Vernünftige Unvernunft

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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ChrisH
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Mi 24. Jan 2018, 21:14

Vor einigen Tagen hatte ich mein Erstgespräch bei einer Psychotherapeuten wegen meinen Depressionen und der Derealisation

Nach dem Gespräch ging mir nur durch den Kopf, was mal im Kontext meiner Recherche zum Konstruktivismus über den Solipsismus gelesen hatte. Ich dachte mir nur, wenn jemand zu ihr gehen würde, um ihr zu erzählen, dass er glaubt, nur ich sei wirklich real, dann sie ihm wohl keine gute Diagnose geben.
Genauso mit dem Konstruktivismus. Frau "hier Namen einfügen", ich denke, ich konstruiere die Welt um mich herum nur. Wenn das nur logisches Gerede ist, dann wird es wohl kaum weiter schlimm sein. Aber wenn jemand - so wie ich - das wirklich zu seiner erlebten Realität macht ... Naja, so geht es mir jedenfalls durch meine Derealisation. Vor allem in sehr starken Phasen. Gelebter Konstruktivismus sage ich mir seit dem sarkastisch :lol:

Ehrlich gesagt denke ich, dass meine Krankheiten und meine nicht all zu schöne Jugend, sicher viel dazu beigetragen haben, dass ich mich mit solchen Dingen überhaupt beschäftige.

Vor einiger Zeit habe ich durch "die lange Nacht von Michael Foucault" mitbekommen, dass er während seiner Jugend versucht hat sich während einer depressiven Phase umzubringen. Dass ein Mensch mit dem Anspruch, die personifizierte Vernunft zu sein, so etwas eigentlich unvernünftiges machen würde, fand ich damals schon spannend.

Ist die Beziehung zwischen der Vernunft und Unvernunft enger und verschwommener, als man sich das normalerweise vorstellt?

Was sind eure Erfahrungen zu der Beziehung zwischen - wirklich - philosophischen Menschen und derlei eigentlich unvernünftigen psychischen Problemen? Bin ich hier auch in einer Minderheit? Oder sind ähnliche Szenarien öfter vertreten, als ich das vermutet hatte?



Mit freundlichen Grüßen
Chris

Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man was schönes bauen.
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Jörn Budesheim
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Do 25. Jan 2018, 13:07

ChrisH hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 21:14
Ist die Beziehung zwischen der Vernunft und Unvernunft enger und verschwommener, als man sich das normalerweise vorstellt?
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man hier nicht zwei verschiedene Begriffspaare unterscheiden müsste. Versuchen wir es mal. Der Unterschied von Vernunft und Unvernunft ist vielleicht nicht der selbe, wie der Unterschied von Vernunft und Nichtvernunft - wenn man so sagen darf.

Zunächst die Unterscheidung vernünftig und unvernünftig: Wenn man zu jemandem sagt, "das war jetzt aber unvernünftig!", dann ist es in der Regel eigentlich eine Form des Tadels - und dementsprechend ist der Ausruf "sehr vernünftig!" eine Form des Lobs.

Und nun zu der Unterscheidung Vernunft und Nichtvernunft: Wer Vernunft hat, der ist generell in der Lage, sein Handeln an Gründen zu orientieren. Gründe sind Tatsachen, die für oder gegen etwas sprechen. Einen Regenwurm wird man jedoch nicht zubilligen, dass er sich an Gründen orientieren kann, hier kann von Vernunft überhaupt nicht die Rede sein (daher Nichtvernunft) daher ist der Regenwurm auch nicht unvernünftig, sondern nicht-vernünftig ...

Deswegen würde ich meinen, dass die Beziehung zwischen der Vernunft und Unvernunft dergestalt ist, dass wir alle von der Grundveranlagung her "das vernünftige Tier" sind, weil wir frei sind und uns an Gründen orientieren können. Unvernunft setzt Vernunft also voraus, denn unvernünftig kann nur der Vernünftige sein. Unvernünftig zu handeln wäre dann vielleicht ein Handeln wider besseres (oder verdrängtes) Wissen?!

Das etwas aus der hohlen Hand gedacht ... und soll nur als Anregung zum mit- und weitermachen dienen :-)




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Jörn Budesheim
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Do 25. Jan 2018, 13:29

ChrisH hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 21:14
Nach dem Gespräch ging mir nur durch den Kopf, was mal im Kontext meiner Recherche zum Konstruktivismus über den Solipsismus gelesen hatte. Ich dachte mir nur, wenn jemand zu ihr gehen würde, um ihr zu erzählen, dass er glaubt, nur ich sei wirklich real, dann sie ihm wohl keine gute Diagnose geben.
Genauso mit dem Konstruktivismus. Frau "hier Namen einfügen", ich denke, ich konstruiere die Welt um mich herum nur.
Wenn man gegenüber einer akademisch gebildeten Person beiläufig erwähnt, dass wir alle unsere Welt nur konstruieren, darf man wohl eher Zustimmung erwarten, schätze ich. Das dürfte in vielen Kreisen (insbesondere wenn es Richtung Geisteswissenschaften geht) so eine Art Grundkonsens sein. Wer etwas anderes meint, gilt schnell als naiv :-)




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Friederike
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Do 25. Jan 2018, 18:50

ChrisH hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 21:14
Vor einigen Tagen hatte ich mein Erstgespräch bei einer Psychotherapeuten wegen meinen Depressionen und der Derealisation. Nach dem Gespräch ging mir nur durch den Kopf, was mal im Kontext meiner Recherche zum Konstruktivismus über den Solipsismus gelesen hatte. Ich dachte mir nur, wenn jemand zu ihr gehen würde, um ihr zu erzählen, dass er glaubt, nur ich sei wirklich real, dann sie ihm wohl keine gute Diagnose geben. Genauso mit dem Konstruktivismus. Frau "hier Namen einfügen", ich denke, ich konstruiere die Welt um mich herum nur. Wenn das nur logisches Gerede ist, dann wird es wohl kaum weiter schlimm sein. Aber wenn jemand - so wie ich - das wirklich zu seiner erlebten Realität macht ... Naja, so geht es mir jedenfalls durch meine Derealisation. Vor allem in sehr starken Phasen. Gelebter Konstruktivismus sage ich mir seit dem sarkastisch :lol: [...] Was sind eure Erfahrungen zu der Beziehung zwischen - wirklich - philosophischen Menschen und derlei eigentlich unvernünftigen psychischen Problemen? Bin ich hier auch in einer Minderheit? Oder sind ähnliche Szenarien öfter vertreten, als ich das vermutet hatte?
Oja, das vermute ich schon. Insbesondere dann, wenn ich mir beispielsweise die "De-Realisation" als ein Stufenmodell vorstelle. Zunächst gehe ich davon aus, daß Du und ich, wenn wir gemeinsam durch einen Park gingen, durchaus dieselben Gegenstände wahrnähmen. Wir sehen beide, daß dies hier ein Baum ist und das dort ein Teich usw. Und daß man je nach Stimmung oder psychischer Befindlichkeit die Dinge um einen herum als intensiver oder vertrauter erlebt, das ist doch eine Erfahrung, die jeder Mensch macht, oder nicht? Wenn man sehr in sich eingeschlossen ist, dann kommt einem die Welt draußen entsprechend unwirklich vor. Gut. Es mag sein, wenn dieses Phänomen ausgesprochen häufig und sehr stark ausgeprägt vorkommt, das man es dann als Diagnoseinstrument begreifen kann. Aber zum Konstruktivistischen zurück: Was sähest Du im Park, was ich nicht sähe? Auch dann nicht, wenn Du mich aufmerksam machen würdest, wohin ich blicken müßte, um zu sehen, was Du siehst?




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Friederike
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Do 25. Jan 2018, 19:14

Vielleicht noch ein besseres Beispiel @Chris. Wir begegnen uns auf der Straße. Du siehst mich an und ich denke, "ach du Scheiße, ist irgendwas mit meinem Gesicht nicht in Ordnung" ... umgekehrt würdest Du möglicherweise zu einem Blick auf Dich denken "hey, die findet mich toll". Die Wahrnehmung wäre hier das Angesehenwerden. Nicht mehr und nicht weniger. Was wir darüber jeweils denken, das allerdings kann sich unterscheiden. Aber auch das finde ich reichlich normal. Wenn ich natürlich immer und ausschließlich Gedanken zu Wahrnehmungen habe, die mich in ein schlechtes Licht rücken, dann kann man das allgemein und unphilosophisch Konstruktivismus nennen und personenbezogen einen wenig freundlichen Konstruktivismus.




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ChrisH
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Fr 26. Jan 2018, 09:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 25. Jan 2018, 13:07
ChrisH hat geschrieben :
Mi 24. Jan 2018, 21:14
Ist die Beziehung zwischen der Vernunft und Unvernunft enger und verschwommener, als man sich das normalerweise vorstellt?
Und nun zu der Unterscheidung Vernunft und Nichtvernunft: Wer Vernunft hat, der ist generell in der Lage, sein Handeln an Gründen zu orientieren. Gründe sind Tatsachen, die für oder gegen etwas sprechen. Einen Regenwurm wird man jedoch nicht zubilligen, dass er sich an Gründen orientieren kann, hier kann von Vernunft überhaupt nicht die Rede sein (daher Nichtvernunft) daher ist der Regenwurm auch nicht unvernünftig, sondern nicht-vernünftig ...
Von einem rein wertneutralem Standpunkt aus, ja. Allerdings habe ich eher die Erfahrung gemacht, dass beim Menschen zum einen Moral und Erfahrungswerte, eine große Rolle spielen, wenn es darum geht, Handlungen zu bewerten. Gerade wenn es um religiöse Menschen geht, aber noch lange nicht ausschließlich.

Beispielsweise erkennen viele Menschen meine Vorliebe für Science Fiction als eher unvernünftig, manchmal gerade zu kindisch an. Mein Interesse kann ich begründen. Ich bin mir darüber im Klarem, warum ich mich dafür interessiere, welche Ursachen es gibt, welchen Nutzen oder möglichen Schaden es vermutlich für mein Leben hat. Trotzdem nützten Erklärungen hier nichts, denn wir befinden uns hier auf einer rein ethischen/moralischen Ebene. Meine Science Fiction Liebe hat oft zum Beispiel das Resultat, dass ich sehr viel in Gedanken schwelge. Das kann auf manche Menschen so wirken, als würde ich in den Tag hinein leben, was dann wieder mit Naivität assoziiert wird, weil wir eben in einer Gesellschaft leben, in der Leistung und nicht langes Nachdenken, von größerem Vorteil im Hier und Jetzt sind.

Meine Erfahrung ist, dass das Handeln eines Menschen eher nach Moral und seltener nach wertneutralen Standpunkten, bemessen wird. Vernünftig ist häufiger derjenige, der es wegen seiner Anpassungsfähigkeit in der Hierarchie weiter nach oben schafft. Ebenso meistens eher derjenige, der mit meiner moralischen Einstellung eher übereinstimmt. (etc.)

Ich hoffe ich habe jetzt nicht zu viele Begriffe miteinander vertauscht. Das ist eben nur meine Erfahrung und Beobachtung die ich im Umgang mit anderen gemacht habe.



Mit freundlichen Grüßen
Chris

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Friederike
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Fr 26. Jan 2018, 12:32

ChrisH hat geschrieben :
Fr 26. Jan 2018, 09:46
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 25. Jan 2018, 13:07
Und nun zu der Unterscheidung Vernunft und Nichtvernunft: Wer Vernunft hat, der ist generell in der Lage, sein Handeln an Gründen zu orientieren. Gründe sind Tatsachen, die für oder gegen etwas sprechen. [...]
Beispielsweise erkennen viele Menschen meine Vorliebe für Science Fiction als eher unvernünftig, manchmal gerade zu kindisch an. Mein Interesse kann ich begründen. Ich bin mir darüber im Klarem, warum ich mich dafür interessiere, welche Ursachen es gibt, welchen Nutzen oder möglichen Schaden es vermutlich für mein Leben hat. Trotzdem nützten Erklärungen hier nichts, denn wir befinden uns hier auf einer rein ethischen/moralischen Ebene. Meine Erfahrung ist, dass das Handeln eines Menschen eher nach Moral und seltener nach wertneutralen Standpunkten, bemessen wird. Vernünftig ist häufiger derjenige, der es wegen seiner Anpassungsfähigkeit in der Hierarchie weiter nach oben schafft. Ebenso meistens eher derjenige, der mit meiner moralischen Einstellung eher übereinstimmt. (etc.)
Im normalen Alltagsleben, das ist sicher zutreffend, werden die Sätze "das ist vernünftig" oder "das ist unvernünftig" so eingesetzt, daß sie gleichzeitig eine starke Bewertung beinhalten. "Vernünftig" ist gut und "unvernünftig" ist schlecht. Das heißt, die Gründe, an denen sich das Handeln orientiert, werden in gute Gründe oder schlechte Gründe eingeteilt. Das Eintauchen in fremde Welten, was beispielsweise durch die Lektüre von Science Fiction ermöglicht wird, gilt oft eben nicht als ein guter Grund. Was machen wir aber nun damit? Hast Du eine Idee? Man könnte beispielsweise die Definition bzw. die Umschreibung dessen, was vernünftiges Handeln ist, erweitern? Oder man könnte sagen, daß diejenigen, die einen Handlungsgrund zugleich bewerten, selber unvernünftig handeln (das Sprechen fasse ich in diesem Fall auch als Handlung auf). Hm, oder würde man dies eher als irrationales Handeln bezeichnen ...?).




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Friederike
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Fr 26. Jan 2018, 18:28

Ich nochmal.

Es regnet. Ich gehe unbeschirmt auf die Straße, weil ich im Regen tanzen möchte ("singin' in the rain, what a glorious feeling"). Handle ich vernünftig und ist der Grund meines Handelns ein unvernünftiger? Vernünftig ist mein Handeln insofern, weil ich Absicht und Ziel meines Handelns dadurch richtig umsetze, daß ich keinen Schirm mitnehme und aufspanne. Und der Grund meines Handelns? Ist das Genießenwollen des Regens nun ein unvernünftiger oder ein vernünftiger Grund? Hier würde die von Dir gewählte Überschrift eigentlich gut passen :lol: - die "vernünftige Unvernunft". Man spricht von "Vernunftgründen". Weniger oder gar nicht geläufig ist die Redeweise von Gefühlsgründen, meine ich. In diesem Fall sagt man wohl "unvernünftig".




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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jan 2018, 13:05

ChrisH hat geschrieben :
Fr 26. Jan 2018, 09:46
Meine Erfahrung ist, dass das Handeln eines Menschen eher nach Moral und seltener nach wertneutralen Standpunkten, bemessen wird.
Wenn wir etwas "bemessen" können wir nicht zugleich "wertneutral" sein, oder? Ich bin mir daher nicht ganz sicher, was du meinst. Vielleicht denkst du an etwas wie "unvoreingenommen"?




Tosa Inu
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So 28. Jan 2018, 22:30

Friederike hat geschrieben :
Fr 26. Jan 2018, 18:28
Es regnet. Ich gehe unbeschirmt auf die Straße, weil ich im Regen tanzen möchte ("singin' in the rain, what a glorious feeling"). ... nicht geläufig ist die Redeweise von Gefühlsgründen, meine ich. In diesem Fall sagt man wohl "unvernünftig".
Oder hypomanisch. :mrgreen:



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Mo 29. Jan 2018, 05:18

Friederike hat geschrieben :
Fr 26. Jan 2018, 18:28
Gefühlsgründen
Dieser Ausdruck ist mir zwar neu, aber Gefühle, die Gründe liefern, also Emotionen, kennt die Philosophie der Gefühle durchaus. Angst vor einem Fressfeind ist z.b. durchaus rational.




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Mo 29. Jan 2018, 10:32

Aber das ist eben das Problem der Philosophie, dass sie mit Gefühlen nur dann etwas anfangen kann, wenn man in ihnen etwas letztlich Rationales, was das Überleben sichert sieht, sehen kann. Ansonsten hat die Philosophie mit Gefühlen herzlich wenig am Hut, weil die eben eine per se unbegründete und unbegründbare Größe sind.
Diese Idee, dass Gefühle das Überleben sichern oder irgendwie sozial nützlich sind, heftet sich aber an primitivste reduktionistische Ansätze, deren Denkfehler die Philosophie ansonsten locker druchschaut, wie sie in der Hirnforscher/Willensfreiheits-Debatte recht eindrucksvoll bewiesen hat.

Dass Gefühle aber anders denn als biosoziales Relikt einen Sinn haben könnten, daran muss man sich noch versuchen. Gefühle lassen uns Dinge oft wider alle Vernunft tun, was man zwar als statistische Ausreißer an den Rändern der Norm interpretieren kann, aber das gehört zu jener Generation der nichterklärenden Erklärungen, an die wir uns viel zu sehr gewöhnt haben.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Alethos
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Mo 29. Jan 2018, 13:18

Das scheint mir ein gar hartes Urteil über Gefühle zu sein. Ich bin nicht ganz sicher, ob man Gefühle rationalisieren muss, um sie philosophisch fruchtbar zu machen: Begriffe wie Getriebenheit (amour de soi, amour des autres), Affekte, Gnade etc., sind meines Erachtens nicht nur Relikte einer Anthropologie, sondern distinkte Merkmale des Menschseins.

Wenn wir im anderen Thread mit Cleverbot reden, wird ja deutlich, dass wir uns von künstlicher Intelligenz in vielem unterscheiden, auch und unter anderem dadurch, dass wir emotionale Tiefen- und Breitenstrukturen ausgebildet haben, durch die wir uns als fühlende Wesen überhaupt wahrnehmen. Dies hat sicherlich eine soziale Funktion, aber es hat doch in erster Linie eine Konsequenz auf den (unreflektierten) Selbstbezug. Nun mag man sagen, Gefühle hätten keinen vernünftigen Wert jenseits der Funktionen für die Gesellschaft, aber ich denke, diese Sichtweise unterschlägt den wichtigen Umstand, dass wir uns selbst als Iche nicht ausbalancieren könnten, wenn wir den Gefühlen nicht den nötigen Raum bieten, damit sie sich entfalten und produktiv werden können?



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Tosa Inu
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Mo 29. Jan 2018, 13:26

Falls sich das auf meinen Kommentar bezog: Das harte Urteil galt hier eher der Philosophie, nicht den Gefühlen.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Mo 29. Jan 2018, 16:31

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2018, 10:32
Aber das ist eben das Problem der Philosophie, dass sie mit Gefühlen nur dann etwas anfangen kann, wenn man in ihnen etwas letztlich Rationales, was das Überleben sichert sieht, sehen kann. Ansonsten hat die Philosophie mit Gefühlen herzlich wenig am Hut, weil die eben eine per se unbegründete und unbegründbare Größe sind.
Die Philosophie der Gefühle ist vielleicht nicht der bekannteste Bereich der Philosophie, aber es gibt darüber sehr umfangreiche Untersuchungen. Im Philosophie-Raum haben wir dazu ausführliche Threads. Hier einige Bücher, die ich empfehlen kann:

Philosophie der Gefühle, Von Achtung bis Zorn, Autoren: Christoph Demmerling, Hilge Landweer

Philosophie der Gefühle, Herausgeberin Sabine A. Döring

Die Logik der Gefühle - Kritik der emotionalen Intelligenz, Aaron Ben Ze'ev

Gefühle, Eva-Maria Engelen

Gefühle: Philosophische Bemerkungen, Heiner Hastedt




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Mo 29. Jan 2018, 16:46

Hab gerade auch eins über Gefühle in der Hand gehabt, was ich gar nicht schlecht fand.
Das hier.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Friederike
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Mo 29. Jan 2018, 17:55

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2018, 05:18
Friederike hat geschrieben :
Fr 26. Jan 2018, 18:28
Gefühlsgründen
Dieser Ausdruck ist mir zwar neu, aber Gefühle, die Gründe liefern, also Emotionen, kennt die Philosophie der Gefühle durchaus. Angst vor einem Fressfeind ist z.b. durchaus rational.
Sagte ich nicht, daß er mir ebenfalls nicht geläufig bzw. noch nie untergekommen ist? 8-) Aber viel interessanter ist die Frage, ob Gründe rational sein müssen, um als Gründe zu gelten. Und ob eine Angst, die irrational ist -die Angst eines Menschen von einer Maus verspeist zu werden- also kein Handlungsgrund ist? Was aber dann? Ich würde meinen, :lol: ich meine, daß eine solche Angst ebenso ein Handlungsgrund ist und als Begründung herangezogen werden kann.




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Jörn Budesheim
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Mo 29. Jan 2018, 18:01

Gründe sind Tatsachen, die für etwas sprechen. Es ist keine Tatsache, dass Mäuse Menschen in der fraglichen Weise gefährlich werden können. Also liegt dieser Grund objektiv nicht vor. Aber die Angst von X ist auch eine Tatsache. Und diese kann für allerlei sprechen. Unter gewissen Umständen kann es dann auch rational sein, zu "fliehen" (=sich nicht der Angst auszusetzen).




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Friederike
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Mo 29. Jan 2018, 18:37

Tosa Inu hat geschrieben :
So 28. Jan 2018, 22:30
Friederike hat geschrieben :
Fr 26. Jan 2018, 18:28
Es regnet. Ich gehe unbeschirmt auf die Straße, weil ich im Regen tanzen möchte ("singin' in the rain, what a glorious feeling"). ... nicht geläufig ist die Redeweise von Gefühlsgründen, meine ich. In diesem Fall sagt man wohl "unvernünftig".
Oder hypomanisch. :mrgreen:
Ich hoffe, es ist keine pathologische Diagnose ... :lol: Man könnte übrigens auch an einen lebenskünstlerischen Menschen denken.




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Mo 29. Jan 2018, 18:43

Friederike hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2018, 18:37
Tosa Inu hat geschrieben :
So 28. Jan 2018, 22:30
Friederike hat geschrieben :
Fr 26. Jan 2018, 18:28
Es regnet. Ich gehe unbeschirmt auf die Straße, weil ich im Regen tanzen möchte ("singin' in the rain, what a glorious feeling"). ... nicht geläufig ist die Redeweise von Gefühlsgründen, meine ich. In diesem Fall sagt man wohl "unvernünftig".
Oder hypomanisch. :mrgreen:
Ich hoffe, es ist keine pathologische Diagnose ... :lol: Man könnte übrigens auch an einen lebenskünstlerischen Menschen denken.
Aber hat Lebenskünstler nicht auch schon was (fast) Pathologisches? Wenigstens die Assoziation mit (schläft unter der ) Brücke und Rotwein (der gute, im Tetrapack) taucht auf. :?
Zuletzt geändert von Tosa Inu am Mo 29. Jan 2018, 19:17, insgesamt 1-mal geändert.



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