am Mythos.“ bezeichnen könnte. Jedoch als solches , diesem Trotz entsprechend, vielmehr als ein Distanzgewinn vom wissenschaftlichen technischen Fortschritts,

Somit nach meiner Ansicht diese "Arbeit am Mythos" mit diesen Distanzgewinn auch eine Hinwendung Mythos beinhaltet. Zumal mir diese Distanzierung doch als sehr hilfreich bei der "Abmilderung des bitteren Ernstes" , des wissenschaftlichen technischen Fortschritts erscheint ...
uni-frankfurt.de hat geschrieben :
Aspekte philosophischer Mythentheorien im 20. Jahrhundert

Der Mensch: Ein „Mängelwesen“45, das schutzlos dem Absolutismus der Wirklichkeit ausgesetzt ist.
Dies ist Blumenbergs grundlegende Sicht der Situation des Menschen. Aufgrund elementarer
Mängel - es mangeln dem menschlichen Körper z.B. die Klauen und das Fell, und seinem Geist fehlt
der Instinkt - ist es die Angst, die den Menschen beherrscht. Blumenberg bezeichnet diese Angst als
„Intentionalität des Bewusstseins ohne Gegenstand.“46 Er verdeutlicht diesen Ausdruck durch die
Beschreibung des „Situationssprungs,“ den der Vormensch vollzogen hat, als er seinen Lebensraum
aus dem schützenden Regenwald in die offene Savanne verlegte. Der Wechsel war verbunden mit
der Wahrnehmung eines erweiterten, unbesetzten Fernhorizonts, von dem unbekannte Gefahren
drohen.4
.. und zwar den wissenschaftlichen technischen Fortschritts eines „Mängelwesen“ in dessen Geist der Instinkt für diesen so ganz anderen , um nicht sogar zu sagen zum gegensätzlichen, des hier beschriebenen „Situationssprungs,“ fehlt.




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Nauplios
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Di 6. Feb 2024, 10:50

Timberlake hat geschrieben :
Mo 5. Feb 2024, 20:38

Wäre denn das Entstehen einer Mythologie ohne eine esoterische Ader überhaupt denkbar?
Esoterik ist kein Fall von Mythologie. Und der Mythos ist keine Applikation esoterischen Wissens. Das aufgeklärte Denken stellt den Mythos gerne in eine Reihe mit okkulten Praktiken, mit magischen Beschwörungen, mit geheimen Verschwörungen. Der Mythos gilt als vernunftresistent, bloße Vorform des Logischen, bestenfalls als Verlegenheitslösung für begrifflich Unerfaßtes, schlimmstenfalls als Lüge.

Esoterik ist eine Sammelbezeichnung für geheimes Wissen, für ein Wissen, an dem man vorzugsweise durch ein Ausgewähltsein beteiligt ist oder sich Zugang durch Einübung verschaffen muß. Alchemie, Spiritismus, Okkultismus, Zaubersprüche, Aberglaube u.ä. - in aller Regel geht es bei der Esoterik um etwas Geheimnisumwobenes, das u.a. dadurch geheim bleibt, daß es nicht schriftlich aufgezeichnet wird. Vielmehr geht es um Praktiken wie Heilungsarbeit, Körperenergien, Tarot, Reiki, Heilsteine usw.

Der Mythos hingegen ist nicht geheim. Im Gegenteil. Der Mythos ist eine Erzählung. Solche Erzählungen wurden in Form der epischen Dichtung (Homer, Hesiod, Ovid) aufgeschrieben, auch mündlich tradiert, aber sie stellten kein geheimes Wissen dar. Die mythischen Erzählungen waren allgemein bekannt. Sie waren Gegenstand von Kunstwerken, Tragödien und wurden in Komödien parodiert.

Es spricht nichts dafür, Esoterik, Mythologie, Verschwörungstheorie, Zauberei und Magie in den großen Topf des Unwissenschaftlichen zu rühren.




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Di 6. Feb 2024, 11:27

Mythen sind ja praktisch DIE (paradigmatischen) ersten ("Orientierung stiftenden") "Großerzählungen". (Vielleicht noch neben Religionen u.ä.) Auch heute noch gibt es "moderne Mythen", die aber nicht mehr den Stellenwert der "Original"-Mythen haben (oder zumindest nicht so sehr explizit, sozusagen "offiziell" als solche "residieren").

(Narrative sind essenziell - etwa sinn-, bedeutungs-, wertestiftend etc. - für Menschen/menschliche Gemeinschaften. -> Pan narrans - der Geschichten erzählende Affe)




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Jörn Budesheim
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Nauplios
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Di 6. Feb 2024, 19:38

Man muß nur tief genug in den Brunnen der Vergangenheit hinabsteigen, um zu finden, was man vor langer Zeit schon mal geschrieben hatte:

"Das 'Kind der doppelten Tür' - damit ist der Dionysos der griechischen Mythologie gemeint, den die Antike auch den 'zweimal Geborenen' (dissotokos) nennt. Er ist der Gott der Fruchtbarkeit, auch der Gott des Weines (lat.: Bacchus) und nach dem Tod der Mutter (Semele) näht Zeus, sein Vater, ihn bis zur Geburt in seinen Schenkel ein (deswegen 'Schenkelgeburt'). Danach wird er von Semeles Schwester Ino - nach anderer Quelle auch von den Nymphen von Nysa - gepflegt und aufgezogen. Die Begleiter des Dionysos sind die Satyrn, Silene und Nymphen. Seine Verehrerinnen sind die sog. Mänaden, auch Bakchen genannt (s. die gleichnamige Tragödie des Euripides). Die Bakchen feiern Dionysos in einem orgiastischen Kult; Im Taumel zerfleischen sie junge Rehkälbchen und verzehren das rohe Fleisch. -

Nietzsche ist wohl der prominenteste Philosoph, der herausgearbeitet hat, daß sich aus dem Kultlied des Dionysos - dem Dithyrambos - die griechische Tragädie entwickelt hat (Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik) ... damit greift er allerdings Gedanken auf, die sich auch schon bei Jacob Bernays und natürlich bei Jakob Burckhardt finden ... - Das Dionysische ist in der europäischen Geistesgeschichte ein fester Topos des Schöpferischen, aber auch der Zerstörung ... wenn man so will ein Sinnbild schöpferischer Zerstörung ... bei Nietzsche ein Kunstprinzip ... ähnlich bei Hölderlin, Heinse, Schelling oder Creutzer ... -

Auf die Wiederkehr des Dionysos wartet vor allem Hölderlin in Brod und Wein; mit ihm begreift die Frühromantik die Moderne mit ihrer Aufklärung als eine götterlose Zeit, als 'Gottferne' oder auch 'Götternacht'. Die Argumentation geht in etwa so: Die aufklärerische Form der Rationalität ist abstrakt analytisch. Alles wird analysiert, 'aufgelöst' und Friedrich Schlegel hat ja prophezeit, sogar die Vernunft werde eines Tages die Positivität ihrer eigenen Legitimität untergraben. Dagegen setzt der unbekannte Verfasser des Ältesten Systemprogramms des Deutschen Idealismus die These: 'Wir müssen eine neue Mythologie haben'. Damit ist natürlich nicht die Rückkehr zu den alten Göttern gemeint, sondern die neue Mythologie ist die Poesie. -

(Nauplios am 11. November 2006 im Thread "Schenkelgeburten" im alten Forum)




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Ich liege seit dem Wochenende im Krankenbett, heute habe ich mir zu dem Thema hier dieses Video angeschaut.





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Quk
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Di 6. Feb 2024, 20:40

Gute Besserung. Ich bin auch krank ...




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Gute Besserung!




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AndreaH
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Nauplios hat geschrieben :
So 4. Feb 2024, 11:51


Vermutlich liegt in der fehlenden Schriftlichkeit der keltischen Mythologie daß sie keine hermeneutisch verfolgbare Wirkungsgeschichte hatte. Der griechische Mythos ist quellenmäßig gut dokumentiert. Über Jahrhunderte zieht sich seine Tradierung in der Poesie, Literatur, Philosophie usw. Man hat Texte, die man bis zum heutigen Tag deuten und auslegen kann. Diese Texte von Homer, Hesiod, Ovid u.a. werden durch die gesamte Kulturentwicklung immer wieder neu angereichert.

Bei der keltischen Mythologie hingegen gibt es keine Schriftbestände, an denen sich eine Hermeneutik abarbeiten könnte. Man hat ein paar Erwähnungen und Beschreibungen bei antiken Autoren, aber ansonsten ist man auf die Ausgrabungen der Archäologie, die Forschungen der Althistoriker u.ä. angewiesen.

Aufgefallen ist mir, daß offenbar in beiden Mythologien die Weissagung eine Rolle spielt. Auch bei den Kelten gab es Formen des mantischen Sehens. Der Seher, beziehungsweise die Seherin ist in der griechischen Mythologie oftmals blind, und diese Figur des Weissagens taucht in der keltischen Mythologie ebenfalls auf.

Es gibt eine interessante Studie von Wolfram Hogrebe zur Mantik, deren Hauptthese ist: "Mantik geht der Hermeneutik voraus". Er sieht die Mantik als eine Art Vorform der Hermeneutik, d.h. das verstehende Verhältnis des Menschen zu sich und der ihn umgebenden Welt hat einen mantischen Bezug. Am Begriff der Auslegung läßt sich das ganz gut zeigen. Im antiken Griechenland wurden Eingeweide von Tieren "ausgelegt" oder auch der Vogelflug u.a.
Ja, die fehlende Schriftlichkeit ist wohl der größte Punkt, weshalb nur spärliche Hinweise über die keltische Kultur vorliegen. Die archäologische Funde liefern dagegen eine stabile Nachweislichkeit dieser vergessenen Kultur. Schriftlich geben überwiegend Cicero oder Cäsar Auskunft über diese Stammesgruppen.
Es ist jedoch ein großer Unterschied schriftlich etwas zu haben von einer außenstehenden Person oder von der Person selbst um die es geht. Ein außenstehender interpretiert ja immer von einer Position aus, indem ihm bereits Informationen fehlen.

Das mit der Weissagung ist tatsächlich interessant auch die Studie von Wolfram Hogrebe. Mir war gar nicht klar, dass die Beschäftigung mit der Mantik so umfangreich ist.

Da die Kelten naturbezogen waren, verfügten sie über ein großes Wissen über Heilkräuter und Pflanzen. Dies hat sich möglicherweise mit der Christianisierung in die Klöstergärten verlagert.
So bleiben uns kleine Fragmente an Bräuchen, die hier und da mal aufblitzen, wie z. B. der Mistelzweig.




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