Hypokrisie oder Dialektik der Aufklärung?

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Nauplios
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Sa 24. Feb 2024, 19:05

"Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie." (Adorno/Horkheimer; Dialektik der Aufklärung; S. 10)

"Die Hypokrisie war der Schleier, den die Aufklärung ständig webend vor sich hertrug und den zu zerreißen sie niemals imstande war." (Reinhart Koselleck; Kritik und Krise; S. 102)

Reinhart Koselleck hätte seiner Dissertation (1954) gerne den Titel Dialektik der Aufklärung gegeben. Schon zehn Jahre zuvor hatten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihre Sammlung von Essays so genannt. Koselleck entscheidet sich für Kritik und Krise. Erstmals erscheint sie 1959. Drei Jahre später erscheint Jürgen Habermas' Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit, die Anregungen von Kosellecks Arbeit aufgreift, aber den unüberhörbaren Ton von Carl Schmitt darin heftig kritisiert. Nochmal vier Jahre später, 1966, erscheint Hans Blumenbergs Legitimität der Neuzeit. Blumenberg wird 1971 den Kontakt zu Carl Schmitt suchen, den Koselleck da längst gefunden hat.

Adorno/Horkheimer - Koselleck - Habermas - Blumenberg bilden ein Geviert, durch welches immer mal wieder die Umlaufbahn Carl Schmitts führt. Es ist natürlich nicht so, daß diese fünf die Sache der Neuzeit unter sich ausmachen. Über Aufklärung und Geschichte, Neuzeit und Säkularisierung gibt es in den 50er/60er Jahren eine Fülle philosophischer und historischer Einlassungen und Diskussionen. Mit diesen Namen sind auch eigentlich nur ein paar Pflöcke eingeschlagen zur Illustration dieses Fadens. Eine "Aufarbeitung", eine ideengeschichtlich "Darstellung" kann natürlich bei weitem nicht geleistet werden; aber vielleicht können wir die Pflöcke mit ein paar Linien verbinden.




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Nauplios
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Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12

So 25. Feb 2024, 17:49

Die weltgeschichtliche Situation nach dem Zweiten Weltkrieg und die ideologisch-politische Konfrontation zwischen Ost und West bilden die Kulisse für Fragestellungen, die in den 50er und 60er Jahren in der Geschichtswissenschaft und in der Philosophie aktuell werden. Die aufkommende Begriffsgeschichte, wie sie sich schon in Rothackers "Archiv für Begriffsgeschichte" und dem späteren von Joachim Ritter initiierten "Historischen Wörterbuch der Philosophie" abzeichnet, wird zu einem speziell von der deutschen Philosophie vorangetriebenen Gegenstand der theoretischen Betrachtung.

Eine Art Neuvermessung der philosophischen, historischen und politischen Begriffe steht an. Ihren Höhepunkt erreicht sie in den "Geschichtlichen Grundbegriffen", einem "Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland", das seit 1972 erscheint und von Reinhart Koselleck, Otto Brunner und Werner Conze betreut wird. Conze und Koselleck kennen sich aus den Ebracher Seminaren, die wiederum die Verbindungen zu Carl Schmitt darstellen.

In "Kritik und Krise" behandelt Koselleck einen Zeitraum historischer Umbrüche, der von den religiösen Bürgerkriegen des 16. Jahrhunderts bis zur Französischen Revolution und der Aufklärung reicht.

"Der ganze behandelte Zeitraum bietet das Bild eines einzigen und gewaltigen Prozesses. Ohne sich dessen bewußt zu werden, verwandelte die bürgerliche Geistigkeit im 18. Jahrhundert die Geschichte in einen Prozeß. (...) Der hohe Gerichtshof der Vernunft, zu dessen natürlichen Beisitzern sich die aufsteigende Elite selbstbewußt zählte, verwickelte in verschiedenen Etappen alle Bereiche des Lebens in eine Prozeßführung. Die Theologie, die Kunst, die Geschichte, das Recht, der Staat und die Politik, schließlich die Vernunft selber, werden früher oder später vor seine Schranken zitiert und haben sich zu verantworten. Die bürgerliche Geistigkeit fungierte in diesem Rechtshandel als Ankläger, als oberste Urteilsinstanz und (...) als Partei zugleich. Der Fortschritt war immer schon auf seiten der bürgerlichen Richter. Niemand und nichts konnte der neuen Gerichtsbarkeit entrinnen, und was jeweils im Urteil der bürgerlichen Kritiker nicht standhielt, wurde der moralischen Zensur überantwortet, die das ihrige tat, den Verurteilten zu diskriminieren und so den Urteilsspruch zu vollstrecken. 'Wer dieses nicht erkennen kann / den seh' man mit Verachtung an'". (Reinhart Koselleck; Kritik und Krise; S. 6)

Die Verse am Ende stammen aus dem Libretto zu Mozarts "Die Entführung aus dem Serail".




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