Bildevidenz oder Lessings "fruchtbarer Augenblick"

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Nauplios
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Mo 25. Mär 2024, 20:15

Erblickt man ein Kunstwerk oder betrachtet man es? - Man mag die Frage für nebensächlich, wenn nicht gar gegenstandslos halten, jedenfalls ist ihr Lessing im Laokoon nachgegangen. Kunstwerke sollten "nicht bloß erblickt, sondern betrachtet [..] werden, lange und wiederholter maßen betrachtet [..] werden." (Gotthold Ephraim Lessing; Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie; in: Werke und Briefe; Bd. 5; S. 32) Man nähert sich diesem Unterschied zwischen Erblicken und Betrachten vielleicht am ehesten, wenn man den Vorgang vom Ende her denkt, von der Wirkung. Das Betrachten impliziert wesentlich Zeit. Das plötzliche Erblicken läßt ja nahezu offen, ob es danach überhaupt noch weitergeht. Im Gegensatz zur Malerei ist die Poesie für Lessing unsichtbar. Zwar sind die Zeichen zur Darstellung der Poesie sichtbar, aber allemal dauert es, bis das Poetische sich entfalten kann. Ein Gemälde bietet sich dem Blick dagegen (in aller Regel) als sichtbar und materiell dar. Es wird mit dem Blick in seiner Gegenständlichkeit wahrgenommen, aber erst in der Betrachtung, in der wiederholten Betrachtung öffnet sich sein ästhetischer Horizont - gleichsam in Betrachtung versunken.

Wie ist Eure Erfahrung der Bildbetrachtung? Und eine wichtige Frage in dem Zusammenhang: Ist Sehen ein einmaliges punktuelles Ereignis oder unterliegt es historischen Blickregimen?




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Nauplios
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Di 26. Mär 2024, 08:01

2010 - Museum of Modern Art in New York: Im Rahmen einer Retrospektive der Arbeiten von Marina Abramovič wird auch die Performance Imponderabilia neu aufgelegt. In einem engen Durchgang zwischen zwei Ausstellungsräumen stehen sich ein nackter Mann und eine nackte Frau in einer Entfernung von ca. 30 Zentimetern gegenüber und schauen einander an. Um von einem Raum in den anderen zu gelangen, müssen sich die Besucher zwischen beiden hindurchzwängen. Daß die Kunst berührt, wird zur körperlichen Erfahrung. Imponderabilia spielt mit Erwartungen an das Unwägbare.

Es ist ein Beispiel für die Steuerung der Wahrnehmung eines Kunstwerks durch Erwartungen seines Betrachters. Das Kunstwerk installiert sich sozusagen im Vollzug seiner Erwartungen, die es auslöst. Sie gehen in das Kunstwerk ein, leiten das Sehen, übernehmen das Blickregime.

"Ein Kunstwerk sollte uns immer beibringen, daß wir nicht gesehen haben, was vor unseren Augen liegt." (Paul Valéry; Werke; Bd. 6; S. 21)




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Nauplios
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Di 26. Mär 2024, 19:46

Die Frage, worin eigentlich die Wirkmächtigkeit der ästhetischen Erfahrung und speziell die der Bildbetrachtung liegt, gehört traditionell in die Zuständigkeit der philosophischen Ästhetik beziehungsweise der Ontologie des Kunstwerks. Für die Dichtung ist diese Frage schon ganz früh von der aristotelischen Poetik aufgegriffen worden: Läuterung, Reinigung der Seele (κάθαρσις) durch Rührung und Schauder. Lessing übersetzt: Mitleid und Furcht. - Die bildende Kunst hat dagegen ein weniger beachtetes Dasein. Die theoretische Grundlegung der Malerei ("Klassiker" gibt es in der Renaissance) erfährt in der Moderne Anstöße vor allem von Winckelmann, Goethe und Lessing.

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Bild- und Medienwissenschaften der Hermeneutik des Bildes beigesellt, so daß das Bild, aber auch die Photographie (Barthes' "helle Kammer") und der Film (Kracauer) nun Aufmerksamkeit auch von dieser Seite auf sich ziehen - bis hin zu Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft.

Doch was macht die Betrachtung eines Bildes, einer Zeichnung, einer Skulptur aus? Lessings "fruchtbarer Augenblick" läßt nach Inka Mülder-Bach "Imaginiertes und Gesehenes […] zusammenfallen [zu dem], was wir zu sehen glauben." (Im Zeichen Pygmalions: Das Modell der Statue und die Entdeckung der 'Darstellung' im 18. Jahrhundert; S. 46)

Spätestens jetzt stellt sich die Frage nach der Wahrnehmung noch mal neu: Nehmen wir ein Bild (überhaupt ein Kunstwerk) auf dieselbe Weise wahr, wie wir einen beliebigen anderen Gegenstand wahrnehmen? - Ist das Kunstwerk überhaupt ein "Gegenstand", der mit Mitteln einer Phänomenologie der Wahrnehmung beschrieben werden kann? - Ist die Kunst ein ontologisches Feld? - Oder bedarf es nicht vielmehr einer Rezeptionsästhetik des Bildes, die die Wirkmächtigkeit des Bildes in das Kunstwerk einrechnet?




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Nauplios
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Di 26. Mär 2024, 20:02

Ein fruchtbarer Augenblick oder ein furchtbarer Augenblick?





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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Mo 25. Mär 2024, 20:15
Erblickt man ein Kunstwerk oder betrachtet man es?
Natürlich kann ich mit dem Unterschied zwischen Sehen und Betrachten, der im Text stark gemacht werden soll, etwas anfangen, keine Frage: das ist sinnvoll. Ich glaube aber, dass es auch Kunstwerke gibt, die einem augenblicklich den Atem rauben, Liebe auf den ersten Blick sozusagen, entscheidend ist, ob diese "Verliebtheit" der Betrachtung standhält, wenn ja, wird sie in der Regel vertieft, wenn nein, folgt eine Enttäuschung.




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Di 26. Mär 2024, 19:46
Spätestens jetzt stellt sich die Frage nach der Wahrnehmung noch mal neu: Nehmen wir ein Bild (überhaupt ein Kunstwerk) auf dieselbe Weise wahr, wie wir einen beliebigen anderen Gegenstand wahrnehmen? - Ist das Kunstwerk überhaupt ein "Gegenstand", der mit Mitteln einer Phänomenologie der Wahrnehmung beschrieben werden kann? - Ist die Kunst ein ontologisches Feld? - Oder bedarf es nicht vielmehr einer Rezeptionsästhetik des Bildes, die die Wirkmächtigkeit des Bildes in das Kunstwerk einrechnet?
Vielleicht (hieran anschließend) noch eine allgemeine Bemerkung zum "Sehen von Kunstwerken". Wenn ich einen Stein ansehe, dann sehe ich den Stein. Wenn ich ein Kunstwerk betrachte, dann wird das Sehen ein Teil des Kunstwerkes selbst, beim Sehen des Steins sind Sehen und Stein verschieden. Wenn ich das Kunstwerk betrachte, gehören das Sehen und das Kunstwerk zusammen. (Vielleicht hat diese Unterscheidung eine Nähe zur Unterscheidung von Erblicken und Betrachten.)

Meine vorläufigen Antworten auf die Fragen im Zitat lauten dementsprechend:
  • Nehmen wir ein Bild (überhaupt ein Kunstwerk) auf dieselbe Weise wahr, wie wir einen beliebigen anderen Gegenstand wahrnehmen?
    Nein!
  • Ist das Kunstwerk überhaupt ein "Gegenstand", der mit Mitteln einer Phänomenologie der Wahrnehmung beschrieben werden kann?
    Jein. Vielleicht braucht es eine eigene Phänomenologie der Kunstbetrachtung.
  • Ist die Kunst ein ontologisches Feld?
    Ja!
  • Oder bedarf es nicht vielmehr einer Rezeptionsästhetik des Bildes ...?
    Nein! (Aber eine Ästhetik schon!)




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Nauplios
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 27. Mär 2024, 07:37

Natürlich kann ich mit dem Unterschied zwischen Sehen und Betrachten, der im Text stark gemacht werden soll, etwas anfangen, keine Frage: das ist sinnvoll. Ich glaube aber, dass es auch Kunstwerke gibt, die einem augenblicklich den Atem rauben, Liebe auf den ersten Blick sozusagen, entscheidend ist, ob diese "Verliebtheit" der Betrachtung standhält, wenn ja, wird sie in der Regel vertieft, wenn nein, folgt eine Enttäuschung.
Ja, die Ästhetik nennt das oft einen "prägnanten Moment" o.ä., Lessing nennt ihn den "fruchtbaren Augenblick". Das ist sozusagen die Liebe auf den ersten (Augen)Blick. Die Fruchtbarkeit dieses Augenblicks liegt darin, daß das Bild damit die Einbildungskraft des Betrachters in Gang setzt, sie quasi auf eine Spur setzt. In der Sprache der Erotik: es verführt die Einbildungskraft, zum Sichtbaren etwas hinzuzudenken. Das Bild läßt das "Imaginierte und Gesehene […] zusammenfallen [zu dem], was wir zu sehen glauben." (s.o.)

Ist jedoch der fruchtbare Augenblick verpaßt, "erkaltet unsere Begierde [!], gerühret zu werden ; um uns an dem unverständlichen Künstler zu rächen, verhärten wir uns gegen den Ausdruck, und weh ihm, wann er die Schönheit zum Ausdrucke aufgeopfert hat ! Wir finden sodann gar nichts, was uns reizen könnte, vor seinem Werke zu verweilen. " (Lessing; Laokoon; S. 100)




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 27. Mär 2024, 07:57

Wenn ich das Kunstwerk betrachte, gehören das Sehen und das Kunstwerk zusammen. (Vielleicht hat diese Unterscheidung eine Nähe zur Unterscheidung von Erblicken und Betrachten.)
"In einen ebenso produktiven wie schwer durchdringbaren Zusammenhang treten die (..) Zeitschichten von Bildern im Moment der Bildbetrachtung. Was sich gedanklich versuchsweise differenzieren läßt, verschränkt sich im Vollzug der Rezeption auf eine Weise, die im konkreten Fall keine trennscharfe Unterscheidung erlaubt. Bilder zeichnen sich daher durch einen konstitutiven Anachronismus aus. Ihre unreine, vielfältige und nicht klar fixierbare Zeitlichkeit ist keineswegs angemessen erfaßt, wenn sie datiert, in eine Chronologie eingeordnet und aus ihrem jeweiligen historischen Kontext heraus erklärt wird." (Johannes Grave; Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens; S. 23) Über diese Unreinheit der Zeit im Anschluß an Aby Warburg und Georges Didi-Huberman sprachen wir vor einigen Jahren schon mal.

Dieser Gedanke der "unreinen Zeit" ergibt sich nahezu zwangsläufig, wenn die Bild- beziehungsweise Kunstbetrachtung rezeptionsästhetisch fundiert wird. Ein Kunstwerk "vollendet" sich erst in der Rezeption.




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Jörn Budesheim
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Do 28. Mär 2024, 12:56

Bei Facebook folge ich einem Nutzer, der regelmäßig autofiktionale Texte postet. Heute ging es um seine Leseerfahrungen als Kind, da hieß es: "Nicht einmal mich selbst bemerkte ich, denn ich war ja gar nicht mehr vor Ort. Ich war ja längst am Unort der Literatur." Das ist meine ästhetische Theorie auf den Punkt. Die Kunst verschlingt uns oft. Das ist der Punkt, den die Rezeptionsästhetik nicht erfassen kann! Der Rezipient kann die Kunst nicht machen, denn er ist ja gar nicht mehr vor Ort. In solchen Fällen vergessen wir uns selbst, das ist auch eine ziemlich seltsame zeitliche Erfahrung!




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 28. Mär 2024, 12:56

Bei Facebook folge ich einem Nutzer, der regelmäßig autofiktionale Texte postet. Heute ging es um seine Leseerfahrungen als Kind, da hieß es: "Nicht einmal mich selbst bemerkte ich, denn ich war ja gar nicht mehr vor Ort. Ich war ja längst am Unort der Literatur."
Prousts Leseerlebnisse als Kind in der sommerlichen Idylle Combrays entfalten diese Versunkenheit in das Lesen im ersten Band der Recherche.

"In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können." (Marcel Proust; Auf der Suche nach der verlorenen Zeit; Bd. 3, Die wiedergefundene Zeit; S. 4006)




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Do 28. Mär 2024, 17:15

Das Ineinander von Bild und Bildbetrachtung (und dazu zählen selbstverständlich auch Phänomene des Versunkenseins und der Selbstvergessenheit des Betrachters) - gerade das legt die Rezeptionsästhetik frei. "Sie [die Rezeptionsästhetik] richtet ihr Augenmerk in besonderer Weise auf jene Spezifika des Bildes, die Einfluß darauf nehmen, wie das Zusammenspiel von Bild und Betrachter ausgestaltet werden kann. Die Rezeptionsästhetik birgt daher auch das Potenzial, dem prozessualen Charakter der Bildbetrachtung konsequent Rechnung zu tragen." (Johannes Grave; Bild und Zeit; S. 25)

Das "Verschlingen" des Betrachters durch das Bild markiert nicht das Ende der Rezeptionsästhetik, sondern ihren Anfang. Eine werkorientierte Bildanalyse oder auch eine Ontologie des Kunstwerks dagegen wie sie im Anschluß an Husserl etwa Roman Ingarden vorgelegt hat, fokussiert sich auf die Struktur und Seinsweise von Kunstwerken als rein intentionale Gegenständlichkeiten.




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Do 28. Mär 2024, 18:11

Was Wahrnehmungsprozesse, Augenbewegungen, Aufmerksamkeitssteuerung, Blickverläufe u.ä. bei der Bildbetrachtung betrifft: Gibt es mittels Eye-Tracking eigentlich schon Untersuchungen an Werken der bildenden Kunst dazu, @infinitum? ;) (Ich darf vielleicht verraten, daß Du auf diesem Gebiet eine Spezialistin bist.)




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Do 28. Mär 2024, 18:35

Über das Eye-Tracking hat sich vielleicht als erster der italienische Humanist Leon Battista Alberti in seinem Traktat über die Malerei (De pictura; 1435) Gedanken gemacht. "anmutig und schmuckreich" solle sich das Historiengemälde darbieten, so daß es "die Augen eines gelehrten ebenso wie die eines ungelehrten Betrachters für längere Zeit fesselt, unter Vermittlung einer besonderen Lust und inneren Bewegung." (Leon Battista Alberti; Die Malkunst; S. 265)




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Do 28. Mär 2024, 19:19

Einen Gegenpol zu Lessings Laokoon stellen Herders Kritische Wälder dar: "Alle sinnliche Freuden sind bloß für den ersten Anblick, und für ihn allein sind auch die Erscheinungen der schönen Kunst." Für Herder steht das Kunstwerk "auf einmal da, und so werde es auch betrachtet: der erste Anblick sey permanent, erschöpfend, ewig ..." - Johannes Grave macht allerdings geltend, daß auch Herder über diesen "ersten Anblick" hinaus die Zeitlichkeit der Bildbetrachtung erwähnt, denn "bloß die menschliche Schwachheit, die Schlaffheit unsrer Sinne und das Unangenehme des langen Anstrengens macht, bei tief zu erforschenden Werken, vielleicht das zweite, vielleicht hunderste Mal des Anblicks nöthig; darum aber sind alle diese Male doch nur Ein Anblick." (Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften - 1769 - in: Herders Sämtliche Werke; Bd. 3; S. 77)

Das ist eigentlich eine Rezeptionsästhetik in nuce.




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Sa 30. Mär 2024, 18:33

"Kunstwerk und Betrachter kommen unter Bedingungen zusammen; sie sind keine klinisch reinen und isolierten Einheiten. Und so wie der Betrachter sich dem Werk nähert, so begegnet ihm das Kunstwerk: antwortend und seine Tätigkeit anerkennend." (Wolfgang Kemp; Kunstwerk und Betrachter: der rezeptionsästhetische Ansatz; in: Wolfgang Kemp, Hans Belting, Hg.: Kunstgeschichte. Eine Einführung; S. 248)

Das Kunstwerk begegnet seinem Betrachter "antwortend". Das scheint mir ein wesentlicher Gedanke der Rezeptionsästhetik zu sein. Es bezieht den Betrachter in seine Kunst ein, fordert ihn auf. Das Kunstwerk wird hier nicht von seiner Produktion oder in seinem Werkcharakter oder als die Kunst eines Genies betrachtet. Vielmehr spricht es den Betrachter - im Fall von Literatur den Leser - an. Es faßt uns ins Auge. Das Auge ist sowohl auf Seiten des produzierten Kunstwerks als auch auf Seiten des rezipierenden Betrachters, ganz im Sinne von Rilkes "denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht."




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Sa 30. Mär 2024, 19:18

Einer der Pioniere des rezeptionsästhetischen Ansatzes in der Kunstgeschichte:

Wolfgang Kemp; Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts;

Erschienen ist das Buch 1983, elf Jahre nach Wolfgang Isers Grundlegung der Rezeptionsästhetik in Der implizite Leser und dreizehn Jahre nach der Veröffentlichung von Jauß' berühmter Antrittsvorlesung Literaturgeschichte als Provokation.




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So 31. Mär 2024, 18:46

Die aus der Literaturwissenschaft stammende Rezeptionsästhetik, die Garves Bildbetrachtung theoretisch absichert, hat auch Eingang in die Musikwissenschaft gefunden. Dem "impliziten Leser" folgte der "implizite Betrachter" und ihm wiederum der "implizite Hörer". Garve spricht das zu Beginn des Abschnitts "Grundlagen" (S. 55) an.

Ein Standardwerk in der Musikwissenschaft ist der Aufsatzband Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft (hrsg. v. Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher) 1991.

Aufsätze daraus sind leider nicht frei zugänglich. Gefunden habe ich gerade nur den Beginn eines Aufsatzes von Lothar Schmidt mit dem Titel Rezeptionsästhetische Aspekte der klassizistischen Musikanschauung:

"Im Laufe einer seit mehr als 25 Jahren andauernden Diskussion ist dem Begriff der Rezeptionsästhetik eine solche Vielzahl von Bedeutungen zugewachsen, daß eine kurze Vorbemerkung angebracht erscheint. Angeregt durch die Arbeit der Nachbardisziplinen sind im Bereich der historischen Musikwissenschaft vor allem Fragen der Rezeptionsgeschichte - sowohl im Blick auf die in Texten dokumentierte Rezeption wie die Rezeption von Werken durch Werke - neu in Angriff genommen worden. Die Untersuchung historischer Theorien von Rezeption wurde jedoch erst vereinzelt betrieben. Im Anschluß an Überlegungen, die Wolfgang Iser und Wolfgang Kemp unter dem Begriff der Rezeptionsästhetik zum Vorgang des Lesens literarischer Texte bzw. der Betrachtung bildender Kunst und ihrer Bedeutung für die Konstitution der Werke angestellt haben, soll hier skizziert werden, wie eine bestimmte Tradition der Musikanschauung das Verhältnis von Werk und Hörer verstand." (in: Die Musikforschung; Jg. 50; Bd. 1; S. 24)

Diesem "Verhältnis von Werk und Hörer" ist Hans Blumenberg am Beispiel von Bachs Matthäuspassion nachgegangen.




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Mo 1. Apr 2024, 19:08

"Wenn Betrachter Relationen zwischen Motiven und deren möglichen Referenzen herstellen, vollziehen sie keineswegs nur Bezüge nach, die bereits vom Bildproduzenten intendiert waren. Vielmehr sehen sich Bildbetrachter einer unabgeschlossenen Vielzahl an Operationen und Kombinationen gegenüber, von denen sie einige ergreifen, im Prozess der Bildbetrachtung nicht selten aber auch wieder revidieren." (Johannes Grave; Bild und Zeit; S. 56)

Die Malerei des Mittelalters weist zum Beispiel eine dominante Ausrichtung auf religiöse Motive auf. Der moderne Betrachter wird solche Motive, die im Gesamtkunstwerk manchmal chiffriert sind, nicht notwendiger Weise sehen, obwohl das Kunstwerk mit sich seit dem Mittelalter identisch ist, von seinem äußeren Zustand, seinem Erscheinungs"bild" abgesehen.

So klingt die Matthäuspassion heute anders als zu Bachs Zeiten, obwohl Partitur und Instrumentierung sich nicht geändert haben. Der Versuch der "historischen Aufführungspraxis" ändert nichts daran, daß dem "nachchristlichen Hörer" (Blumenberg) andere "Operationen und Kombinationen" (Grave) des Hörens zur Verfügung stehen als dem Hörer des 18. Jahrhunderts.




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Nauplios
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Mo 1. Apr 2024, 19:26

Was hört Ihr in den drei Minuten, in denen Lycienne Boyer 1930 ihr berühmtes „Parlez-moi d´amour“ singt?







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Stefanie
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Mo 1. Apr 2024, 20:39

Eine Frau, die mit einer ganz netten Stimme über etwas singt, was ich nicht verstehe. Ich beherrsche diese Sprache nicht.
Normalerweise hätte ich zuerst gegoogelt, um herauszubekommen, um was es in dem Text geht, bevor ich es mir anhöre. Diesmal habe ich es nicht getan.

Warum gerade dieses Lied?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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