Kaffeestübchen

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Lucian Wing
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Mi 8. Mär 2023, 09:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 09:16
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 09:03
Die Erinnerung ist ein aus diesem Wissen generiertes soziales Konstrukt, also ein um Deutung und Bedeutung aufgeladenes Ereigniswissen, in Beziehung gesetzt zu bestimmten Interessen des Hier und Jetzt.
Das mag so sein oder auch nicht, aber es stützt nicht die These, dass jemand entscheidet, wie erinnert wird.
Natürlich entscheidet jemand. Denkmäler sind Entscheidungen, die Inschrift zum Denkmal von 9/11 ist auch eine Erinnerungsentscheidung. Der Text bestimmt, wie erinnert werden soll. Die Darstellung in den Geschichtsbüchern legt fest, wie erinnert werden soll. Soziale Konstrukte entstehen doch nicht in einem Vakuum, sondern werden von Interessensgruppen entworfen und durchgesetzt. Warum heißt es denn: Der Sieger schreibt die Geschichte? Da geht es doch auch darum, das kollektive Gedächtnis mit der eigenen Sicht der Dinge zu steuern.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Lucian Wing
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Mi 8. Mär 2023, 09:39

Santayana: Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben
Alternativ: Wer die Geschichte immer erinnert, ist verurteilt, alle Schlachten fortwährend zu schlagen.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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Mi 8. Mär 2023, 10:08

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 09:37
Denkmäler sind Entscheidungen, die Inschrift zum Denkmal von 9/11 ist auch eine Erinnerungsentscheidung. Der Text bestimmt, wie erinnert werden soll. Die Darstellung in den Geschichtsbüchern legt fest, wie erinnert werden soll. Soziale Konstrukte entstehen doch nicht in einem Vakuum, sondern werden von Interessensgruppen entworfen und durchgesetzt.
Ja, natürlich spielen Entscheidungen eine Rolle. Aber das stützt immer noch nicht die These, dass generell jemand entscheidet. Denn das liest sich ja so, als ob das ganz im Allgemeinen einfach von einer Person festgelegt wird. Vielmehr dürfte es sich um komplexe Prozesse handeln, bei denen viele verschiedene Prozesse, Abstimmungen und Kontroversen und anderes mehr eine Rolle spielen.




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Jörn Budesheim
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Mi 8. Mär 2023, 10:17

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 09:39
Santayana: Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben
Alternativ: Wer die Geschichte immer erinnert, ist verurteilt, alle Schlachten fortwährend zu schlagen.
Alternativer: Wer sich die Geschichte immer wieder ins Gedächtnis ruft, ist nicht dazu verdammt, ständig alle Schlachten zu schlagen, sondern kann aus ihr auch lernen, Frieden zu schließen.




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Lucian Wing
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Mi 8. Mär 2023, 10:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 10:08
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 09:37
Denkmäler sind Entscheidungen, die Inschrift zum Denkmal von 9/11 ist auch eine Erinnerungsentscheidung. Der Text bestimmt, wie erinnert werden soll. Die Darstellung in den Geschichtsbüchern legt fest, wie erinnert werden soll. Soziale Konstrukte entstehen doch nicht in einem Vakuum, sondern werden von Interessensgruppen entworfen und durchgesetzt.
Ja, natürlich spielen Entscheidungen eine Rolle. Aber das stützt immer noch nicht die These, dass generell jemand entscheidet. Denn das liest sich ja so, als ob das ganz im Allgemeinen einfach von einer Person festgelegt wird. Vielmehr dürfte es sich um komplexe Prozesse handeln, bei denen viele verschiedene Prozesse, Abstimmungen und Kontroversen und anderes mehr eine Rolle spielen.
Es blitzt auch niemand, und trotzdem blitzt es. Jedenfalls erinnert sich niemand an etwas, dessen Zeuge er nicht war, sondern er wird erinnern gemacht. Der "Jemand", der über ein Denkmal und/oder dessen Inschrift entscheidet, ist benennbar. Ebenso diejenigen, die ein Museum bestücken. Das kollektive Gedächtnis gibt es nicht, es wird bestückt, und dahinter stehen Interessen. Gerade der ganze Nationalismus ist ein einziges Erinnerungs- und Interessenprojekt.



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Lucian Wing
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Mi 8. Mär 2023, 10:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 10:17
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 09:39
Santayana: Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben
Alternativ: Wer die Geschichte immer erinnert, ist verurteilt, alle Schlachten fortwährend zu schlagen.
Alternativer: Wer sich die Geschichte immer wieder ins Gedächtnis ruft, ist nicht dazu verdammt, ständig alle Schlachten zu schlagen, sondern kann aus ihr auch lernen, Frieden zu schließen.
Sollte man meinen. In Fritz Breithaupts Buch über die Empathie gibt es folgendes Beispiel dazu:

In einem Großversuch aus Nordirland, gestalteten die Schulbehörden den Lehrplan für bestimmte Altersstufen so, dass man protestantischen Schülern im Unterricht katholische Geschichtsschreibung unterrichtete und sie dazu prüfte, den katholischen Schülern dementsprechend protestantische Geschichtsschreibung unter den gleichen Bedingungen. Heraus kam dann
dass diese neue Generation von Schülern weiterhin stark polarisiert war und weit davon entfernt, den Konflikt beizulegen. Tatsächlich wurde die »Identifikation der Schüler mit der historischen Perspektive ihrer Gemeinschaft stärker … «
Gelernt hatten die Schüler zwar, dass alle Dinge sich aus zwei Perspektiven betrachten lassen, das jedoch vertiefte die Kluft, da jede Seite am Ende nur um so besser wusste, weshalb die eigene Sache vorzuziehen war und alle Empathie und Loyalität verdiente.



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Mi 8. Mär 2023, 10:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 10:17
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 09:39
Santayana: Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben
Alternativ: Wer die Geschichte immer erinnert, ist verurteilt, alle Schlachten fortwährend zu schlagen.
Alternativer: Wer sich die Geschichte immer wieder ins Gedächtnis ruft, ist nicht dazu verdammt, ständig alle Schlachten zu schlagen, sondern kann aus ihr auch lernen, Frieden zu schließen.
Eben. Daraus, dass kollektive Erinnerung ein soziales Konstrukt ist folgt nicht zwingend, dass dieses Konstrukt "falsch" ist oder dass es falsch wäre zu erinnern.
Übrigens bestehen manche "Klüfte" auch zu Recht.
Von bestimmten Handlungen in der Vergangenheit distanzieren wir uns heute aus gutem Grund und nicht etwa beliebig.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

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Jörn Budesheim
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Mi 8. Mär 2023, 11:42

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 10:29
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 10:17
Alternativer: Wer sich die Geschichte immer wieder ins Gedächtnis ruft, ist nicht dazu verdammt, ständig alle Schlachten zu schlagen, sondern kann aus ihr auch lernen, Frieden zu schließen.
... Gelernt hatten die Schüler zwar, dass alle Dinge sich aus zwei Perspektiven betrachten lassen, das jedoch vertiefte die Kluft, da jede Seite am Ende nur um so besser wusste, weshalb die eigene Sache vorzuziehen war und alle Empathie und Loyalität verdiente.
Das spricht allerdings nicht gegen das, was ich schreibe: Wer sich die Geschichte immer wieder ins Gedächtnis ruft, ist nicht dazu verdammt, ständig alle Schlachten zu schlagen, sondern kann aus ihr auch lernen, Frieden zu schließen. Ich spreche ja von keinem Automatismus.




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Jörn Budesheim
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Mi 8. Mär 2023, 11:58

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 10:24
Der "Jemand", der über ein Denkmal und/oder dessen Inschrift entscheidet, ist benennbar.
Aber das ist einfach nur eine Behauptung. Kann ja sein, dass das manchmal so ist, aber warum sollte es immer so sein, das scheint mir ziemlich offensichtlich falsch. Der Kurfürst mag sein Denkmal noch einfach gesetzt haben, aber heute wird über so etwas oft kontrovers diskutiert. Das wird nicht einfach von jemandem bestimmt.




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Lucian Wing
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Mi 8. Mär 2023, 12:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 11:58
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 10:24
Der "Jemand", der über ein Denkmal und/oder dessen Inschrift entscheidet, ist benennbar.
Aber das ist einfach nur eine Behauptung. Kann ja sein, dass das manchmal so ist, aber warum sollte es immer so sein, das scheint mir ziemlich offensichtlich falsch. Der Kurfürst mag sein Denkmal noch einfach gesetzt haben, aber heute wird über so etwas oft kontrovers diskutiert. Das wird nicht einfach von jemandem bestimmt.
Nein, es ist immer so. Was wie erinnerungswürdig sein soll, das wird irgendwo von irgendwelchen Vertretern der Bürokratie, des Volkes, der Medien entschieden. Das sog. "kollektive Gedächtnis" ist kein natürlicher Prozess, sondern ein geschichtengesteuerter. Kein Mensch hat sich mehr an irgendwelche Germanen erinnert*, bevor nicht Nationalisten ihren Germaneneintopf aufgetischt haben. Das kollektive Gedächtnis ist mitunter sehr toxisch, um nicht zu sagen: überwiegend.

Und noch einmal: Erinnerung ≠ Wissen. Zu erkennen, was war und warum es war, ist für deine Definition des Lernens aus Geschichte notwendig und hinreichend. Sich zu erinnern ist nicht hinreichend und nicht notwendig. Wissen und Verstehen sind wichtiger.

Einer der Pointen im Buch ist, dass die Erinnerungskultur immer mehr zunimmt, gleichzeitig aber das belastbare Wissen über Politik und Geschichte immer stärker abnimmt.



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Jörn Budesheim
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Mi 8. Mär 2023, 12:42

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 12:37
Nein, es ist immer so.
Diese Diagnose ist mir viel zu einseitig und vor allem viel zu unterkomplex. Gerade jetzt wird in vielen Bereichen diskutiert, wie wir mit unseren Denkmälern umgehen.




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Lucian Wing
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Mi 8. Mär 2023, 13:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 12:42
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 12:37
Nein, es ist immer so.
Mir ist diese Diagnose viel zu einseitig und vor allem entschieden zu unterkomplex.
Mir ist dieses Festbeißen an einem einzigen Gedanken zu unterkomplex. Reiff hat ein Buch geschrieben über Sinn und Unsinn des Erinnerns und anhand von Beispielen gezeigt, wozu Erinnern in bestimmten Fällen führt. Er hat das ja im Interview auch ein wenig ausgeführt. Du dagegen beißt dich jetzt fest an der Frage, kannst aber umgekehrt nicht zeigen, dass das kollektive Gedächtnis irgendwie "natürlicher" Art ist.

Aber ich hab weder Zeit noch Lust, in ein Buch einzusteigen, das keiner gelesen hat. Es war ja eher ein Scherz in Bezug auf das große Forenschisma und die Vorteile, die Vergessen haben könnte.

Apropos Vergessen: So, wie Erinnern gerne konstruktivistisch implantiert werden soll, gibt es natürlich auch diejenigen, die statt "Erinnert Euch!" "Vergesst!" sagen. Auch die kann man benennen.

In diesem Sinne vergesse ich jetzt die Diskussion hier wieder und verlass das Kaffeestübchen.



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Mi 8. Mär 2023, 13:18

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 13:02
... kannst aber umgekehrt nicht zeigen, dass das kollektive Gedächtnis irgendwie "natürlicher" Art
Warum sollte ich das zeigen? Das glaube ich ja gar nicht. Aber ich bezweifle, dass generell jemand entscheidet, wie und woran wir uns erinnern. Ich weiß nicht, ob das die These des Autors ist. Aber du vertrittst das hier. Und das kaufe ich nicht.




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Jörn Budesheim
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Mi 8. Mär 2023, 18:38

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 7. Mär 2023, 22:25
Dort wiederum gibt es dann die Frage, wer entscheidet, wie erinnert wird.
David Rieff hat geschrieben : Das kollektive Gedächtnis hingegen wird durch Bildung, durch die Medien, durch Kultur geschaffen.
Dem würde ich schon eher zustimmen. Es gibt in dieser Aufzählung niemand, der entscheidet. Wieder eine Person, noch eine einzelne Instanz, die benannt werden könnte. Schließlich sind Bildung, Medien und Kultur auch keine homogenen Phänomene. Das Ganze ist ein komplexer Prozess, der von Fall zu Fall verschieden laufen wird.

Aber man muss auch in die Waagschale werfen, was erinnert wird. Das spielt sicher eine große Rolle. Etwas, was überhaupt nicht erinnerungswürdig ist, wird auch durch Bildung, Medien und Kultur nicht generell ins kollektive Gedächtnis gehoben werden können.




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Jörn Budesheim
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Do 9. Mär 2023, 07:27

Seit vielen, vielen Jahren bin ich immer wieder begeistert von unserem Staatstheater in Kassel. Aber gestern bin ich zum zweiten Mal in kurzer Zeit aus einem Stück rausgegangen, was ich in all den Jahren noch nie gemacht habe. Aber der gestrige Abend war wirklich grausam, ich habe es eine dreiviertel bis eine Stunde "ausgehalten", aber dann wollte ich nicht mehr.

Hier eine Kritik, die noch sehr vorsichtig ist, aber vielleicht einen Eindruck vermittelt:

"Eisenachs Anliegen, das Grundthema der "Antigone", den Mut zum zivilen Ungehorsam, mit der Gegenwart zu verschränken, scheint sinnvoll und wichtig. Der aufwändig recherchierte Abend – eine beachtliche Kooperation von fünf Institutionen, unter anderem das Theater des Anthropozäns, Scientists for Future Kassel, Kunsthochschule Kassel – ist das Ergebnis einer ambitionierten Verquickung von Theatertext und Wissenschaft. Doch er ist (vielleicht gerade deshalb) nicht mehr als aufklärerisches, recht schmalspuriges Patchwork." (Nachtkritik.de)




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Lucian Wing
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Do 9. Mär 2023, 10:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 8. Mär 2023, 18:38
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 7. Mär 2023, 22:25
Dort wiederum gibt es dann die Frage, wer entscheidet, wie erinnert wird.
David Rieff hat geschrieben : Das kollektive Gedächtnis hingegen wird durch Bildung, durch die Medien, durch Kultur geschaffen.
Dem würde ich schon eher zustimmen. Es gibt in dieser Aufzählung niemand, der entscheidet. Wieder eine Person, noch eine einzelne Instanz, die benannt werden könnte. Schließlich sind Bildung, Medien und Kultur auch keine homogenen Phänomene. Das Ganze ist ein komplexer Prozess, der von Fall zu Fall verschieden laufen wird.

Aber man muss auch in die Waagschale werfen, was erinnert wird. Das spielt sicher eine große Rolle. Etwas, was überhaupt nicht erinnerungswürdig ist, wird auch durch Bildung, Medien und Kultur nicht generell ins kollektive Gedächtnis gehoben werden können.
Bildung, Medien, Kultur sind keine Naturphänomene wie Regen oder Blitze. Keiner sagt: es bildet, es medienisisert, es kulturiert. Sondern, wie Rieff am Beispiel des Umgangs mit der "richtigen" Erinnerung an Jeanne d'Arc zeigt, es stehen Interessengruppen dahinter. Wie bei allen meist politischen oder politisierten Erinnerungsthemen. Hinter der Bildung stecken Parteien, Kirchen, Bürokratien, Ideologen, Lobbyisten und wie immer man die Gruppen oder Menschen titulieren mag, die über Inhalte entscheiden. Was von außen als Prozess erscheint, ist von innen her die Interessensentscheidung von Menschen. Ein Denkmal von General Lee wird nicht abgebaut oder aufgestellt von den Medien oder der Kultur oder der Bildung, sondern von Interessensgruppen.

Ob man erinnern gemacht werden kann? "Erinnerungswürdig" ist eine Leerformel, die gefüllt werden muss. Im Zeitalter des Bullshittens und der ganzen Empörungsschleudern wie Twitter, Facebook, Instagram und wie sie heißen, würde ich nicht auf die Verneinung wetten. Ein Ereignis ist rasch mal eingebettet in eine Theorie und geht viral. Und plötzlich "erinnern" sich ganz viele.



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Lucian Wing hat geschrieben :
Do 9. Mär 2023, 10:43
Bildung, Medien, Kultur sind keine Naturphänomene wie Regen oder Blitze.
Natürlich nicht. Das behaupte ich auch nicht. Ich behaupte, dass im Gegensatz zu dem, was du sagst, niemand entscheidet, was und wie erinnert wird. Vielmehr gehe ich mit David Rieff davon aus, dass das kollektive Gedächtnis durch Erziehung/Bildung, Medien und Kultur geprägt wird. Natürlich spielen dabei auch Interessen eine Rolle. Aber ich glaube nicht, dass man solche Prozesse einfach steuern kann. Das suggeriert aber deine Formulierung. Und dagegen wende ich mich im Wesentlichen.

Ich behaupte auch, dass die Ereignisse selbst in der Regel wichtig sind. Man kann nicht alles ins kulturelle Gedächtnis heben.




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Lucian Wing
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Do 9. Mär 2023, 12:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 9. Mär 2023, 12:16
Lucian Wing hat geschrieben :
Do 9. Mär 2023, 10:43
Bildung, Medien, Kultur sind keine Naturphänomene wie Regen oder Blitze.
Natürlich nicht. Das behaupte ich auch nicht. Ich behaupte, dass im Gegensatz zu dem, was du sagst, niemand entscheidet, was und wie erinnert wird. Vielmehr gehe ich mit David Rieff davon aus, dass das kollektive Gedächtnis durch Erziehung, Medien und Kultur geprägt wird. Natürlich spielen dabei auch Interessen eine Rolle. Aber ich glaube nicht, dass man solche Prozesse einfach steuern kann. Das suggeriert aber deine Formulierung. Und dagegen wende ich mich im Wesentlichen.

Ich behaupte auch, dass die Ereignisse selbst in der Regel wichtig sind. Man kann nicht alles ins kulturelle Gedächtnis heben.
Naja, ich sage ja nicht, dass sich jemand trifft und sagt: jetzt lassen wir mal die Leute x oder y erinnern - das ist ja die Vorgehensweise von Verschwörungstheoretikern. Darum geht es mir nicht, wenn ich von Interessengruppen rede. Was ich meine ist zum Beispiel etwas wie Idyllisierung von Erinnerungen, in solchen Dingen liegt die Arbeit, im Versuch, das, was an Rohmaterial da ist, ideologisch zu formen. Die alte Formel für Trauerarbeit - Erinnern/Wiederholen/Durcharbeiten - klingt vernünftig, aber das verkennt eine wesentliche Eigenschaft individuellen und kollektiven Erinnerns, nämlich die Gebundenheit der sozialen Konstrukte an den jeweiligen Zeitgeist. Was als x erinnert wird im Jahr a, kann als y erinnert werden im Jahr b. Das kommt ja noch hinzu zur Frage, ob es nicht manchmal besser wäre, man vergäße einfach einmal und striche etwas aus dem kollektiven Gedächtnis, weil es nur Unfrieden stiftet. Siehe die Frage um die Krim und die Ukraine aus russischer Sicht.

Walsers Roman "Ein springender Brunnen" hat sich auch mal mit der Thematik befasst, die hier hinein spielt. Der Roman fängt so an:
Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Als das war, von dem wir jetzt sagen, daß es gewesen sei, haben wir nicht gewußt, daß es ist. Jetzt sagen wir, daß es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wußten, was wir jetzt sagen.
Das ist der Punkt, wo eben Erinnerungen "gemacht" werden.



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Do 9. Mär 2023, 13:45

Das ist interessant, weil ich die Passage von Walser ganz anders lese. Ich lese sie so: Die Vergangenheit drängt sich auf, als wäre sie so gewesen, wie sie sich aufdrängt. Das heißt für mich, dass die fragliche Erinnerung eben gerade nicht gemacht ist. Vielmehr drängt sich uns etwas auf, so wie sich uns bei Wahrnehmungen eigentlich immer etwas aufdrängt, nämlich bestimmte Aspekte und Konstellationen der Szenerie. Auch wenn wir oft nur die Aspekte wahrnehmen, die uns wichtig sind, heißt das nicht, dass es diese Aspekte und Konstellationen grundsätzlich "gar nicht gibt" und dass wir sie generell einfach machen (konstruieren). Dieser Abschnitt von Walser versucht, so wie ich ihn verstehe, die komplexe Phänomenologie des Erinnerns zu rekonstruieren. Der aktive Moment des "sich Aufdrängens" fängt dabei die aktive Rolle der Vergangenheit ein, die man nicht einfach ganz im Allgemeinen unterschlagen kann, wie es der Ausdruck "machen" nahelegen würde.

Ich bestreite nicht, dass kollektive Erinnerungen manipuliert und sogar völlig falsch sein können. Ich bestreite aber, dass es bei Erinnerungen grundsätzlich um die Frage geht, wer entscheidet, wie erinnert wird, und dass Erinnerungen grundsätzlich gemacht sind. Das halte ich für Übergeneralisierungen.




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Do 9. Mär 2023, 14:14

Lucian Wing hat geschrieben :
Do 9. Mär 2023, 12:32
... im Versuch, das, was an Rohmaterial da ist, ideologisch zu formen ...
Ich habe mir fast schon gedacht, dass dieses Schema bei dir eine Rolle spielt. Es ist das (konstruktivistische) Schema von "Schema und Inhalt", das nach Davidson schlicht ein Mythos ist. Paul Boghossian nennt es in "Angst vor der Wahrheit" ironisch "Förmchen-Konstruktivismus". Er definiert es (wenn ich mich recht erinnere) fast wörtlich so, wie du es schreibst: Es gibt das Rohmaterial und die Formen, die wir ihm einprägen. Vielleicht kann man mit einer Prise Salz sagen, dass Kant der Vater dieses Modells ist. In dieser antirealistischen Sichtweise ist im Grunde alles mehr oder weniger von uns gemacht (konstruiert).

Vielleicht ist das der Kern des Streits, denn als Realist kaufe ich das natürlich nicht :-) Aspekte sind für mich zum Beispiel nichts, was gemacht oder konstruiert wird.




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