Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ Mi 13. Jul 2022, 06:54
Nauplios hat geschrieben : ↑ Di 12. Jul 2022, 20:43
"Verstrickung in Geschichten" (Wilhelm Schapp)
Ich kann mir eigentlich kaum vorstellen, dass man die Bedeutung von Geschichten für unser Leben - das Leben jedes Einzelnens, wie auch das Leben von Gruppen - überschätzen kann. Ohne Geschichten wären wir buchstäblich verloren, ich glaube nicht mal, dass man ohne Geschichten (s)ein eigenes Leben führen könnte.
Irgendwann muss natürlich ein "aber" kommen - hier ist es: Ich sehe nicht die Verbindung zum Ausdruck der "moralischen Lebensführung". Wir führen unser Leben ja nicht allein im Licht moralischer Fragen.
"Moralische Ideen erleben manche Menschen als innere Stimme des Gewissens, die sie mahnt oder ermuntert. Sie können dabei durchaus auch mit der Stimme eines konkreten Vorbilds sprechen. Freud sprach in diesem Kontext von der verinnerlichten Vorstellung einer Autoritätsfigur, die er unter anderem Über-Ich nannte. [...] Wir sind allem Anschein nach in der Lage, einen Teil unseres Lebens in dieser Art der Fiktion und Vorstellung zu verbringen." (Fritz Breithaupt;
Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen; S. 219)
Das Buch von Breithaupt ist nicht in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienen, also zu der Zeit, an der ich stehengeblieben bin, es ist eine Originalausgabe, die am 16. Juni 2022 erschienen ist. (
Link zum Verlag)
Aus dem Klappentext:
"Wer in Geschichten verstrickt ist, lebt intensiver - ich erzähle, also bin ich. Doch nicht nur das eigene Leben wird als Narration prägnanter. Mittels Erzählungen gelingt es uns auch, die Erfahrungen eines einzelnen Menschen zu solchen von vielen anderen zu machen. Dazu müssen unsere Gehirne und die Weisen, wie wir Geschichten erzählen, aufeinander abgestimmt sein. Doch wie genau geschieht das? [...] Um dem Denken in Geschichten auf die Spur zu kommen, stützt Breithaupt sich ebenso auf die neuesten Einsichten der Hirnforschung ..."
Eine "Weise, wie wir Geschichten erzählen" ist u.a. arrangiert als Gespräch mit der von Freud so genannten Instanz des Über-Ich, die
auch, aber nicht nur in moralischen Dingen als mahnende Stimme des Gewissens auftritt. Dieses "Auftreten" darf dabei durchaus im Sinne einer Figur verstanden werden, die wie auf einer Theaterbühne agiert und eine "Spielbarkeit" hat. - Ein anderes Beispiel, welches Breithaupt bringt (S. 218), ist die "Spielbarkeit" einer verstorbenen Person, hier der verstorbene Mann, der als Figur in langen Gesprächen, die eine Frau führt, wieder auftaucht. Natürlich spricht hier nicht der verstorbene Mann aus dem Jenseits, sondern die Witwe
läßt ihn als fiktive Figur sprechen. Darin liegt seine "Spielbarkeit". Auch diese Figur könnte im Hinblick auf die "moralische Lebensführung" (der Frau, die vielleicht eine moralisch relevante Entscheidung zu treffen hat und sich vorher mit ihrem Mann "bespricht") die Rolle einer mahnenden Stimme spielen.
Und nein: ich werde nichts definieren.