Schlösser, die im Monde liegen

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Jörn Budesheim
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Mi 7. Feb 2024, 11:37

Wenn wir zum Mond schauen, sehen wir oft auch die Sterne, deswegen passt dieser kleine Abstecher vielleicht.
Kant hat geschrieben : »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht […]: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. […] Ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.«​
Daniel Kehlmann und Omri Boehm, Der bestirnte Himmel über mir, Ein Gespräch über Kant hat geschrieben : Kehlmann Gibt es hier eine Verwandtschaft zwischen Kants Konzept des Erhabenen und Heideggers Begriff der Angst? Die Gegenpole scheinen sich zu berühren.

Boehm Beide Begriffe sind tatsächlich gleich und gegensätzlich, denke ich. Eine Möglichkeit, sich das klarzumachen, ist, dass beide der Furcht gleichen, aber als Nicht-Furcht definiert werden. Denn die Furcht besteht vor einem mächtigen Objekt in der Welt, während sowohl das Erhabene als auch die Angst sich einstellen, wenn wir so überwältigt sind, dass wir ein Objekt gar nicht mehr völlig erfassen können. Heidegger würde sagen: »Die Angst offenbart das Nichts. Wir ›schweben‹ in Angst. Deutlicher: die Angst lässt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt.«​ Das heißt ein Unvermögen, weltliche Objekte, die Welt als ein Objekt – und uns selbst als ein Objekt in der Welt – zu erfahren. Durch diese Angst erfahren wir Freiheit.

Das Erhabene hat genau dieselbe Struktur: Überwältigt von äußeren Eindrücken auf den Geist, kolossalen Naturereignissen wie dem bestirnten Himmel oder einem Tsunami, gelingt es uns nicht, ein Ding bewusst zu erfassen. Für Kant aber können wir ein empirisches Bewusstsein unseres Daseins, das ein Bewusstsein unseres Fortbestehens in der Zeit erfordert, nur im Verhältnis zu einem äußeren, im Raum erfahrenen Ding entwickeln. Es gibt für ihn kein inneres Bewusstsein ohne ein äußeres, und das bedeutet, dass das Unvermögen, ein äußeres Ding im Raum zu fixieren, zugleich unsere Unfähigkeit einschließt, unser eigenes Dasein empirisch zu bestimmen: uns also das Seiende im Ganzen entgleitet, wenn man so will, und das ist zugleich eine Erfahrung der Freiheit. So weit die Ähnlichkeit.

Der Unterschied aber ist wesentlich: Für Kant offenbart dies unser Verhältnis zur Unendlichkeit, für Heidegger zur Endlichkeit. Der ganze Unterschied zwischen einem Kant und einem Heidegger, zwischen dem Humanismus des Ersteren und dem Antihumanismus des Letzteren, dreht sich wohl um diese Frage. Daher auch die berühmte Debatte zwischen dem Kantianer Cassirer und Heidegger in Davos, in der es zu einem großen Teil um das Verhältnis des Humanismus zur Unendlichkeit geht. Die klarste Beschreibung dieser Erfahrung bei Kant findet sich übrigens in dem berühmten Absatz zu Beginn des »Beschlusses« der Kritik der praktischen Vernunft, den wir für den Titel dieses Buches heranziehen und der nichts anderes ist als eine Beschreibung des Erhabenen. Mich überrascht immer, dass das nicht öfter bemerkt wird...




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Nauplios
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Mi 7. Feb 2024, 12:12

AndreaH hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 00:22

Das mit der Weissagung ist tatsächlich interessant auch die Studie von Wolfram Hogrebe. Mir war gar nicht klar, dass die Beschäftigung mit der Mantik so umfangreich ist.
Das kleine Büchlein von Wolfram Hogrebe heißt:

Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen

Im Klappentext heißt es:

"Mantik ist ursprünglich die Interpretationskunst naturwüchsiger Sinnbestände im Dienste des Sicherungsverhaltens des Menschen: so wie sich im Minenspiel ein sonst unzugängliches Inneres der mantischen Deutung verrät, interpretierte sie einstmals alle natürlichen Ereignisse als Mimik des Universums. In einem situationsdiagnostischen Sinn interpretieren wir auch heute noch und stets zuerst nach mantischcr Manier, wo wir z. B. Stimmungslagen registrieren. Die Bedeutungssubstanzen, die sich auf diese Weise erschließen, lassen sich gewöhnlich nur recht unvollkommen versprachlichen, sie sind subsemantischer Art und reichen tief in unsere heuristische Deutungsnatur, als deren Theorie eine bereinigte Metaphysik auftreten kann."

In der Formulierung "Mimik des Universums" scheint der Gedanke von Marsilio Ficino wieder auf: der Mensch als "irdischer Stern" - der Stern als "himmlischer Mensch". Das Universum hat wie der Mensch eine Physiognomie. Solche Analogisierungen gibt es etwa auch in der Musik. Richard Strauss' Also sprach Zarathustra in Kubricks Odyssee im Weltraum hab ich schon erwähnt. Imposante Orchestertuttis werden dort den Bildern eines majestätischen Universums unterlegt. Um die kreisenden Bewegungen der Planeten und Raumschiffe musikalisch auszudrücken, greift Kubrick dann zu dem berühmten Donauwalzer von Johann Strauss. Das Universum wird zu einem Ballsaal, durch den sich alles zu einem rauschenden Fest arrangiert, einem Wiener Opernball kosmischen Ausmaßes.

Schaust Du Dir übrigens morgen die Übertragung vom 66. Opernball im Fernsehen an, Andrea? ;)




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Quk
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Mi 7. Feb 2024, 12:54

Nauplios hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 12:12
Um die kreisenden Bewegungen der Planeten und Raumschiffe musikalisch auszudrücken, greift Kubrick dann zu dem berühmten Donauwalzer von Johann Strauss. Das Universum wird zu einem Ballsaal, durch den sich alles zu einem rauschenden Fest arrangiert, einem Wiener Opernball kosmischen Ausmaßes.
Ja, die kreisenden Bewegungen im Raum. Des Weiteren denke ich bei diesem Kubrick-Werk am Filmende, beim Übergang vom Greis zum Embryo, an die Kreise in der Zeit; die Lebens-Zyklen, Lebensgeschichten, die einerseits individuell immer wieder von vorn anfangen, andererseits in größerer Gemeinsamkeit sich immer weiter entwickeln.




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Nauplios
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Mi 7. Feb 2024, 20:00

Ja, das ist ein interessanter Gedanke, daß das Leben (sowohl des Menschen als auch der Menschheit) nicht ein linearer Verlauf ist, sondern nach der Zyklik als Anschauungsform der Geschichte organisiert ist. Bei Giambatista Vico ist der Mensch ein solches Naturwesen, das als Folge seiner Natur an das ewige Werden und Vergehen gebunden ist. Und prominent vertreten ist diese Vorstellung natürlich bei Nietzsche. In der Fröhlichen Wissenschaft ist die Rede von der "ewigen Sanduhr des Daseins", die "immer wieder umgedreht wird ... Und du mit ihr, Stäubchen vom Staube". (Friedrich Nietzsche; Die fröhliche Wissenschaft; in: KSA; Bd. 3; S. 570)




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Quk
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Mi 7. Feb 2024, 20:39

Ebenso interessant finde ich unseren intuitiven Eindruck, dass der 3/4-Takt einem Kreis gleichkommt, zumal hier geradezu eine Synästhesie vorliegt: Kreise kann man ja nicht hören.

Ich vermute ja, der Kreiseindruck rührt daher, dass wir zwei Beine haben, mit denen wir marschieren -- links, rechts, links, rechts --, und dass dieses Geh-Muster immer mit einer geraden Zahl endet, während bei einem Dreier-Muster-Tanz auf zwei Beinen nie eine gerade Zahl beim Abschluss vorkommt. Es kommt praktisch nie zur geraden Vollendung. Bei jeder Dreier-Vollendung will man intuitiv noch einen vierten Punkt setzen, weil man eine gerade Zahl an Beinen besitzt. Setzt man aber den vierten, ist das schon wieder die Eins des nächsten Durchgangs. Das rollt und rollt und rollt kreisrund und kommt nicht zur Ruhe. Dazu kommt noch, dass nach jeder ungeraden Vollendung fast der ganze Körper in einen Schwebezustand gerät, wodurch ein fliegerisches Gefühl ensteht. Und so sieht der Walzertanz ja dann auch aus, wenn man zuschaut :-) Finde ich.




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Nauplios
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Mi 7. Feb 2024, 21:48

Quk hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 20:39

Das rollt und rollt und rollt kreisrund und kommt nicht zur Ruhe. Dazu kommt noch, dass nach jeder ungeraden Vollendung fast der ganze Körper in einen Schwebezustand gerät, wodurch ein fliegerisches Gefühl ensteht. Und so sieht der Walzertanz ja dann auch aus, wenn man zuschaut :-) Finde ich.
Ja, so sehe ich es auch, wobei die Effekte der Synästhesie nahezu alle Sinne betrifft. Man ist regelrecht betört von der Gesamtheit all dieser Sinneseindrücke, berauscht von einer Welt, die vor dem geistigen Auge entsteht und die Herzen öffnet. Carl Maria von Weber hat mit seiner "Aufforderung zum Tanz" die Bewegung des 3/4-Taktes der Bewegtheit des Gemüts anverwandelt. Ein sanftes Cello-Solo eröffnet das Stück, was der Eröffnungsszene eines Tanzes nachgestellt ist. Er tritt mit einer leichten Verbeugung auf sie zu, derweil sie sich leicht errötend ziert, um dann seiner Aufforderung doch nachzukommen. Ein weiches Des-dur, getragen von Streichern, Klarinetten und Flöten bildet dazu den Hintergrund. Die Nähe zwischen den Tanzpartnern liegt förmlich in der Luft und mit einem Fortissimo des ganzen Orchesters fällt dann schlagartig alle Koketterie, alle Zurückhaltung, alle Reserviertheit; und in einem Taumel voller Kaskaden geht es wirbelnd und kreisend in die Unendlichkeit. Man kann das Atmen und den Herzschlag des Paares geradezu hören, kann das Rauschen ihres Ballkleides, das Schweben über dem Boden, das Wogen ihres Busens, den Duft ihrer Haare vernehmen. Mit der "Aufforderung zum Tanz" ist Weber eine musikalisch ausgestaltete Szenerie gelungen. Das ist mehr als nur Hören! - Das ist lustvolles Versinken.




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Quk
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Mi 7. Feb 2024, 22:29

Nauplios hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 21:48
... und mit einem Fortissimo des ganzen Orchesters fällt dann schlagartig alle Koketterie, alle Zurückhaltung, alle Reserviertheit; und in einem Taumel voller Kaskaden geht es wirbelnd und kreisend in die Unendlichkeit.
Mit dem Fortissimo meinst Du bestimmt den Teil ab 1:43. Beim Zuhören fing da mein rechter Fuß automatisch an zu wippen :-)



Zwischen 5:04 und etwa 5:40 musste dann auch mein Kopf automatisch wippen. Diesen etwas strengeren Teil finde ich klasse.




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Nauplios
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Do 8. Feb 2024, 19:44

Quk hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 22:29

Mit dem Fortissimo meinst Du bestimmt den Teil ab 1:43. Beim Zuhören fing da mein rechter Fuß automatisch an zu wippen :-)
Ja, die Stelle war gemeint. Der Zuhörer hat hier das Gefühl, daß der 3/4-Takt vorübergehend in einen 2/4-Takt übergeht. Der Effekt kommt dadurch zustande, daß im zweiten Takt dieses Fortissimo die Zählzeit *3* unbetont bleibt. Weber setzt diese Synkope ein, um den Zuhörer in einer Spannung zu halten, bevor nach 16 Takten dann der 3/4-Takt dominiert.

Es wäre ein interessantes Forschungsfeld der Phänomenologie, dieses Verhältnis von musikalischen Strukturen einerseits und ihrem Erleben als Leiberfahrung andererseits zu beschreiben. Das gilt grundsätzlich für das Musikempfinden. Wenn ich es richtig sehe, hat Husserl hier keine Vorarbeit geleistet.




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AndreaH
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Do 8. Feb 2024, 23:35

Nauplios hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 12:12


Das kleine Büchlein von Wolfram Hogrebe heißt:

Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen

Im Klappentext heißt es:

"Mantik ist ursprünglich die Interpretationskunst naturwüchsiger Sinnbestände im Dienste des Sicherungsverhaltens des Menschen: so wie sich im Minenspiel ein sonst unzugängliches Inneres der mantischen Deutung verrät, interpretierte sie einstmals alle natürlichen Ereignisse als Mimik des Universums. In einem situationsdiagnostischen Sinn interpretieren wir auch heute noch und stets zuerst nach mantischcr Manier, wo wir z. B. Stimmungslagen registrieren. Die Bedeutungssubstanzen, die sich auf diese Weise erschließen, lassen sich gewöhnlich nur recht unvollkommen versprachlichen, sie sind subsemantischer Art und reichen tief in unsere heuristische Deutungsnatur, als deren Theorie eine bereinigte Metaphysik auftreten kann."
:D kleines Büchlein :D
diese kleine Büchlein klingt wirklich interessant.
Auf jeden Fall hat die Mantik jetzt für mich doch eine andere Gewichtung bekommen, vorher habe ich mich eher an ihrer Bespaßung erfreut und Orakel in die Esoterik Ecke geschoben. Jetzt mit dieser geschichtlichen Ursprünglichkeit und ihren kulturellen Lauf wird es doch sehr interessant. ;)




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AndreaH
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Do 8. Feb 2024, 23:54

Nauplios hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 12:12


In der Formulierung "Mimik des Universums" scheint der Gedanke von Marsilio Ficino wieder auf: der Mensch als "irdischer Stern" - der Stern als "himmlischer Mensch". Das Universum hat wie der Mensch eine Physiognomie. Solche Analogisierungen gibt es etwa auch in der Musik. Richard Strauss' Also sprach Zarathustra in Kubricks Odyssee im Weltraum hab ich schon erwähnt. Imposante Orchestertuttis werden dort den Bildern eines majestätischen Universums unterlegt. Um die kreisenden Bewegungen der Planeten und Raumschiffe musikalisch auszudrücken, greift Kubrick dann zu dem berühmten Donauwalzer von Johann Strauss. Das Universum wird zu einem Ballsaal, durch den sich alles zu einem rauschenden Fest arrangiert, einem Wiener Opernball kosmischen Ausmaßes.

Schaust Du Dir übrigens morgen die Übertragung vom 66. Opernball im Fernsehen an, Andrea? ;)
Oh, nein die Übertragung des Opernballs schaue ich mir nicht an. Dies ist nicht meine Welt. :?
Der Wiener Opernball ist der bekannteste, jedoch gibt es in ganz Österreich sehr viele kleinere Bälle.
Ich würde z.B. sofort zum Zuckerbäckerball gehen. :D Das wäre absolut meins.


https://youtu.be/I6pnr5mJBUU?feature=shared




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Nauplios
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Fr 9. Feb 2024, 11:25

AndreaH hat geschrieben :
Do 8. Feb 2024, 23:54

Oh, nein die Übertragung des Opernballs schaue ich mir nicht an. Dies ist nicht meine Welt. :?
Eine "versunkene Kiste" nannte Kaiser Franz-Joseph das imposante Gebäude der Wiener Staatsoper einst abschätzig. Und dieser Opernball ist ja auch eine Zeremonie des Versunkenen. Wenn das "Jungdamen- und Herrenkomitee" zu den Klängen von Ziehrers "Fächerpolonaise" einzieht, in den Logen die Staatsprominenz lächelt, im Stiegenhaus die Paare flanieren und das Parkett schließlich mit der Strauß-Losung "Alles Walzer" freigegeben wird, dann liegt ein Hauch 19. Jahrhundert und Wiener Kongress in der Luft.

Ich habe mir alle vier Stunden der Übertragung in 3-Sat angeschaut. ;) Versunkene Welten interessieren mich ohnehin mehr als groteske Zukunftsvisionen. Luftgeister der Vergangenheit gleiten unsichtbar durch die Prunksäle der Wiener Staatsoper in dieser Ballnacht.

In den Seitenstraßen gab es lautstarke Demonstrationen der KJÖ (Kommunistische Jugend Österreichs) gegen die Dekadenz und den Personenkult des Opernballs - auf den Schildern das Konterfei Lenins. Auch hier ein Hauch 19. Jahrhundert. Und was den Kult von Prominenz und Person angeht: Lenins Leichnam liegt einbalsamiert in einem eigens errichteten Mausoleum, nicht unähnlich der Wiener Staatsoper. ;)

So braucht jede Tradition ihre "versunkenen Kisten".


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Timberlake
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Fr 9. Feb 2024, 14:15

Nauplios hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 12:12
AndreaH hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 00:22

Das mit der Weissagung ist tatsächlich interessant auch die Studie von Wolfram Hogrebe. Mir war gar nicht klar, dass die Beschäftigung mit der Mantik so umfangreich ist.
Das kleine Büchlein von Wolfram Hogrebe heißt:

Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen

Im Klappentext heißt es:


In der Formulierung "Mimik des Universums" scheint der Gedanke von Marsilio Ficino wieder auf: der Mensch als "irdischer Stern" - der Stern als "himmlischer Mensch". Das Universum hat wie der Mensch eine Physiognomie. Solche Analogisierungen gibt es etwa auch in der Musik. Richard Strauss' Also sprach Zarathustra in Kubricks Odyssee im Weltraum hab ich schon erwähnt. Imposante Orchestertuttis werden dort den Bildern eines majestätischen Universums unterlegt.

.. ich ergänze , solche Analogisierung gibt es insbesondere in der Musik von Vivaldis "Vier Jahreszeiten" . Das man diese "Mimik der vier Jahreszeiten " auch sehr gut tanzen kann .. wohlgemerkt auch vom Orchester und einer fantastischen Solo Violinistin! .. .. davon konnte ich mich übrigens vor Jahren , in einer über das Fernsehen ausgestrahlten Aufführung selbst überzeugen. Ein Hochgenuß , der mir bis heute in Erinnerung geblieben ist und die ich bei solchen Gelegenheiten immer wieder gerne abrufe und weil uns demnächst eine solche " majestätische Mimik" in freudiger Erwartung bevorsteht , in Ton , Bild und Wort ..



"Vom Eise befreit sind Strom und Bäche,
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungs-Glück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben ...

Goethe .. Osterspaziergang




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Nauplios
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Fr 9. Feb 2024, 19:01

Es gibt bei der Betrachtung eines Bildes, beim Hören von Musik, bei einem Gedicht ... jenen Moment, in dem ein Betrachter, ein Hörer sagt: "Dieses Bild spricht mich sehr an" oder auch: "Also diese Musik sagt mir gar nichts." - Sind das nur leere Floskeln? - Kann ein Bild sprechen? - Kann Musik etwas sagen? -

Folgt man der hermeneutischen Linie, dann können Kunstwerke uns ansprechen. Die Hermeneutik hat schon sehr früh über ihr Verständnis von Sprache die Dinge, die Natur sprechen lassen. Novalis sieht darin "jene große Chiffrenschrift, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels [...], und sonderbaren Conjuncturen des Zufalls erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben; allein die Ahndung will sich selbst in keine festen Formen fügen." (Novalis; Schriften; Bd. I; S. 79)

Das romantische Grundwort für diese "Wunderschrift" ist die "Ahndung". Die Natur spricht uns an, aber wir können das nicht in eine festgefügte Sprachform bringen; es ist ein implikatives Prädikat, das der "Ahndung" einwohnt. Im Ahnen - im Vorahnen - zeigt sich, was der Hermeneutik als Mantik eingelegt ist.




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Nauplios
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Sa 10. Feb 2024, 11:45

Novalis' "große Chiffrenschrift" setzt voraus, daß sie, um als Schrift erkannt zu werden, decodierbar ist. Als Gegenstand einer vorprädikativen Erfahrung muß die Welt vernehmbar sein. Sie muß lesbar, hörbar, sichtbar ... in einem metaphorischen Sinne sein.

Der Kosmos ist sichtbar und man kann dann aus der Konstellation der Sterne durch mantisches Vermögen etwas "herauslesen", was nur in Chiffrenschrift vorliegt. Der Kosmos ist aber auch hörbar. Diese faszinierende Vorstellung haben die Pythagoreer entwickelt. Die Bewegungen der Himmelskörper erzeugen Töne. Wie hoch oder tief ein Ton jeweils ist, hängt von der Geschwindigkeit der Bewegungen dieser Himmelskörper ab. Auf diese Weise entsteht ein kosmisches Konzert, die Harmonie der Welt, der Klang des Universums, die Sphärenmusik.

In der Politeia hat Platon die Sphärenharmonie mythisch ausstaffiert, indem er acht Sirenen, die den acht Sphären zugeordnet sind, jeweils einen Ton singen läßt. So entstehen acht Töne einer Tonleiter.

Vom Gedanken der pythagoreischen Sphärenmusik inspiriert, schrieb Josef Strauss einen Walzer: "Sphärenklänge", uraufgeführt 1868 ausgerechnet auf einem Medizinerball.




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Jörn Budesheim
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Sa 10. Feb 2024, 12:01

Erinnert mich an diese Zeichnung, die ich mal zum Thema Monochord gemacht habe

Bild
Monochord

[Pythagoras] "fand durch Experimente auf einem Monochord heraus, dass durch die ganzzahlige Teilung einer Saite Töne entstehen, die sich zu den Intervallen anordnen lassen, die die Grundlage jeder Musik bilden: Oktaven, Quinten, Terzen usw. [...] Daraus gewann er die Erkenntnis, dass die irdische Musik ein Abbild der Harmonie im Kosmos ist."




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Nauplios
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Sa 10. Feb 2024, 17:20

Ja, solche Vorstellungen sind noch im Mittelalter leitend. Zum Quadrivium der sieben freien Künste zählten die Arithmetik, die Musik, die Astronomie und die Geometrie. Da hat man sozusagen alle vier Verdächtigen für ein Weltbild, in dem der Weltbezug des Menschen durch Proportionen, Zahlenverhältnisse, geometrische Figuren (s. Leonardo da Vinci), kosmische Analogien u.ä. bestimmt wird.

In dem, was wir mit Atmo-Sphäre bezeichnen, steckt noch ein Nachklang der pythagoreischen Sphärenmusik. Man spricht in dem Zusammenhang auch von einer Stimmung; und damit hat man einen Begriff, der ja in der Musik beheimatet ist. Ein Opernball hat ein gewisses Ambiente, eine Person eine bestimmte Ausstrahlung, auf einer Party herrscht eine ausgelassene Stimmung, ein Gespräch kann in einer entspannten Atmosphäre stattfinden usw.




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Sa 10. Feb 2024, 17:26

All diese Stimmungen und Atmosphären unterschreiten oft die Schwelle expliziter Wahrnehmung. Sie bilden eine Art Horizont, vor dem sich etwas ereignet, der aber selber unauffällig bleibt. Und um das zu vernehmen, braucht es etwas, das man früher Gespür genannt hat und heute Feeling nennt.




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Jörn Budesheim
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Sa 10. Feb 2024, 17:31

Atmosphären waren eins der Hauptthemen des deutschen Phänomenologen Hermann Schmitz, das nur am Rande.




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Sa 10. Feb 2024, 17:47

Die Sirenen sind ein gutes Beispiel für die Ambivalenz der Musik. Bei Platon erzeugen sie die Sphärenharmonie, bei Homer lockt ihr betörender Gesang vorbeifahrende Schiffer an, die dann Schiffbruch erleiden und sterben. So geht's noch heute Männern, die sich zu bereitwillig weiblichen Verführungskünsten hingeben und damit in ihren Untergang rennen.

Die Obsessionen solcherart amour fou nennt man auch Hörigkeit und darin steckt wie auch bei der Sphärenmusik das Hören.

(Sicherheitshalber kennzeichne ich diesen Gedanken als Form der Ironie. Ich weiß, daß man mit solchen Äußerungen Schiffbruch erleiden kann; dafür muß man nicht Schiffer sein.)




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Nauplios
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Sa 10. Feb 2024, 17:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 10. Feb 2024, 17:31
Atmosphären waren eins der Hauptthemen des deutschen Phänomenologen Hermann Schmitz, das nur am Rande.
Ja, ich erinnere mich an eine Diskussion über die "Neue Phänomenologie" im alten Forum.




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