Kaffeestübchen

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Jörn Budesheim
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Di 28. Mär 2023, 15:38

Burkart hat geschrieben :
Mo 27. Mär 2023, 22:56
Ich kann ja mal ketzerisch fragen
Das passt sehr gut ins Bild, ein typisches rechtes Narrativ. Zum entsprechenden Milieu gehört in der Regel, dass man sich selbst zum Helden macht, der mutig gegen Sprachverbote kämpft, sich dem Mainstream widersetzt, die Lügenpresse durchschaut und so weiter. Heute, so die Erzählung, darf man angeblich so vieles nicht mehr sagen. Dann steht man als heldenhafter Ketzer da, also als jemand, der in der Öffentlichkeit eine andere Meinung vertritt als die herrschende - oder vornehmer: sie "in Frage stellt". Das hat auch den "genialen" Nebeneffekt, dass man die anderen im gleichen Atemzug als Dogmatiker abstempelt, die nur dem Mainstream folgen oder von den Medien verblendet sind und nie etwas aus Überzeugung oder guten Gründen tun.




Timberlake
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Do 30. Mär 2023, 13:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 28. Mär 2023, 15:38
Burkart hat geschrieben :
Mo 27. Mär 2023, 22:56
Ich kann ja mal ketzerisch fragen
Das passt sehr gut ins Bild, ein typisches rechtes Narrativ. Zum entsprechenden Milieu gehört in der Regel, dass man sich selbst zum Helden macht, der mutig gegen Sprachverbote kämpft, sich dem Mainstream widersetzt, die Lügenpresse durchschaut und so weiter. Heute, so die Erzählung, darf man angeblich so vieles nicht mehr sagen. Dann steht man als heldenhafter Ketzer da, also als jemand, der in der Öffentlichkeit eine andere Meinung vertritt als die herrschende - oder vornehmer: sie "in Frage stellt". Das hat auch den "genialen" Nebeneffekt, dass man die anderen im gleichen Atemzug als Dogmatiker abstempelt, die nur dem Mainstream folgen oder von den Medien verblendet sind und nie etwas aus Überzeugung oder guten Gründen tun.





  • Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur...Die Heiterkeit, das gute Gewissen, die frohe Tat, das Vertrauen auf das Kommende – alles das hängt, bei dem einzelnen wie bei dem Volke, davon ab, daß es eine Linie gibt, die das Übersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet; davon, daß man ebenso gut zur rechten Zeit zu vergessen weiß, als man sich zur rechten Zeit erinnert; davon, daß man mit kräftigem Instinkte herausfühlt, wann es nötig ist, historisch, wann, unhistorisch zu empfinden. Dies gerade ist der Satz, zu dessen Betrachtung der Leser eingeladen ist: das Unhistorische und das Historische ist gleichermaßen für die Gesundheit eines einzelnen, eines Volkes und einer Kultur nötig.
    Nietzsche ... Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben




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Lucian Wing
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Fr 31. Mär 2023, 14:01

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 25. Mär 2023, 15:06
In einem Artikel auf dem Blog des Ex-Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt war eine trans Frau als Mann bezeichnet worden. Das Landgericht Frankfurt hat dies mit einer einstweiligen Verfügung untersagt. Für den Anwalt der Betroffenen hat die Entscheidung Signalwirkung.

https://www.hessenschau.de/panorama/lan ... n-100.html
Sehr gut!
Da mach ich doch mal zwei Anmerkungen unterschiedlicher Art:

1. In meiner liberal geprägten (und damit altmodischen) Welt darfst du diese Bemerkung ("sehr gut") machen, ohne dass ein Gericht darüber entscheiden müsste oder man dich in eine moralische Schmuddelecke zum Abwatschen stellen muss.

2. Jemand erzählte neulich, dass bei einem Angehörigen in der Firma (in den USA) einer arbeitet, der eine "fox-person" ist. Das Gericht müsste also nun jeden, der den als "Mensch" tituliert, wegen misgendering abstrafen. Denn wer sich als Fuchs identifiziert, ist ein Fuchs, kein Mensch. Auch wenn er auf zwei Beinen durch die Bürotür eintritt.

(Was wie eine Ente dahergewatschelt kommt und wie eine Ente quakt, ist noch lange keine Ente. Turing hat sich auch geirrt. Man könnte auch mit einem Fuchs gesprochen haben, ohne es zu merken.)



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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Fr 31. Mär 2023, 18:12

Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 31. Mär 2023, 14:01
In meiner liberal geprägten (und damit altmodischen) Welt
Auch "meine Welt" ist liberal geprägt. Darin sind wir uns einig. Da bin ich gerne altmodisch. Deshalb stehen Freiheit und Selbstbestimmung für mich an erster Stelle.

Aus dem Artikel: Im Verfahren wurde darauf hingewiesen, dass die negativen Auswirkungen von Misgendering auf die Betroffenen durch verschiedene Studien belegt seien. Julian Reichelt ist das vermutlich egal, schön, wenn die Gerichte das anders sehen.




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Jörn Budesheim
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Fr 31. Mär 2023, 19:14

Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat geschrieben : In einem Bericht für die Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission wird aufgezeigt, dass trans* Personen in Europa massiver Diskriminierung in Form von Drohungen, Ausgrenzungen, sozialem Ausschluss, Spott, Beleidigungen, sowie physischer und sonstiger Gewalt ausgesetzt sind. Dies betrifft alle Bereiche des täglichen Lebens, den Zugang zu Bildung und anderen Gütern und Dienstleistungen sowie das Arbeitsleben. Laut einer Studie der europäischen Grundrechteagentur FRA haben die Hälfte der Befragten (54 Prozent) angegeben, wegen ihres trans* Seins im Jahr vor der Umfrage diskriminiert worden zu sein. Ebenfalls rund die Hälfte der Befragten gab an, in diesem Zeitraum Gewalt wegen ihres trans* Seins erfahren zu haben. 44 Prozent erlebten mehr als zwei Mal Gewalt. Auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt und bei Karrierechancen werden trans* Personen benachteiligt. Sie sind deutlich häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen und erfahren Benachteiligungen im Beruf – z.B. Gehaltskürzungen nach erfolgter Geschlechtsangleichung oder Hindernisse beim beruflichen Aufstieg.


https://www.antidiskriminierungsstelle. ... -node.html




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Jörn Budesheim
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Fr 31. Mär 2023, 19:54



Der Biologe Frans de Waal wirft einen naturwissenschaftlichen Blick auf das Phänomen und erklärt, dass die Geschlechtervielfalt auch bei den anderen Privaten existiert. Ein Interview mit ihm habe ich bereits weiter oben veröffentlicht. Darin erklärt er auch, dass Affen in dieser Hinsicht sehr tolerant sind.




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Lucian Wing
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Fr 31. Mär 2023, 20:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 31. Mär 2023, 18:12
Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 31. Mär 2023, 14:01
In meiner liberal geprägten (und damit altmodischen) Welt
Auch "meine Welt" ist liberal geprägt. Darin sind wir uns einig. Da bin ich gerne altmodisch. Deshalb stehen Freiheit und Selbstbestimmung für mich an erster Stelle.

Aus dem Artikel: Im Verfahren wurde darauf hingewiesen, dass die negativen Auswirkungen von Misgendering auf die Betroffenen durch verschiedene Studien belegt seien. Julian Reichelt ist das vermutlich egal, schön, wenn die Gerichte das anders sehen.
Das Problem für mich ist doppelt: Ich könnte Herrn Reichelt nur so beurteilen, dass es justiziabel wäre.

Die andere Seite ist, dass zu meiner Ausbildung nicht obligatorisch, aber freiwillig auch Anatomie zählte. Man ist dort darauf angewiesen, dass Menschen ihren Körper nach ihrem Tod zur Verfügung stellen. Und ich glaube nicht, dass der mensch, um den es in dem Urteil ging, auf dem Tisch des Anatomen (oder auch des Pathologen) als Frau "aufschlagen" würde.

Frans de Waal hin oder her. Ich bin sicher, er sähe das nicht anders.



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Jörn Budesheim
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Fr 31. Mär 2023, 21:06

Wie Frans de Waal die Dinge sieht, kannst du in Ausschnitten dem Video und dem Interview entnehmen.




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Lucian Wing
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Fr 31. Mär 2023, 23:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 31. Mär 2023, 21:06
Wie Frans de Waal die Dinge sieht, kannst du in Ausschnitten dem Video und dem Interview entnehmen.
Ich glaube nicht, dass er darüber spricht, was ein Anatom oder ein Pathologe sehen würde in besagtem Fall.

Peter Gay hat episch über die Entdeckung des Ichs im 19. JH geschrieben. Die vielfältige "Geschlechtsidentität" ist ein etwas verspätetes Merkmal dieser halb aus der Aufklärung, halb aus der Romantik stammenden Entdeckungsgeschichte. Man könnte sie also abhaken, wenn ihre Durchsetzung nicht gegenaufklärerisch daherkäme. Mir fehlen Zeit und Lust, auch Herrn de Waal jetzt noch zuzuhören. Die Frage, so meine ich, wird auf dem Tisch in der Anatomie oder Pathologie entschieden. An der genannten "fox-person" wird dagegen deutlich, dass identitäre Fragen eigenartige Blüten treiben. Ich bin sicher, in 100 Jahren wird die Geschichte der Entdeckung des Ich noch weitaus mehr Blüten kennen, als wir uns heute vorstellen können. Ich bin mir ebenso sicher, dass Lehrbücher der Anatomie trotzdem noch im Wesentlichen denen entsprechen, die wir heute kennen. Außer die Biologie würde mit der Wissenschaftlichkeit arbeiten, wie wir sie aus der Homöopathie kennen.

Und bitte: Aus der Tatsache der Toleranz der Affen kann sich keine tatsächliche Vielfalt ergeben. Vielfältiges, im Sinne von abweichendem, Verhalten schafft keine materiellen Tatsachen. Die Wahrheit ist im Fußball, heißt es, auf dem Platz. Im Falle des Menschen auf dem Tisch des Anatomen/des Pathologen (was nicht immer, aber in diesem Fall aufs gleiche hinausläuft).

Ach, und falls ich es hier noch nicht erwähnt habe, was ich im Augenblick nicht so recht weiß. Ich suche immer noch die Antwort auf folgende Frage:

Damit ein Mensch sagen kann: Ich fühle mich nicht als A, sondern als B, müsste er genau angeben können, wie er sich fühlen müsste, um A und nicht B zu sein. Und er müsste angeben können, wie man sich als A UND als B fühlen müsste, wenn er weder A noch B sondern C sein möchte. Daher lautet die Frage: Wie müsste jemand sich fühlen, um A und/oder B zu sein?

Konnte mir noch nie jemand beantworten. Könnte de Waal das?



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Lucian Wing
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Sa 1. Apr 2023, 00:07

In einem Bericht für die Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission wird aufgezeigt, dass trans* Personen in Europa massiver Diskriminierung in Form von Drohungen, Ausgrenzungen, sozialem Ausschluss, Spott, Beleidigungen, sowie physischer und sonstiger Gewalt ausgesetzt sind. Dies betrifft alle Bereiche des täglichen Lebens, den Zugang zu Bildung und anderen Gütern und Dienstleistungen sowie das Arbeitsleben. Laut einer Studie der europäischen Grundrechteagentur FRA haben die Hälfte der Befragten (54 Prozent) angegeben, wegen ihres trans* Seins im Jahr vor der Umfrage diskriminiert worden zu sein. Ebenfalls rund die Hälfte der Befragten gab an, in diesem Zeitraum Gewalt wegen ihres trans* Seins erfahren zu haben. 44 Prozent erlebten mehr als zwei Mal Gewalt. Auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt und bei Karrierechancen werden trans* Personen benachteiligt. Sie sind deutlich häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen und erfahren Benachteiligungen im Beruf – z.B. Gehaltskürzungen nach erfolgter Geschlechtsangleichung oder Hindernisse beim beruflichen Aufstieg.
Ich glaube, das entspricht vermutlich auch dem, was diejenigen, die der völlig unterprivilegierten Schicht angehören, wenn diese sich besser artikulieren könnte oder eine Lobby hätte, zu Protokoll geben würde.

Aber noch einmal ganz ernsthaft wie auch in Sachen Toleranz bei Affen und was daraus folgt: Das macht weder ein individuelles Gefühl wahr noch könnte es den Pathologen am Seziertisch veranlassen, etwas anderes zu sagen, als das, was er feststellen kann.

Und noch unpolemisch mangels Kenntnis gefragt: Was bedeutet das * bei trans*Person?



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Lucian Wing
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Sa 1. Apr 2023, 00:48

Und ein letztes Schmankerl zu de Waal, von dem ich nie etwas gelesen habe, aber mir fiel wieder ein, wo der mir mal begegnet ist, nämlich in Ernst Peter Fischers "Der kleine Darwin". Da wird de Waal zitiert mit " Kindsmord gilt als Schlüssel der sozialen Evolution, da dabei Männchen gegen Männchen und Männchen gegen Weibchen stehen." Letztere haben dabei nix zu gewinnen, daher liegt es in ihrem Interesse, dafür zu sorgen, dass die Vaterschaft unklar bleibt. Deshalb nehmen Bonobo-Weibchen alle Angebote der interessierten Männchen ihrer Gruppe an. Bei den Schimpansen ist das dagegen nicht anders, und deshalb ist Kindstötung dort an der Tagesordnung.

So viel dann zur Toleranz unser nächsten Verwandten. :lol:



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Jörn Budesheim
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Sa 1. Apr 2023, 07:40

Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 31. Mär 2023, 23:33
Könnte de Waal das?
Ja, und das funktioniert bei Trans-Personen auf die gleiche Art und Weise wie bei Cis-Personen.
Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 31. Mär 2023, 20:46
Ich bin sicher, er sähe das nicht anders
Um zu sehen, dass das nicht stimmt, musst du dir nicht mal das ganze Video anschauen, dazu reicht es, den Titel zur Kenntnis zu nehmen.




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Sa 1. Apr 2023, 08:08

Gestern war übrigens #transdayofvisibility!

Ich bin auf Instagram mit einem Transpfarrer vernetzt: gestern hat er anlässlich von #transdayofvisibility ein bisschen über seine Erfahrungen, sein Leben erzählt, sehr lesenswert, wie ich finde.

https://www.instagram.com/p/CqciaSHN5tB ... MyMTA2M2Y=




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Jörn Budesheim
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Sa 1. Apr 2023, 08:38

Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 1. Apr 2023, 00:48
So viel dann zur Toleranz unser nächsten Verwandten.
Es ging nicht um Toleranz schlechthin, sondern um Toleranz gegenüber Transgender.




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Sa 1. Apr 2023, 08:47

Gestern war wie gesagt #transdayofvisibility! Ich bin dem Hashtag ein wenig gefolgt und finde, dass das folgende Statement von @bitch_magnus es auf den Punkt bringt:

My existence is not up for debate.




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Lucian Wing
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Sa 1. Apr 2023, 09:53

Also abschließend: Ich glaube nicht, dass Toleranz eine biologische Tatsache zunichte machen kann.

Ich sehe das Ganze als das Programm der romantischen Selbstvervollkommnung durch Selbstbeschreibung im Sinne Richard Rortys, für den diese Fähigkeit zur Erfindung neuer Vokabulare und nicht irgendeine "Wahrheit" ausschlaggebend ist. Im Rahmen dieser romantischen Selbstfindungen werden noch unzählige weitere romantische Ich-Differenzierungen auftauchen, wie man an dem Beispiel der fox-person schon aufleuchten sieht. Ein abschließendes Vokabular für alles und jeden, sagt Rorty, kann es nicht geben. Also auch keines, dass die Möglichkeiten eines "Ichs" begrenzen könnte.

Der Preis ist allerdings, den Wahrheitsbegriff aufgeben zu müssen.



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Sa 1. Apr 2023, 10:50

Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 1. Apr 2023, 09:53
Ich glaube nicht, dass Toleranz eine biologische Tatsache zunichte machen kann.
Ich glaube nicht, dass Intoleranz eine biologische Tatsache zunichte machen kann. Der spannende Ansatz des Biologen Frans de Waal (für den er natürlich auch kritisiert wurde) ist es schließlich, zu zeigen, dass wir es hier (auch) mit biologischen Tatsachen zu tun haben. Besonders interessant finde ich, dass Trans- und Cis-Personen im Wesentlichen die gleichen zeitlichen Entwicklungsschritte und -muster durchlaufen.




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Jörn Budesheim
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Sa 1. Apr 2023, 11:24

Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 1. Apr 2023, 09:53
Ich sehe das Ganze als das Programm der romantischen Selbstvervollkommnung durch Selbstbeschreibung im Sinne Richard Rortys ...
Ich glaube nicht, dass es viel damit zu tun hat, aber es ist schon ziemlich lange her, dass ich Rorty gelesen habe. Dass ich mich als Mann fühle, ist ja nichts, was ich mir ausgesucht habe, es ist mir sozusagen "passiert", so wie es Transmenschen passiert. Es ist ja bei allen gleich, irgendwann in einer sehr frühen Entwicklungsphase identifiziert man sich mit einem Geschlecht. Cis- oder Transperson zu sein ist kein Lebensentwurf, man ist es einfach! Erst aufgrund bzw. "nach" dieser Tatsache kann dann Rorty ins Spiel kommen und dann gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese Tatsache zu leben.

Freiheit spielt hier gewissermaßen auf zwei Ebenen eine Rolle, die erste Freiheit ist, dass die Gesellschaft einem die Möglichkeit gibt, seine Cis- oder Transidentität zu zeigen und zu leben. Und die andere Freiheit, die Freiheit der Selbstbestimmung, besteht darin, dieser Tatsache eine individuelle Form zu geben. Wenn man so will: so bin ich eben und das möchte ich daraus machen.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 1. Apr 2023, 11:24
zwei Ebenen
Das ist zu wenig. Ich denke, wir brauchen mindestens drei oder vier Ebenen, wahrscheinlich viel mehr. Die erste Ebene ist, dass ich mich einfach mit einem bestimmten Geschlecht identifiziere, in meinem Fall Junge/Mann, das ist mir passiert, das habe ich mir nicht ausgesucht. Die zweite Ebene ist, welche Rollenbilder/Vorbilder eine Gesellschaft dafür anbietet, wenn sie überhaupt welche anbietet. Und die dritte Ebene ist, was ich selbst daraus mache, inwieweit ich mich diesen Rollenbildern anschließe, mich davon abgrenze oder mich quer dazu stelle. Und diese individuelle Interpretation der Rolle (hier könnte man Rorty einbauen) kann natürlich bis zu einem gewissen Grad auf die Gesellschaft und die angebotenen Rollenbilder zurückwirken.

Man findet sehr früh seine eigene Identität und ich stelle es mir schrecklich vor, wenn man dann irgendwann merkt, dass man dafür aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird ...




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Lucian Wing
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Sa 1. Apr 2023, 12:04

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 1. Apr 2023, 11:24
Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 1. Apr 2023, 09:53
Ich sehe das Ganze als das Programm der romantischen Selbstvervollkommnung durch Selbstbeschreibung im Sinne Richard Rortys ...
Ich glaube nicht, dass es viel damit zu tun hat, aber es ist schon ziemlich lange her, dass ich Rorty gelesen habe. Dass ich mich als Mann fühle, ist ja nichts, was ich mir ausgesucht habe, es ist mir sozusagen "passiert", so wie es Transmenschen passiert. Es ist ja bei allen gleich, irgendwann in einer sehr frühen Entwicklungsphase identifiziert man sich mit einem Geschlecht. Cis- oder Transperson zu sein ist kein Lebensentwurf, man ist es einfach! Erst aufgrund bzw. "nach" dieser Tatsache kann dann Rorty ins Spiel kommen und dann gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese Tatsache zu leben.

Freiheit spielt hier gewissermaßen auf zwei Ebenen eine Rolle, die erste Freiheit ist, dass die Gesellschaft einem die Möglichkeit gibt, seine Cis- oder Transidentität zu zeigen und zu leben. Und die andere Freiheit, die Freiheit der Selbstbestimmung, besteht darin, dieser Tatsache eine individuelle Form zu geben. Wenn man so will: so bin ich eben und das möchte ich daraus machen.
Genau eines glaube ich nicht, und dem verdankt sich auch meine Frage zum Sich-Fühlen-Als: Um mich als Mann zu fühlen, müsste ich wissen, wie man sich als Mann zu fühlen hat. Ich bestreite einfach die Möglichkeit, dass es ein Sich-Als-Mann-Fühlen gibt. Ich bin ein Mensch, biologisch männlichen Geschlechts, und es fühlt sich irgendwie an, der Mensch zu sein, der ich bin. Das scheint mir allen gemeinsam. Aber wenn ich nun sagen sollte, dass ich mich als Mann fühle (also nicht als Frau oder gar weder noch), müsste ich in der Lage sein, das jeweilige Sich-Fühlen-Als abgrenzen zu können gegeneinander, um der Aussage: ich fühle mich als x (und nicht als y) einen Sinn zu verleihen, den Satz wahrzumachen.

Was de Waal macht, ist dabei zwiespältig und Ausdruck davon, wie man versucht, mit Wissenschaft Dinge zu begründen, die eigentlich rein moralischer Art sind. Martin Heidegger hat nicht wie ein Schimpanse das ihm von seiner Frau Elfriede untergeschobene Kind getötet, und genau das, so meine ich, könnte man jedoch unter Rekurs auf die Tierwelt auch begründen - in beide Richtungen. Nur würde eine in diesem Falle eben dem, was man moralisch anstrebt, Toleranz üben, zuwiderlaufen. Obwohl ich natürlich eine Ideologie, die das Töten unterschobener Kinder verlangt, so begründen könnte wie de Waal das in diesem Falle hält. Dass die Affen die Rollenabweichung akzeptieren, ist sicher nicht das Ergebnis moralischer Überlegungen und einer Ethik der Toleranz. Diesen Unterschied zwischen Affe und Mensch sollte man m.E. lieber nicht verwischen.



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Lucian Wing hat geschrieben :
Sa 1. Apr 2023, 12:04
Genau eines glaube ich nicht, und dem verdankt sich auch meine Frage zum Sich-Fühlen-Als: Um mich als Mann zu fühlen, müsste ich wissen, wie man sich als Mann zu fühlen hat. Ich bestreite einfach die Möglichkeit, dass es ein Sich-Als-Mann-Fühlen gibt. Ich bin ein Mensch, biologisch männlichen Geschlechts, und es fühlt sich irgendwie an, der Mensch zu sein, der ich bin.
Du sagst das so beiläufig als hätte es keine Bedeutung, aber das ist falsch. Aus dem Umstand, dass Du biologisch männlich bist ergibt sich ja was.
Genau wie sich Etwas daraus ergibt biologisch weiblich zu sein. Das ist keine "Nebensache" sondern hat massiven Einfluß darauf wie (als was) Du Dich fühlst. Und wie Du Dich verhälst.
Ein einfaches Beispiel ist der Umstand, dass Menschen mit biologisch weiblichem Geschlecht schwanger werden können. Für diese Meschen steht daraus folgend viel mehr auf dem Spiel.
Und das schlägt sich natürlich im Verhalten und Empfinden nieder.

Männer und Frauen "haben sich nicht irgendwie zu fühlen", das sicher nicht. Aber sie fühlen sich teilweise unterschiedlich. Soviel steht mal fest.
Das ist nicht gewollt. Das ergibt sich einfach. Und ich denke das ist Vielen auch gar nicht klar, weil man so selbstverständlich ist wer man ist.
Es wird erst klar wenn man sich die Unterschiede bewusst macht.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Sa 1. Apr 2023, 12:41, insgesamt 4-mal geändert.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

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