Re: Kaffeestübchen
Verfasst: Fr 1. Jul 2022, 14:44
Die Wirklichkeit:
Bolz ist Luhmannianer. Keine Macht der Moral. Luhmann hat in seiner Theorie der Gesellschaft den gesellschaftlichen Teilsystemen, die nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern wechselseitig Umwelt füreinander sind, jeweils "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien" zugeordnet. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des politischen Systems ist Macht. Das Wort "Macht" in Bolz' Parole ist ein Luhmann-Wort, hinter dem sich die Referenz auf das gesellschaftliche Teilsystem Politik verbirgt. Wer in den 70er Jahren die Luhmann/Habermas-Debatte verfolgt hat, wird diese Verbindung (Macht ~ symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium) schnell herstellen können, wer nicht auch; denn Bolz weist auf Luhmanns Systemtheorie mehrfach hin.
"Keine Macht der Moral" wird damit als Titel zu einem listigen Wortspiel: es heißt eben gerade nicht: tretet die Moral in die Tonne. Es heißt: schaut auf die Funktionsweise (nicht auf die "Substanz" der Gesellschaft, auf Beine, Haarfarben, Telefonleitungen, Verdauungstrakte, Sitzmöbel, Geschlechtsorgane ...) der Gesellschaft und ihre Teilsysteme. Schaut wie das politische System der modernen Gesellschaft funktioniert und schaut wie Moral funktioniert. Bekanntlich besteht die Gesellschaft in Luhmanns Systemtheorie nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Moral ist bei Luhmann keine Verfaßtheit des menschlichen Charakters wie etwa beim griechischen Ethos-Begriff. Moral gibt einen Horizont an Möglichkeiten vor. Moralische Kommunikation überlastet sich chronisch selbst, weil sie die jeweiligen Erwartungen alter egos ständig mitreflektiert. (Das belegt vorzüglich diese Diskussion hier!) Wollte man den Preis einer Banane im Supermarkt bei jedem Einkauf ständig neu bestimmen und dabei die moralisch miserablen Produktionsbedingungen berücksichtigen, die moralisch zweifelhaften Lieferketten, die Arbeitsbedingungen der Kassiererin, wäre das Verfallsdatum der Banane überschritten bevor es zu einer Einigung gekommen wäre. Das Kommunikationsmedium der Wirtschaft ist Geld. Man kann dann den ungerechten Preis für die Banane moralisch aufarbeiten während man sie verzehrt. Das kann lange dauern. Der Kauf hingegen geht schnell. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Geld ermöglicht es.
Das politische System steht vor der Frage, ob schwere Waffen in die Ukraine geliefert werden. Vor einigen Wochen gab es dazu zwei offene Briefe an Scholz. In dem einen stand, es sei moralisch geboten, der Ukraine schnellstmöglich mit der Lieferung von Waffen gegen ein üblen Aggressor zur Seite zu stehen. In dem anderen stand, es sei moralisch geboten, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Zu den Unterzeichnern beider Briefe gehörten Philosophen, Schriftsteller, Intellektuelle. - Nun hat die Regierung die Macht (!), mithilfe ihrer Mehrheit die Sache zu entscheiden, in welche Richtung auch immer. Die Regierung hätte aber auch die Möglichkeit, von ihrer Mehrheit keinen Gebrauch zu machen und das Ganze als "Gewissensentscheidung" den Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu überlassen. So geschehen bei der Impfpflicht. Man nutzt nicht die vorhandene Machtoption, um ein Gesetz zu verabschieden, sondern macht daraus einen moralischen Sachverhalt. Dann schlägt die Stunde der Ethik-Kommissionen, man sucht fraktionsübergreifend nach Mehrheiten usw. Bei der Impfpflicht kam jedoch heraus, daß die unterschiedlichen Gewissen der Abgeordneten sich auf keinen Gesetzentwurf einigen konnten. Die Gewissen der Abgeordneten lehnten sämtliche Entwürfe ab. Ergebnis: es gibt keine Impfpflicht. Gewissen bedeutet, es wird etwas zu einer moralischen Angelegenheit, zu einer Sache von gut und böse. Jetzt gibt es keine Impfpflicht. Ist das gut?
Man stelle sich diesen Fall auf die Frage der Waffenlieferungen vor: Die Regierung weigert sich, zu regieren und macht aus der Frage der Waffenlieferungen eine Frage des Gewissens. Die Abgeordneten können sich fraktionsübergreifend nicht einigen. Es kommt zu keinen Waffenlieferungen in die Ukraine. Ist das gut?
Die Regierung hat die Macht. Und ähnlich wie beim Bananenbeispiel kann sie die Macht ausüben und damit Entscheidungen fällen. Während man im Supermarkt Bananen kauft, kann der Deutsche Bundestag einen Gesetzentwurf verabschieden. Man kann auch im Supermarkt den Kauf von Bananen grundsätzlich moralisch bezweifeln und im Bundestag das moralische Für und Wider von Waffenlieferungen erörtern bis Putins Truppen kurz vor Berlin stehen.
In der Systemtheorie Luhmanns ist Macht das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des politischen Systems. WAS dann dieses System entscheidet, ist eine ganz andere Sache. Was Bolz meint mit Keine Macht der Moral ist, daß wir die Errungenschaften, den Vorteil, den Fortschritt (!) einer differenzierten Gesellschaft nicht dadurch verspielen, daß wir politische Fragen grundsätzlich zu moralischen Fragen machen. Was weder Luhmann noch Bolz noch ich wollen ist die Abschaffung der Moral. Im Gegenteil. Es geht um die Funktionsweise der Moral und am Ende kann eine am Guten ausgerichtete Politik, die politische Entscheidungen grundsätzlich zu moralischen Entscheidungen macht, zum Ergebnis führen, daß sich - um im obigen Beispiel zu bleiben - Krieg in Europa wieder lohnt. Dann stand das Gute zur Debatte, aber das Böse bestimmt die Wirklichkeit.
Das ist jetzt der Moment, wo es heißen wird: Nauplios gibt das Gute für das Böse aus.
Bolz ist Luhmannianer. Keine Macht der Moral. Luhmann hat in seiner Theorie der Gesellschaft den gesellschaftlichen Teilsystemen, die nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern wechselseitig Umwelt füreinander sind, jeweils "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien" zugeordnet. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des politischen Systems ist Macht. Das Wort "Macht" in Bolz' Parole ist ein Luhmann-Wort, hinter dem sich die Referenz auf das gesellschaftliche Teilsystem Politik verbirgt. Wer in den 70er Jahren die Luhmann/Habermas-Debatte verfolgt hat, wird diese Verbindung (Macht ~ symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium) schnell herstellen können, wer nicht auch; denn Bolz weist auf Luhmanns Systemtheorie mehrfach hin.
"Keine Macht der Moral" wird damit als Titel zu einem listigen Wortspiel: es heißt eben gerade nicht: tretet die Moral in die Tonne. Es heißt: schaut auf die Funktionsweise (nicht auf die "Substanz" der Gesellschaft, auf Beine, Haarfarben, Telefonleitungen, Verdauungstrakte, Sitzmöbel, Geschlechtsorgane ...) der Gesellschaft und ihre Teilsysteme. Schaut wie das politische System der modernen Gesellschaft funktioniert und schaut wie Moral funktioniert. Bekanntlich besteht die Gesellschaft in Luhmanns Systemtheorie nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Moral ist bei Luhmann keine Verfaßtheit des menschlichen Charakters wie etwa beim griechischen Ethos-Begriff. Moral gibt einen Horizont an Möglichkeiten vor. Moralische Kommunikation überlastet sich chronisch selbst, weil sie die jeweiligen Erwartungen alter egos ständig mitreflektiert. (Das belegt vorzüglich diese Diskussion hier!) Wollte man den Preis einer Banane im Supermarkt bei jedem Einkauf ständig neu bestimmen und dabei die moralisch miserablen Produktionsbedingungen berücksichtigen, die moralisch zweifelhaften Lieferketten, die Arbeitsbedingungen der Kassiererin, wäre das Verfallsdatum der Banane überschritten bevor es zu einer Einigung gekommen wäre. Das Kommunikationsmedium der Wirtschaft ist Geld. Man kann dann den ungerechten Preis für die Banane moralisch aufarbeiten während man sie verzehrt. Das kann lange dauern. Der Kauf hingegen geht schnell. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Geld ermöglicht es.
Das politische System steht vor der Frage, ob schwere Waffen in die Ukraine geliefert werden. Vor einigen Wochen gab es dazu zwei offene Briefe an Scholz. In dem einen stand, es sei moralisch geboten, der Ukraine schnellstmöglich mit der Lieferung von Waffen gegen ein üblen Aggressor zur Seite zu stehen. In dem anderen stand, es sei moralisch geboten, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Zu den Unterzeichnern beider Briefe gehörten Philosophen, Schriftsteller, Intellektuelle. - Nun hat die Regierung die Macht (!), mithilfe ihrer Mehrheit die Sache zu entscheiden, in welche Richtung auch immer. Die Regierung hätte aber auch die Möglichkeit, von ihrer Mehrheit keinen Gebrauch zu machen und das Ganze als "Gewissensentscheidung" den Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu überlassen. So geschehen bei der Impfpflicht. Man nutzt nicht die vorhandene Machtoption, um ein Gesetz zu verabschieden, sondern macht daraus einen moralischen Sachverhalt. Dann schlägt die Stunde der Ethik-Kommissionen, man sucht fraktionsübergreifend nach Mehrheiten usw. Bei der Impfpflicht kam jedoch heraus, daß die unterschiedlichen Gewissen der Abgeordneten sich auf keinen Gesetzentwurf einigen konnten. Die Gewissen der Abgeordneten lehnten sämtliche Entwürfe ab. Ergebnis: es gibt keine Impfpflicht. Gewissen bedeutet, es wird etwas zu einer moralischen Angelegenheit, zu einer Sache von gut und böse. Jetzt gibt es keine Impfpflicht. Ist das gut?
Man stelle sich diesen Fall auf die Frage der Waffenlieferungen vor: Die Regierung weigert sich, zu regieren und macht aus der Frage der Waffenlieferungen eine Frage des Gewissens. Die Abgeordneten können sich fraktionsübergreifend nicht einigen. Es kommt zu keinen Waffenlieferungen in die Ukraine. Ist das gut?
Die Regierung hat die Macht. Und ähnlich wie beim Bananenbeispiel kann sie die Macht ausüben und damit Entscheidungen fällen. Während man im Supermarkt Bananen kauft, kann der Deutsche Bundestag einen Gesetzentwurf verabschieden. Man kann auch im Supermarkt den Kauf von Bananen grundsätzlich moralisch bezweifeln und im Bundestag das moralische Für und Wider von Waffenlieferungen erörtern bis Putins Truppen kurz vor Berlin stehen.
In der Systemtheorie Luhmanns ist Macht das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des politischen Systems. WAS dann dieses System entscheidet, ist eine ganz andere Sache. Was Bolz meint mit Keine Macht der Moral ist, daß wir die Errungenschaften, den Vorteil, den Fortschritt (!) einer differenzierten Gesellschaft nicht dadurch verspielen, daß wir politische Fragen grundsätzlich zu moralischen Fragen machen. Was weder Luhmann noch Bolz noch ich wollen ist die Abschaffung der Moral. Im Gegenteil. Es geht um die Funktionsweise der Moral und am Ende kann eine am Guten ausgerichtete Politik, die politische Entscheidungen grundsätzlich zu moralischen Entscheidungen macht, zum Ergebnis führen, daß sich - um im obigen Beispiel zu bleiben - Krieg in Europa wieder lohnt. Dann stand das Gute zur Debatte, aber das Böse bestimmt die Wirklichkeit.
Das ist jetzt der Moment, wo es heißen wird: Nauplios gibt das Gute für das Böse aus.