Erfolgreich scheitern

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Jörn Budesheim
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Mo 9. Jun 2025, 07:25

Ein anderes einschlägiges und bekanntes Beispiel für Erfolg und Misserfolg ist natürlich die Geschichte von Vincent van Gogh, der zu Lebzeiten "keinen Erfolg" hatte – und heute als einer der wichtigsten Maler der europäischen Kunstgeschichte gilt.

Hier stellt sich natürlich die Frage, ob Erfolg – als Anerkennung der eigenen Leistungen durch andere – wirklich das entscheidende Maß ist.



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Mo 9. Jun 2025, 07:37

"Resilienz [beschreibt] die Fähigkeit von Personen oder Gemeinschaften, schwierige Lebenssituationen wie Krisen oder Katastrophen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen."



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Mo 9. Jun 2025, 07:47

Ein weiteres Beispiel für erfolgreiches Scheitern: Ein Freund aus Jugendzeiten, heute emeritierter Professor der Informatik, wollte in seiner Doktorarbeit das Theorem X beweisen. In gewisser Hinsicht ist er damit gescheitert – denn der Beweis gelang ihm nicht. Letztlich aber konnte er zeigen, dass X nicht möglich ist.

Wenn ich richtig sehe, fügt sich dieses Beispiel nicht wirklich in das oben vorgeschlagene Schema ein. Vielleicht ist es eine dritte Variante: Das ursprüngliche Ziel wird zwar verfehlt, aber man entdeckt dadurch etwas anderes – ähnlich wie Kolumbus, der zwar nicht Indien, aber immerhin Amerika „entdeckt“ hat.



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Di 10. Jun 2025, 08:20

Quk hat geschrieben :
Mo 9. Jun 2025, 12:51
Kurz: Ich mache Musik und Bilder, so, wie ein Bäcker die Brezeln macht und eine Masseurin die Muskeln knetet. Und das mit Liebe.
Friederike hat geschrieben :
Mo 9. Jun 2025, 16:22
… die vielfältigen Tätigkeiten der Menschen [unterscheiden sich darin], welchen Stoff sie gestalten, mit welchem Material sie umgehen ("Material" in sehr weitem Sinne, d.h. auch das Denken gehört dazu).
Gemäß Christoph Menke, der ein Buch über die Kraft der Kunst geschrieben hat, ist eine Künstlerin/ ein Künstler nicht einfach jemand, der ein bestimmtes Können besitzt – wie der Bäcker oder die Masseurin; sondern jemand, der in seinem Tun auf ein Moment des Nicht-Könnens, des Scheiterns oder der Überschreitung des eigenen Vermögens trifft – und dieses „produktiv“ macht.

Menke bezieht sich dabei unter anderem auf Überlegungen Nietzsches. Eine Künstlerin/ein Künstler ist demnach ein „Könner des Nicht-Könnens“ – jemand, der mit dem Scheitern umgehen kann und „weiß“, wie man das Unvermögen, die Grenze des eigenen Könnens, nicht als Defizit, sondern als konstitutiv für künstlerischen Tun. Künstlerisches Tun ist in diesem Verständnis nicht einfach die Ausübung eines eingeübten Könnens, sondern ein Sein an der Grenze zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit, zwischen Vermögen und Unvermögen – also zwischen Können und Nicht-Können.

Zusammengefasst: Menke versteht Nietzsches Wort so, dass Kunst dort entsteht, wo das Können auf das Nicht-Können trifft – und dieses „produktiv“ macht. Die Künstlerin ist eine Könnerin des Nicht-Könnens, weil sie mit dem Unverfügbaren, dem Scheitern und der Unbestimmtheit umzugehen weiß.

------------------------

Hier ein Zitat aus dem Buch Menkes:

Menschen sind nicht schon immer Subjekte, sondern werden erst dazu. Sie werden zu Subjekten gemacht: durch Bildung, die die Form der Übung hat. Was war der Mensch, bevor er Subjekt wurde? Nicht nichts. Er war ein sinnliches Wesen. Genauer: Er war ein Wesen mit sinnlichen oder dunklen Kräften, ein Wesen der Einbildungskraft, der Imagination. Nur weil er das war, kann der Mensch zu einem Subjekt werden. Aber zu einem Subjekt zu werden (oder Vermögen auszubilden) bedeutet zugleich, das Wirken der sinnlichen Kräfte zu unterbrechen und zu kontrollieren. Denn sinnliche oder dunkle Kräfte operieren ganz anders als vernünftige, selbstbewusste Vermögen. Vermögen werden in bewusster Selbstkontrolle oder handelnd ausgeübt. Die sinnlichen Kräfte dagegen wirken von selbst; ihr Wirken ist nicht vom Subjekt geführt und ihm daher nicht bewusst. Dem entspricht, dass es nicht Kräfte *zu etwas* sind. Kräfte sind nicht an einem Maßstab des Gelingens ausgerichtet. Kräfte wirken als oder im Spiel. Das meint: Sie wirken als Spiel einer beständigen Hervorbringung und Veränderung des von ihnen Hervorgebrachten – ohne Orientierung an einer allgemeinen Form oder Norm, die ihr Hervorbringen kontrolliert.

Künstlerischer Rausch ist daher nicht – so der erste Schritt in Nietzsches Umformulierung von Sokrates’ Theorie der künstlerischen Begeisterung – äußerer Einfluss, Begeisterung durch einen Gott, sondern Rückkehr in den Zustand des Menschen, bevor er Subjekt wurde, in dem seine sinnlichen, dunklen Kräfte sich spielerisch entfalten. Im Gegensatz zum Subjekt von Vermögen ist der Mensch des Rausches daher durch eine wesentliche »Unfähigkeit« definiert. Die rauschhafte, berauschende Rückkehr in den anfänglichen Zustand der spielerischen Kraftentfaltung ist ein als befreiend erfahrener Verlust der eigenen Vermögen. Im Machen des Werks wird eine Unfähigkeit, wird ein Unvermögen schöpferisch.

Zweitens: Dafür muss aber – das ist der zweite Schritt in Nietzsches Korrektur von Sokrates’ Theorie der künstlerischen Begeisterung – die rauschhafte Unfähigkeit im künstlerischen Machen zugleich begrenzt, ja bekämpft werden [...]

Der Rausch ist eine »physiologische Vorbedingung«, nicht das Ganze der künstlerischen Tätigkeit; der Künstler ist nicht ganz (und schon gar nicht immer) im Rausch. Er hat ein gebrochenes Verhältnis zum Rausch. Das unterscheidet die dionysischen Künstler von den »dionysischen Barbaren« [...] Dionysische Barbarei ist ein Zustand bloßer Abwesenheit von Können und Bewusstsein. Im Künstler hat dagegen das Dionysische einen »sentimentalischen Zug«; es erscheint nur aus der Perspektive seines »Verlusts«. Im Künstler herrscht daher eine »wundersame Mischung und Doppelheit in den Affekten«. Kunst gibt es nur, wo Rausch und Bewusstsein, Spiel der Kräfte und Bilden von Formen zusammen und gegeneinander wirken. [...]




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Di 10. Jun 2025, 08:50



Vor zehn Jahren hab ich in einer Ausstellung über Marcel Broodthaers diesen Film von und mit gesehen. Man sieht ihn im Freien beim Schreiben mit Tinte und Feder ... aber es regnet - alles, was er schreibt, verschwimmt sogleich



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Di 10. Jun 2025, 11:00

deutschlandfunkkultur hat geschrieben : „Modi des Misslingens“: Verzweifelt Versagen, schöner Scheitern

Niemand versagt gerne, und wer jemanden als „Versager“ bezeichnet, bestraft sogar die ganze Person. Warum man beim Nachdenken übers Versagen viel über unser aktuelles Menschenbild lernt, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Nora Weinelt.

Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/mo ... wtab-de-de
Gerade zufällig gefunden, hab selbst noch nicht reingehört!



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Di 10. Jun 2025, 13:25

Dazu ein Zitat von Nora Weinelt, Feb. 2025:

Denn die positive Umdeutung des Scheiterns, wie sie sich in westlichen Gesellschaften vor allem in den letzten drei Jahrzehnten vollzogen hat, ist eng mit jenem neoliberalen Subjektentwurf verzahnt, dem der Soziologe Ulrich Bröckling mit Das unternehmerische Selbst eine einflussreiche Studie gewidmet hat. Er beschreibt darin ein etwa seit den 1980er-Jahren geltendes sozioökonomisches Leitbild, das dazu auffordert, sich zu jedem Zeitpunkt und in allen Lebenslagen als CEO der eigenen Ich-AG zu begreifen, sein Selbst vor der Folie unternehmerischen Handelns zu modellieren – und das unabhängig davon, ob eine Person tatsächlich selbstständig, also unternehmerisch tätig ist. Denn längst werden nicht nur berufliche oder finanzielle Entscheidungen nach unternehmerischen Maßstäben beurteilt und auf ihre Rentabilität geprüft, auch Liebesbeziehungen oder Freizeitbeschäftigungen müssen einer Kosten-Nutzen-Rechnung standhalten. Erfolge werden dann meist als Resultate harter Arbeit und guten Selbstmanagements betrachtet – im Umkehrschluss bedeutet ein solcher Zwang zum individualisierten Unternehmertum allerdings auch, „die Verantwortung für das eigene Scheitern sich selbst zurechnen“ und Niederlagen „als individuelle Planungsdefizite [...] verbuchen“ zu müssen.* In den zeitgenössischen Konzeptualisierungen des schönen Scheiterns spiegeln sich so die beiden ideologischen Grundpfeiler eines neoliberalen Welt- und Menschenbildes sehr deutlich: die marktwirtschaftliche Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche einerseits, die gleichzeitige Dominanz der gesellschaftspolitischen Dogmen von Individualisierung und Eigenverantwortlichkeit andererseits.

[...]

Diesem Credo zum Trotz belegen psychologische Studien, dass es Menschen häufig sehr schwerfällt, aus ihren Fehlern zu lernen. Was in Selbsthilfebüchern und auf Instagram-Profilen als »teachable moment«, als lehrreicher Moment, gefeiert wird, erweist sich in Wahrheit — und nicht unbedingt überraschend — oft als »ego threatening«, also als Bedrohung für das eigene Selbst.!* Der schmale Grat des schönen Scheiterns besteht demnach darin, Misserfolge immer (auch) auf ein individuelles Verschulden zurückzuführen, ohne sich selbst dabei aber fundamental infrage zu stellen. Nur unter diesen Umständen kommt zum Tragen, was die so tröstliche Idee, aus Fehlern lernen zu können, impliziert: eine grundsätzliche Beherrschbarkeit des Scheiterns. Fehler sind vermeidbar; sie resultieren normalerweise aus temporären Unachtsamkeiten oder falschen Entscheidungen, die im besten Fall zumindest nachträglich erkannt und präventiv analysiert werden können — auch deshalb verschwimmen die begrifflichen Grenzen zwischen »Scheitern« und »Fehler« (oder ähnlichen Ausdrücken) im zeitgenössischen Diskurs oft komplett. Wer seinen Misserfolg öffentlich thematisiert, tut das meist in der Annahme, den Grund für das eigene Scheitern bereits identifiziert zu haben, vergangene Fehler also zukünftig vermeiden zu können. Diese Spreche:-innenposition verlangt es, das Scheitern — in der Regel mit einem beträchtlichen zeitlichen Abstand — nach einem Ursache-Wirkung-Prinzip zu erklären, es in einen klar benennbaren kausalen Begründungszusammenhang zu stellen: Schön gescheitert wird selten aus bloßem Pech. Oder anders formuliert: Das schöne Scheitern stellt womöglich nicht zuletzt deshalb ein derart erfolgreiches Modell dar, weil es den kontingenten Anteil des Scheiterns weitestgehend tilgt ...



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Di 10. Jun 2025, 14:28

Pech ist natürlich ein Punkt, den man nicht außer Acht lassen sollte, wobei man vielleicht manchmal/oft auch dazu neigt, eigene Unzulänglichkeiten als Pech schönzureden.



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Di 10. Jun 2025, 15:10

Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein ist Scheitern also Schiffbruch: mögliches Resultat eines schlechterdings unkontrollierbaren Vorhabens und Ausdruck der Ohnmacht des Menschen gegenüber Kosmos und Natur. Im Denken der homerischen Zeit rührt die Bedrohlichkeit der Seefahrt vor allem von der ihr konstitutiven Überschreitung der Grenze zwischen Land und Wasser her, einer Hybris, die den Zorn der Götter hervorrufen und als Konsequenz ein Kentern nach sich ziehen kann. Dennoch ist Schiffbruch schon im Weltbild des alten Griechenlands vor allem eines: unberechenbar. Stets möglich zwar und deshalb nicht an und für sich überraschend, aber doch keineswegs selbstverständlich oder notwendig, letztlich ein Ausnahmefall. Ein Risiko – auch das im Übrigen ein Begriff aus dem nautischen Bereich, das altgriechische rhiza bezeichnet eine Klippe, an der Schiffe zerschellen – für einen Schiffbruch besteht trotzdem zu jeder Zeit. Die Seefahrenden müssen lernen, es zu kalkulieren und durch entsprechende Konstruktions- und Navigationstechniken möglichst zu minimieren; ob die Schifffahrt dann jedoch tatsächlich mit einem Schiffbruch endet, ob die Schiffsbesatzung die Reise überleben wird oder nicht, obliegt nur dem Gutdünken der Götter.

Der Philosoph Hans Blumenberg hat dem Schiffbruch, insbesondere in der Konfiguration »Schiffbruch mit Zuschauer« (also im Spannungsverhältnis zu denjenigen, die das Unglück vom Festland aus beobachten), die Qualität einer »Daseinsmetapher« zugeschrieben, in der – sich historisch wandelnde – Annahmen über die Bedingungen menschlicher Existenz zutage treten. Seit der Frühen Neuzeit, und dann insbesondere seit der Aufklärung, die geprägt ist von Entdeckergeist und einem unbedingten Fortschrittsglauben, zeigen sich Ansätze eines sich verändernden Verständnisses des Scheiterns, das hier noch immer in erster Linie als Schiffbruch zu verstehen ist ...
(Nora Weinelt)



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Di 10. Jun 2025, 15:17

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 10. Jun 2025, 13:25
Dazu ein Zitat von Nora Weinelt, Feb. 2025:
[...] Oder anders formuliert: Das schöne Scheitern stellt womöglich nicht zuletzt deshalb ein derart erfolgreiches Modell dar, weil es den kontingenten Anteil des Scheiterns weitestgehend tilgt ...
Ich hatte es neulich schon gedacht und an den letzten Satz des Zitats kann ich meinen Gedanken gut anknüpfen. "Scheitern" heißt immer, mit dem Ohnmachtsgefühl konfrontiert zu werden. Irgendetwas, egal was, hat man nicht verwirklichen können. Das bedeutet, man erkennt die Grenzen der eigenen Handlungs- und Verfügungsmacht. Sich ohnmächtig fühlen ist eines der sehr schwer auszuhaltenden Gefühle.




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Di 10. Jun 2025, 15:26

Hier könnte man Camus' Sisyphus ins Spiel bringen, finde ich. Der Stein rollt immer wieder herunter, aber man muss sich ihn dennoch als glücklichen Menschen vorstellen: https://www.hoheluft-magazin.de/2013/12 ... klich-ist/



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Di 10. Jun 2025, 15:32

Friederike hat geschrieben :
Di 10. Jun 2025, 15:17
Sich ohnmächtig fühlen ist eines der sehr schwer auszuhaltenden Gefühle
Ich bin mir da nicht sicher. In der Regel ist das wohl so, aber manchmal kann es auch faszinierend sein, sich einer Macht einfach hinzugeben.

Ohnmacht kann doch auch ein positives Gefühl sein, solange man nicht wirklich in Gefahr ist, oder? (Das ist natürlich die Bedingung!)
Ohnmacht und Kunst - sich der Macht der Kunst hingeben, kann sehr lustvoll sein.
Ohnmacht und Meer: sich in den Wellen treiben lassen, und ihre Macht spüren, kann schön sein, wenn keine wirkliche Gefahr besteht.
Ohnmacht und Tanz: Sich quasi in Trance tanzen und sich ohnmächtig der Musik und der eigenen Bewegung hingeben.
Ohnmacht und Malerei: Wenn man an den Punkt kommt, wo man die Kontrolle wirklich abgibt ... (das wäre etwas im Widerspruch zu Menke, schätze ich.)
Flow/Ekstase/...



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Di 10. Jun 2025, 16:00

Nora Weinelt hat geschrieben : [...] getreu dem in der Ratgeberliteratur eifrig zitierten, aber grotesk missverstandenen Motto: »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.«
"Samuel Becketts "Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better" ist kein motivierender Aufruf zur Selbstoptimierung, sondern eine düstere Meditation über die Unmöglichkeit authentischen Fortschritts und die Notwendigkeit, trotz garantierten Scheiterns weiterzumachen. Die zeitgenössische Verwendung als Startup-Mantra verkehrt Becketts existenzialistische Kritik in ihr Gegenteil und demonstriert dabei paradoxerweise genau die kulturelle Oberflächlichkeit, die der Autor kritisierte.

Die wahre Bedeutung des Zitats liegt in seiner Anerkennung der tragischen Absurdität menschlicher Existenz: Wir sind dazu verdammt, zu versuchen, zu scheitern und wieder zu versuchen, nicht weil dies zu Verbesserung führt, sondern weil es die einzige uns verfügbare Antwort auf die grundlegende Sinnlosigkeit unserer Situation ist. In dieser Lesart wird "Fail better" zu einem Ausdruck stoischer Akzeptanz angesichts der unausweichlichen Niederlage – eine wesentlich komplexere und düsterere Botschaft als die vereinfachten Motivationssprüche der digitalen Ära suggerieren.
"



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Di 10. Jun 2025, 16:07

"Die wahre Bedeutung des Zitats liegt in seiner Anerkennung der tragischen Absurdität menschlicher Existenz." Ich weiß nicht, ob ich das so kaufe; ich glaube nicht, dass die menschliche Existenz per se absurd ist.



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Di 10. Jun 2025, 18:24

Vom Mut, nicht weiterzumachen – Eine neue Sicht auf das Scheitern

Weinelt sieht heute "selbst im Scheitern einen Gelingensdruck" - andere sprechen von toxischer Positivität. "Man darf zwar scheitern - aber bitteschön richtig", erklärt sie. Vorausgesetzt werde dabei, dass man für das Scheitern selbst verantwortlich sei, es also auch aktiv besser machen könne. Das klinge tröstlich, sei aber eine grobe Vereinfachung, kritisiert die Wissenschaftlerin.
...

https://www.michaelsbund.de/innehalten/ ... scheitern/



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Do 12. Jun 2025, 16:40

spiegel.de hat geschrieben : Gescheitert: Die "Agentur für gescheites Scheitern"

... In unserer Wahrnehmung jedoch wird [das Scheitern] immer noch als extrem negativ stigmatisiert." Hans-Jürgen Stöhr wollte das ändern. Mit Scheitern kennt der Akademiker sich aus. Gerade lief das Berufungsverfahren; er sollte eine Professur an der Universität Rostock antreten, da kam die Wende. Er verlor die Stelle, seine Karriere, seine Idee vom Leben. Marxistisch-leninistische Lehrkörper standen in der neuen Welt nicht hoch im Kurs. Mit 41 Jahren und einem Abschluss als Philosoph musste sich Stöhr als Berater und Management-Trainer auf dem freien Markt durchbeißen.

Dabei sammelte er so reichlich Erfahrung, dass er beschloss, sein Schicksal in eine Geschäftsidee umzuwandeln. 2005 gründete er die "Agentur für gescheites Scheitern". Er wollte Menschen helfen, siegreich aus Niederlagen hervorzugehen.

Sieben Jahre später gab er die Agentur auf. Gescheites Scheitern war gescheitert. Die Leute trauten sich nicht, professionelle Hilfe zu suchen, so erklärt Stöhr die mangelnde Nachfrage ...

Quelle



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Do 12. Jun 2025, 17:39

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 12. Jun 2025, 16:40
spiegel.de hat geschrieben : Gescheitert: Die "Agentur für gescheites Scheitern"
Dabei sammelte er so reichlich Erfahrung, dass er beschloss, sein Schicksal in eine Geschäftsidee umzuwandeln. 2005 gründete er die "Agentur für gescheites Scheitern". Er wollte Menschen helfen, siegreich aus Niederlagen hervorzugehen.
Sieben Jahre später gab er die Agentur auf. Gescheites Scheitern war gescheitert. Die Leute trauten sich nicht, professionelle Hilfe zu suchen, so erklärt Stöhr die mangelnde Nachfrage ...
Nunja, beschränke ich das "Scheitern" auf eine berufliche Tätigkeit, dann dürften die Leute, die gescheitert sind, vermutlich nicht die finanziellen Mittel gehabt haben oder haben, um sich in einer Agentur für "gescheites Scheitern" Hilfe zu suchen.




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Do 12. Jun 2025, 18:27

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 10. Jun 2025, 16:00
Nora Weinelt hat geschrieben : Die wahre Bedeutung des Zitats liegt in seiner Anerkennung der tragischen Absurdität menschlicher Existenz: Wir sind dazu verdammt, zu versuchen, zu scheitern und wieder zu versuchen, nicht weil dies zu Verbesserung führt, sondern weil es die einzige uns verfügbare Antwort auf die grundlegende Sinnlosigkeit unserer Situation ist. In dieser Lesart wird "Fail better" zu einem Ausdruck stoischer Akzeptanz angesichts der unausweichlichen Niederlage – eine wesentlich komplexere und düsterere Botschaft als die vereinfachten Motivationssprüche der digitalen Ära suggerieren.[/i]"
Hm, als Absurdität würde ich den Umstand bezeichnen, daß sehr viele Menschen nach dem Sinn des menschlichen Lebens fragen -und dann aber keine Antwort darauf haben. Ich überlege gerade, ob diese Frage nicht nur jedes Individuum für sich ganz alleine beantworten kann. Von der "grundlegenden Sinnlosigkeit unserer Situation" zu sprechen, setzt, so scheint es mir, Erwartungen voraus, es müsse irgendetwas anders sein, damit unsere Situation nicht sinnlos ist. Die Vorannahmen, die einer solchen Beurteilung zugrundeliegen, müßte man herausfinden.




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Do 12. Jun 2025, 18:42

Die Vorannahme dürfte wahrscheinlich sein, dass wir uns in einem sinnlosen Universum befinden und dass das Leben daher in sich selbst keinen Sinn hat: "Camus beschreibt in dem Essay «Der Mythos des Sisyphos» die menschliche Existenz als hoffnungslose Absurdität. Gott sei tot und das Leben insgesamt sinnlos. Wir würden in einer hoffnungslosen Welt leben und dennoch so tun, als hätte alles einen Sinn. Der sinnsuchende Mensch im sinnleeren Weltall." (Yves Bossart)

Wobei Camus wahrscheinlich etwas optimistischer in Bezug auf den Sinn ist als Beckett, schließlich muss man sich Sisyphos ja als glücklichen Menschen vorstellen :)

(Das Zitat, dass du Nora Weinelt zugeschrieben hast, ist - glaube ich - gar nicht von der Autorin. Das war glaube ich eine weitere Quelle aus den Tiefen des Netzes - aber das nur nebenbei.)



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