Kaffeestübchen

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Nauplios
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Sa 6. Jun 2020, 23:33

Zum Glück hat die antike Verbindung von Erkenntnis und Glück in der Moderne keine Verbindlichkeit mehr. ;)

Ich werde dem Thread noch ein paar Impulse geben. Zum Glück ist der Aufsatz kurz. Wir können ja danach einen anderen Text vornehmen ... oder ich poste ein paar Zitate ... dann kommen wir vielleicht darüber ins Gespräch ... ;)




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Jörn Budesheim
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Di 9. Jun 2020, 15:14

Heute musste ich über mich selbst als Künstler für eine Ausstellung einen kurzen Text schreiben :-)

Bild

Jörn Peter Budesheim wurde 1960 in Marburg geboren. Er studierte Kunst an der HBK Kassel. In den letzten Jahren konzentriert sich seine künstlerische Arbeit nahezu ausschließlich auf die Zeichnung, in der Regel kleinere Arbeiten auf Papier. Sein Thema ist der Mensch.

Die Zeichnungen suchen jenseits von Inhaltismus und Formalismus ihren poetischen Weg. Irgendetwas ist da draußen, was aufs Papier drängt. Sie sind fertig, wenn sie eine Geschichte erzählen, die sich nicht nacherzählen lässt, … die Idee der Schönheit ist ihr heimliches Gravitationszentrum.




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Jörn Budesheim
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Di 9. Jun 2020, 20:02

Die beiden Suchbegriffe Lyrik und Logik zusammen ergeben nicht gerade viele Treffer. Wenn man nach Gehör philosophiert, hält man es vielleicht für Gegensätze. Brecht war anscheinend anderer Ansicht, aber ich bin weiter auf der Suche nach guten Quellen. Für sachdienliche Hinweise bin ich dankbar!

Bertolt Brecht, 1935: "Gut, aber was beweist das?"

Ein Mathematiker sagte, als er Goethes "Iphigenie" gesehen hatte: Gut, aber was beweist das? Der Satz war nicht am Platz, aber er ist es gegenüber Tausenden und Tausenden von Gedichten. Aufgefordert, solche Gedichte zu kritisieren, gerät man in Verlegenheit, da ist sozusagen nichts zum Kritisieren da, höchstens: daß sie geschrieben und daß sie gedruckt wurden. Man kann die Ansprüche unseres Mathematikers nicht vollständig ablehnen, nur weil er sie an ein Werk gestellt hat, das sie befriedigen kann. Man kann ihm sagen, was die "Iphigenie" beweist, und wenn man es von irgendeinem Werk nicht sagen kann, dann ist es kein bedeutendes Werk. Es ist kein bedeutendes Werk, weil es nichts bedeutet.

(Nicht, dass ich Brechts Ansicht teilen würde, aber witzig ist der Text dennoch.)




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Nauplios
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Do 11. Jun 2020, 18:55

Nauplios hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 13:52

Sein 100. Geburtstag im Juli wirft derweil seine Schatten voraus und die Frage ist berechtigt, ab wann man einen Philosophen vor seiner Popularität schützen sollte, zumal einen, dem an Popularität wenig lag.
Einer dieser dunklen Schatten gibt sich in einem schmalen Bändchen zu erkennen als Felix Heidenreich. Den Dunkelwert läßt der Untertitel erahnen: Hans Blumenberg heute. (Politische Metaphorologie)

Mit dem Verlag hat Heidenreich sich auf Verkausträchtiges geeinigt: "Was können wir heute mit Blumenberg anfangen?" Noch zwei Sätze und man ist bei den "französischen Gelbwesten" und den "Brexiteers". Und wo bleibt Trump? - Er kommt noch, ebenso wie Boris Johnson. Auch Guido Westerwelle ist dem Autor ein Hinweis wert.

Dieser Autor Felix Heidenreich hatte vor Jahren Gescheites über Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg geschrieben. Daß er auch Fachmann für's Gegenteil ist, davon gibt seine Politische Metaphorologie nun aus gegebenem Anlaß eine überzeugende Kostprobe.

Die Eröffnung beginnt brav mit: "Im Jahre 2020 gehört Hans Blumenberg wohl zu den meistgelesenen Autoren der deutschsprachigen Philosophie." (S.3) -

Dann geht es flott weiter und es ist von einem "framing" die Rede, von einer "These, die mit ihrem scope auf der Höhe von Heideggers Modernetheorie spielt", von "trial and error" und davon, daß erlaubt ist, "whatever helps". Nach 50 Seiten ist Heidenreich beim Impeachment-Verfahren gegen Trump angekommen. Und auf Seite 64 knöpft er sich Blumenbergs "Inszenierung der eigenen Person" vor: "Interessant werden durch Abwesenheit". Heidenreich wirft Blumenberg "die bewußte Verknappung öffentlicher Auftritte" vor, die "Verweigerung von Podiumsgesprächen und Fernsehdiskussionen". Und er vermißt Bilder: "Bilder kommen in seinen Büchern so gut wie gar nicht vor."(S. 65) - Der Schmerz darüber scheint groß. Bei Sloterdijk kämen sie vor.

In diesem weinerlichen Ton geht es weiter. Schließlich findet Heidenreich doch noch Lobenswertes: "Die philosophische Mythenproduktion in der Mythenanalyse beeindruckt durch Fleiß ..." ;)

An der Stelle dieser Kopfnotenvergabe habe ich die Lektüre abgebrochen. Sie beeindruckt mich in keiner Weise - nicht mal durch Fleiß. Es ist der klägliche Versuch dessen, was sich unter "Hans Blumenberg heute" bereits andeutete. Es ist ein Werklein der großen Töne, deren Spuckkurve für seinen Autor eine feuchte Angelegenheit zu werden droht. Dummheit hört sich gern auf große Trommeln schlagen. :)




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Friederike
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Fr 12. Jun 2020, 11:28

Du schreibst mit spitzer Feder @Nauplios, und den Text verteidigen kann ich gar nicht, weil ich ihn nicht gelesen habe. In der Anzeige* zum Geburtstags-Buch ist allerdings von einem "Essay" die Rede und so würde ich immerhin als mildernden Umstand gelten lassen, daß ein Essay ungerecht und ironisch doch sein darf.

Eine Frage möchte ich stellen: Bist Du wirklich und ganz und gar sicher, die Klage über das Fehlen von Bildern sei ernsthaft und nicht in ironischer Absicht verfaßt? Ich kann mir sehr vieles vorstellen und wundere mich über wenig noch, :lol: aber die Bild-Losigkeit von philosophischen Texten ist so normal, daß sie normalerweise noch nicht einmal ins Bewußtsein dringt.


*Nicht sehr versiert hinsichtlich der Werbestrategien, stelle ich fest, daß ich im Nebel stochere, welche Anzeigen für ein Produkt (hier ein Buch) vom Verlag oder vom mit dem Verlag verbandelten Unterabteilungen kommen und welche Rezensions-Seiten unabhängig(er) sind.




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Nauplios
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Fr 12. Jun 2020, 13:13

Ich zögere, den Heidenreich' schen "Essay" in die Tradition einer Gattung zu stellen, deren Name sich in der Philosophie mit den "Essais" Montaignes verbindet. Doch stellen wir dieses Bedenken hintan, was uns die Lizenz erteilt, mit dem Essay so zu verfahren, wie auch er verfährt: ungerecht und ironisch.

Um dem Glücklichen doch noch ein Stück Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sei das Zitat in seinem Zusammenhang wiedergegeben:

"Die bewußte Verknappung öffentlicher Auftritte oder auch nur öffentlicher Äußerungen, die Verweigerung von Podiumsgesprächen und Fernsehdiskussionen könnte in diesem Sinne auch als eine Strategie der Deflationierung gedeutet werden: Interessant werden durch Abwesenheit, ja Unsichtbarkeit. Blumenbergs Medium waren die Schrift und das vertraute Telefonat; jede Form der medial sichtbaren Philosophie musste ihn wohl befremden.

Zu sagen, Blumenbergs Medium sei die Schrift gewesen, hat zwei Implikationen. Der Begriff 'philosophischer Schriftsteller' klingt in Deutschland womöglich abwertend, aber im Falle Blumenbergs scheint er treffend. Man könnte an einzelnen Abschnitten seiner Texte zeigen, wie er mit literarischer Finesse einen Spannungsbogen aufbaut und am Ende eines Absatzes wie mit einer Coda schließt: Lange, bisweilen verschnörkelte Hypotaxen enden nicht selten mit einem sentenzenhaften Fazit.
Blumenberg primär über die Schrift zu entziffern bedeutet für uns heute aber auch, die Grenzen dieses Zugriffs anzuerkennen. Bilder kommen in seinen Büchern so gut wie gar nicht vor. Selbst dort, wo er für Denkbilder und Leitmetaphern das Material in Hülle und Fülle zur Hand hätte, bleibt Blumenberg der Anschauung fern. Man muß diese Beschränkung des Blicks nicht als Logozentrismus abtun. Aber in einer von Bildern dominierten sozialen Wirklichkeit wirkt dieses Primat des Schriftlichen antiquiert. Es sind Autoren wie Peter Sloterdijk, die die Brücke zwischen Philosophie und Bild auch in den Büchern selbst schlagen.

Dies bedeutet eben auch, dass es einen eigenen Blumenberg-Stil gibt, keinen Jargon, aber doch etwas wie eine Tonlage. Buchtitel im Geiste Blumenbergs lassen sich ebenso generieren wie beliebige 'blumenbergesque' Aufsatztitel imaginieren. Es scheint heute unvermeidlich, die Ambivalenz dieses Umstandes im Auge zu behalten. Der Charakter des systematisch Produzierten, das seinen Schriften bisweilen anhaftet, kennt nicht nur Freunde. Martin Seel nannte ihn den 'großen Diktierer' und sah in seinem fordistisch organisierten System aus Karteikasten, Diktierbändern und Abschrift-Korrektur ein Dispositiv, das seinen Texten nicht nur hilfreich war. Es ist eben kein Zufall, dass der Begriff der Arbeit bei Blumenberg eine zentrale Rolle spielt. Die philosophische Mythenproduktion in der Mythenanalyse beeindruckt durch Fleiß und wirkt deshalb bisweilen überwältigend. Hannelore Schlaffer kritisierte diese Technik der Überwältigung durch Bildung als ein Verfahren, das Widerspruch schwierig macht und zugleich den trügerischen Eindruck hinterlässt, an einem Bildungsgut Anteil zu haben, das den Leserinnen und Lesern ja doch nur stark vermittelt zur Verfügung steht. Verführt Blumenberg seine Rezipienten dazu, sich klüger und belesener zu fühlen als sie sind?" (S. 65f) -

Was erfährt man über die Philosophie Blumenbergs in diesem Abschnitt? -

Wir erfahren folgendes: Hans Blumenberg hat versucht, sich "interessant" zu machen. Zu diesem Zweck hat er eine "Strategie" verfolgt: er hat die Öffentlichkeit gemieden, ist nicht in "Fernsehdiskussionen" gegangen. Das hat er absichtlich gemacht ("bewusste Verknappung öffentlicher Auftritte"). - Blumenberg hat viel geschrieben und viel telephoniert. - Er war ein "philosophischer Schriftsteller". Das klingt "abwertend", ist aber "treffend". - Blumenberg gibt seinen Aufsätzen Titel, die sich "beliebig imaginieren" lassen. Solche Titel kann im Grunde jeder erfinden. Blumenbergs "Charakter des systematisch Produzierten, das seinen Schriften bisweilen anhaftet" ist nicht bei allen beliebt. Martin Seel mag das nicht. Und Hannelore Schlaffer mag das auch nicht. - Immerhin, Blumenberg war fleißig. -

Es folgt die Publikumsbeschimpfung: Die Leserinnen und Leser sind etwas dümmer als Blumenberg. Aber die Lektüre seiner Bücher vermittelt ihnen den "trügerischen (!) Eindruck, daß sie damit an einem "Bildungsgut" teilhaben, daß ihnen "ja doch nur stark vermittelt" zur Verfügung steht. - Das führt dazu, daß sie sich vermutlich "klüger und belesener fühlen als sie sind". Für den Rezipienten Heidenreich trifft das natürlich nicht zu. Er ist so klug und belesen wie er sich fühlt. - :D

Was ist das für ein seltsames "Geburtstags-Buch", Friederike?

Wer eine fundierte Kritik der Philosophie Blumenbergs lesen möchte, insbesondere der frühen Philosophie im Umkreis der Legitimität der Neuzeit und der Rezeption der mittelalterlichen Philosophie durch Blumenberg, hier insbesondere wiederum Cusanus und Ockham, dem sei die hier schon zitierte Arbeit von Kurt Flasch empfohlen, einem ausgewiesenen Spezialisten der Scholastik und der frühneuzeitlichen Philosophie. Kurt Flasch, der Blumenberg freundschaftlich verbunden war, hat die Schriften Blumenbergs einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Seine Kritik am "theologischen Absolutismus" und der These der "humanen Selbstbehauptung" basiert auf einer genauen Kenntnis der mittelalterlichen Autoren. - Heidenreichs "Essay" wird dagegen als "Geburtstags-Buch" weder Blumenberg noch seiner Philosophie gerecht. Es handelt sich um ein geschwätziges kleines Machwerk, diktiert vom Zeitgeist, dem Gelehrtes zu allen Zeiten verdächtig war. Für die Verdächtigungen und Haltlosigkeiten, die Heidenreich zusammengetragen hat, hält die deutsche Sprache ein abwertendes, aber im Fall Heidenreichs treffendes Wort bereit: Wichtigtuerei. -




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Nauplios
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Fr 12. Jun 2020, 13:23

Das ist mein persönlicher Favorit:

"Es ist eben kein Zufall, dass der Begriff der Arbeit bei Blumenberg eine zentrale Rolle spielt." (Felix Heidenreich) ;)




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Alethos
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Fr 12. Jun 2020, 13:41

Nicht selten wird versucht, eine inhaltliche Überforderung mit einer Kritik an der Methode, der Art und Weise, der "Tonlage" zu kaschieren. Ich gebe zu, dass mich Blumenberg überfordert, das könnte Heidenreich in zwei, drei Sätzen ebenso tun.



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Jörn Budesheim
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Fr 12. Jun 2020, 14:53

Franz Josef Wetz hat geschrieben : Das Ideal von Blumenbergs Existenz hat Theodor Fontane formuliert, mit dem er sich gleichfalls intensiv auseinandersetzte: »still sitzen, wenig Störung, schreiben, lesen und Kaffee trinken« (F, 20). Doch lastete auf Blumenberg ein ungeheurer Zeitdruck, der sich im Alter verstärkte: Er wollte möglichst viele Bücher schreiben, nachdem er durch den Nationalsozialismus wichtige Jahre verloren hatte. Um diesen Verlust wettzumachen, sollte die Lebenszeit optimal genutzt werden. Darum schottete er sich von seinen Lesern ab, denen er für gewöhnlich viel, manchmal zu viel zumutet. Blumenbergs gelehrte Werke bewegen sich hart an der Grenze des Erträglichen, die sie hin und wieder überschreiten.
Hans Blumenberg hat geschrieben : »Wann mag ein Urheber von Werken zufrieden sein mit dem Radius seiner Wirkung […]? Sind 50 Leser eines Buches eine kleine Gemeinde? […] Sind 5000 abgesetzte Exemplare Indiz für einen schönen Erfolg? […] 500 000 in 25 Sprachen dann ein Welterfolg? Ich stelle mir einen hübschen Tag der Megalomanie vor, an dem mir ein Telegramm ins Haus kommt, die Hälfe der Menschheit […] habe eins meiner Bücher erworben und, demoskopisch gesichert, auch gelesen – beziehungsweise sich vorlesen lassen! Unfehlbar wäre meine Reaktio




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Jörn Budesheim
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Fr 12. Jun 2020, 15:24

Wittgenstein als Hörbuch?!





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Nauplios
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Fr 12. Jun 2020, 15:59

Philosophie ist eine notorische Überforderung des Denkens. Oder anders formuliert: "Philosophie ist, worauf man beinahe von selbst gekommen wäre."

An die antike Tradition anknüpfend und ihren Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz: Philosophie ist eine Schule des Sehens.

Blumenbergs Philosophie - darin zeigt sich seine Beheimatung in der Phänomenologie - ist eine beschreibende. Sie beschreibt etwa, wie sich von der Antike über das Mittelalter bis hin zur Neuzeit der Wirklichkeitsbegriff verändert hat, welche Geschichten es waren, die diesen Begriff oder auch den Wahrheitsbegriff angeleitet haben (s. beispielsweise die Geschichte(n) von der nackten Wahrheit, die zu enthüllen oder zu verhüllen ist.) Mythen, Metaphern, Geschichten ... Insofern ist Blumenberg auch ein erzählender Philosoph. Seine Geschichten findet er in einem reichhaltigen unterirdischen Strom, einer "Nährlösung", einer vorprädikativen Schicht des Denkens, aus der sich die begrifflichen "Kristallisationen" bedienen.

Ihm geht es letztlich immer um die Funktion und kaum je um die Substanz. Ihn interessiert nicht, was Wahrheit und Wirklichkeit ist, sondern wie es kam, daß sich unterschiedliche Begriffe von Wahrheit und Wirklichkeit gebildet haben und welche Funktion sie dadurch erfüllten. -

Sein Blick geht aus diesem Grund in die feinen Verästelungen, in das Wurzelwerk des philosophischen Denkens, in den kaum ausgewiesenen Bilder- und Mythenvorrat der Philosophie. Daß er dabei Zusammenhänge, Hintergründe, Entwicklungen vor Augen bekommt und zutage fördert, die ungewöhnlich sind, weil sie die "natürliche Einstellung" (im phänomenologischen Sinne) irritieren und dem Denken "im Geradehin" fremd erscheinen ... all das ist Teil jener Überforderung, die man Blumenberg gern zuschreibt. Aber ist das nicht immer schon ein Charakeristikum der Philosophie, daß sie fordert (Stichwort: "Arbeit") und auch überfordert? - Der Leser der Werke Husserls oder Kants ist doch nicht besser dran. - Die Klage der Überforderung ist so alt wie die Philosophie. - Was Heidenreich jedoch macht, ist schlicht unlauter, weil er diese Überforderung des Lesers einer Absicht Blumenbergs anlastet. Heidenreich psychologisiert.




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Friederike
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Fr 12. Jun 2020, 16:42

Das Unvorstellbare ist eingetreten, muß vorstellbar sein :lol: - und ja, tatsächlich unironisch.
Danke fürs ausführliche Zitieren @Nauplios.




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Fr 12. Jun 2020, 17:09

Aber in einer von Bildern dominierten sozialen Wirklichkeit wirkt dieses Primat des Schriftlichen antiquiert. (F. Heidenreich).

Und ich kapier's einfach nicht. Diese Kritik trifft jedes philosophische Druckerzeugnis ... sie hat auch nichts mit der Zuordnung zum "philosophischen Schriftsteller" zu tun.




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Nauplios
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Fr 12. Jun 2020, 17:25

Apropos Bilder: im Essay von Heidenreich finden sich zwei Bilder. Das erste stellt Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix nach; dabei ist die Freiheit von Gelbwesten umgeben. Das zweite ist eine Photographie von J.F. Kennedy am Steuer einer Segelyacht. (Unterschrift: "Die inkarnierte Metapher - der demokratische Kapitän, entspannt und doch souverän.") An der Stelle geht es um die Metapher des Staatsschiffs und das Bild ist vermutlich eine Gehhilfe für die Bewohner der "von Bildern dominierten sozialen Wirklichkeit". ;)




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Jörn Budesheim
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Fr 12. Jun 2020, 18:48

Ich habe mich gerade im Museum Fridericianum zusammen mit meiner Frau mit einer Schriftstellerin und Dichterin aus Wien getroffen. Im nächsten Jahr wird ein Gedichtband von ihr erscheinen und sie wird ein oder zwei Hände voll Zeichnungen von mir dazu auswählen! Im Prinzip war es schon vor der Krise klar, aber heute wurde es noch mal besiegelt.

Ich bin glücklich :)




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Jörn Budesheim
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Die ganze Kritik der reinen Vernunft vorgelesen! Wow!




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Nauplios
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Sa 13. Jun 2020, 13:40

Alethos hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 12:51

Hier ist die Lust auf Blumenberg gross :)
Gelegentlich geht die Lust mit dem Schmerz ein Bündnis ein. Dann kommt der Balance zwischen dem Lustvollen und dem Schmerzhaften besondere Bedeutung zu. - Wie könnten wir, die Blumenberg-Leserinnen und -Leser, uns denn eine solche Balance vorstellen?

Es gäbe die Möglichkeit, einige Grundgedanken, die sich mit Blumenberg' schen Termini in lockere Verbindung bringen ließen, in eine Art "Blumenberg-Zettelkasten" zu organisieren. Das würde die Lektüre von Texten auf ein abgedimmtes Schmerzniveau minimieren und entspräche der Blumenberg' schen Arbeitsweise. Es würde außerdem ein "sprunghaftes" Diskursgeschehen begünstigen; thematische Bögen würden kürzer, Einwürfe leichterhin möglich, Schweigeperioden womöglich kürzer. ;)

Was ist davon zu halten?




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Alethos
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Sa 13. Jun 2020, 16:18

Nauplios hat geschrieben :
Sa 13. Jun 2020, 13:40
Alethos hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 12:51

Hier ist die Lust auf Blumenberg gross :)
Gelegentlich geht die Lust mit dem Schmerz ein Bündnis ein. Dann kommt der Balance zwischen dem Lustvollen und dem Schmerzhaften besondere Bedeutung zu. - Wie könnten wir, die Blumenberg-Leserinnen und -Leser, uns denn eine solche Balance vorstellen?

Es gäbe die Möglichkeit, einige Grundgedanken, die sich mit Blumenberg' schen Termini in lockere Verbindung bringen ließen, in eine Art "Blumenberg-Zettelkasten" zu organisieren. Das würde die Lektüre von Texten auf ein abgedimmtes Schmerzniveau minimieren und entspräche der Blumenberg' schen Arbeitsweise. Es würde außerdem ein "sprunghaftes" Diskursgeschehen begünstigen; thematische Bögen würden kürzer, Einwürfe leichterhin möglich, Schweigeperioden womöglich kürzer. ;)

Was ist davon zu halten?
So sehr ich deinen Vorschlag schätze und ihn auch als freundliche Geste deute, so sehr widerstrebt mir dieser Gedanke. Man kommt sich hier dann vor wie ein Patient, dem man die Portionen in mundgerechte Happen zerschneidet, damit er sich nicht verschluckt, der Arme. :)

Es mag nun ein wenig präpotent klingen und gar übermutig, aber ich würde vorschlagen, dass wir Blumenbergs Wirken begegnen mit dem Anspruch, den er an sich selbst hatte: Mit Fleiss und Sorgfalt und Zeit. In die komplexen Schichten philosophiegeschichtlicher Zusammenhänge vorzudringen bedarf der Zeit und des Rückzugs, ja, der Kontemplation. Man kann, meine ich, eine Philosophiegeschichte nie nur anekdotisch erzählen, sondern man muss in sie eintauchen und Teil von ihr werden, weil man es ohnehin ist. Und ich denke, man kann die Philosophie nicht besser würdigen, als wenn man sich an ihr daran macht zu verstehen, wie und warum sie dachte, was sie dachte und denkt, was sie denkt. Man muss sozusagen den ganzen Weg mitmachen, den sie ging, um zu verstehen, wo sie steht und es ist dies ein Weg, auf dem Freuden und Leiden auf den warten, der ihn beschreiten mag.

In diesem Sinne will ich mitmachen: Nicht von der Seitenlinie, nicht von einer Position des dürftigen Verstehens, sondern aus der vollen Blüte der Begeisterung, die Blumenberg wecken kann. Hierzu benötige ich Zeit und vielleicht sogar so viel Zeit wie ein monastisches Dasein nur bieten kann. Es möge mir diese Zeit geschenkt sein :)



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Sa 13. Jun 2020, 16:40

Ich lese gerade in den "Paradigmen" und werde versuchen den Thread, den wir einmal ganz beschwingt begonnen haben, wieder zu aktivieren. Es kann holprig werden - jeder Neustart ist in gewisser Weise eine Krisensituation :)



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Nauplios
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Sa 13. Jun 2020, 16:56

Alethos hat geschrieben :
Sa 13. Jun 2020, 16:18

In diesem Sinne will ich mitmachen: Nicht von der Seitenlinie, nicht von einer Position des dürftigen Verstehens, sondern aus der vollen Blüte der Begeisterung, die Blumenberg wecken kann. Hierzu benötige ich Zeit und vielleicht sogar so viel Zeit wie ein monastisches Dasein nur bieten kann. Es möge mir diese Zeit geschenkt sein :)
Auch wenn die Zeit in der Regel zum Unverfügbaren gehört, sei sie Dir natürlich geschenkt. Ungeregelt bleibt indes: Und was machen wir in der Zwischenzeit? ;)

Die Frage ist rein rhetorisch. -




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