en passant

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Nauplios
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Fr 26. Jul 2019, 02:46

Der Flirt ist eine mit erotischen Absichten konnotierte Aktion aus der Halbdistanz heraus. Die Absichten sind in ihrer Erotik daran zu erkennen, daß sie absichtslos daherkommen. Den Ungeübten macht das bisweilen zum Unbeholfenen. "Na, auch hier?" trägt die Signatur karger Sparsamkeit, eignet sich als Kommunikationsofferte jedoch nicht, weil sie die Gegenseite notorisch unterfordert. Da aus der Halbdistanz kaum Wirkungstreffer zu erwarten sind, greifen die Flirtenden zu einer List: sie verabreden, daß ihr Flirt seinen Status als Flirt für eine gewisse Zeit ablegt. Arrangiert wird das durch inszenierte Naivität. Das verschafft Zeitgewinne, die für Taxierungen aller Art genutzt werden können. - Im Unterschied dazu zeichnet sich der "heftige Flirt" durch ein Überspringen von Eskalationsstufen aus. Dieses Vorgehen ist allerdings angewiesen auf synchrone Sprungtechnik. So berichtet Margaret Mead von Flirtproblemen zwischen amerikanischen Soldaten und englischen Mädchen während des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien. Die Kontakte zwischen diesen beiden Gruppen verliefen in 30 Einzelschritten. Die Mädchen beklagten sich über die ungestümen Versuche der Amerikaner, sie zu küssen. Diese wiederum empfanden das Verhalten der Mädchen trotz deren Zurückhaltung beim Küssen als frivol. Der Grund für diesen unlogisch erscheinenden Befund lag darin, daß das Küssen für die Mädchen an Position 25 stand, während es bei den Jungen schon an fünfter Stelle zum Einsatz kam. Hatten die Mädchen jedoch dem Küssen zugestimmt, konnten die restlichen fünf Stufen auf der Eskalationsleiter im Eilverfahren genommen werden, derweil die Jungen hier noch fünfundzwanzig weitere Stufen nehmen wollten - welche sei dahingestellt.

Im Paradies wurde bekanntlich nicht geflirtet. Das ist keineswegs dem Mangel an Auswahl geschuldet. Schon der abkünftige Modus des Rippen-Daseins von Eva macht hier alle Distanzen hinfällig. Erst mit der Schlange kommt die Schmeichelei und damit das Moment der Verführbarkeit ins Spiel. Erst nach dem Sündenfall erkennen Adam und Eva, daß sie nackt sind. Erst jetzt werden Sätze möglich wie "Na, auch hier?" -




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Sa 27. Jul 2019, 17:32

Chronophobie

"Die Wiege schaukelt über dem Abgrund", schreibt Nabokov in Erinnerung, sprich. Es ist der Abgrund der Frist zwischen zwei Ewigkeiten, der des Noch-nicht-Gewesenseins und der des Nicht-mehr-Seins. Dieses Schaukeln manifestiert sich im "Knarren der Segel", von dem Donata Berra in ihren Gedichten spricht. Im letzten Gedicht, "Requiem", geht es um eine Eschatologie der letzten Dinge. Was bleibt am Ende? - Es bleibt, was einmal Anfang war: das Wort. -




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Mo 29. Jul 2019, 12:56

Text

Text ist Gewebe, Textur. Man hat dieses Gewebe gern als Schleier verstanden. Hinter diesem Schleier verbirgt sich dann die Wahrheit, zumindest wird sie vom Text umhüllt, damit sie nicht nackt ist. Barthes geht über diese Vorstellung hinaus und läßt den Text als Netz einer Spinne denken; das Subjekt hat dann die Rolle der Spinne, die sich im beständigen Flechten des Netzes verliert. Entsprechend ist Texttheorie nach Barthes "Hyphologie" (hyphos ist das Gewebe, Spinnetz). - Etwas zu schnell tritt hier der Aspekt des Schleiers in den Hintergrund. Der Schleier ist eine Anschauungsform, die dem Blick etwas entzieht und hat eine Karriere in diversen Enthüllungsmythen des Erotischen hinter sich.

Zugänglichkeit zu verzögern ist eines der Motive des Schleiers. Schwer zugängliche Texte sind ausgestattet mit einer Vollverschleierung. Doch wie auch sonst in erotischen Belangen können Beharrlichkeiten weiterhelfen. Und natürlich sehr viel Liebe. Der Text möchte umgarnt werden. Gegenseitiges Verheddern kann dabei gewollt sein. Die "Lust am Text" ist auch die Lust des Verzögerns. Der Text möchte erobert werden. Der metaphorisierte Umgang mit Texten hat viel mit der Semantik von Zärtlichkeit und Liebe zu tun.




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Do 1. Aug 2019, 01:50

Sterne

Die Erschaffung der Sterne wird im Schöpfungsbericht der Genesis nahezu beiläufig erwähnt. Zunächst werden "zwei Lichter" gemacht: "ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere". Hintan gesetzt wird lapidar: "dazu auch Sterne" (Lutherbibel). Das klingt nach pflichtschuldiger Zugabe. Der Schöpfer vergibt die Sterne so wie auch wir Sterne vergeben - etwa bei der Bewertung von Hotels. Der Hotelstern ist einer von unzähligen Vergleichsdispositiven, die als Rankings und Ratings, als Scorings und Screenings, als Punkte und ... ja, auch als Likes vergeben werden. An dieser Metrifizierung der sozialen Welt sich zu beteiligen, eröffnet dem Bewohner der Moderne für einen Klick die Möglichkeit, sternschöpferisch tätig zu werden. Mit dem Austausch der menschlichen gegen die göttliche Position hat der Mensch teil am Bewertungskosmos unserer sozialen Welt. Kinder einer Berliner Kita bewerten ihr Mittagessen mit drei verschiedenen Emoticons. Das Ergebnis wird an den Caterer weitergeleitet, der auf diese Weise sein Serviceangebot für den nächsten Tag optimieren kann. Der Mensch unseres Zeitalters vergibt Fahrzeuge zum Leihen, er vergibt Geld an Banken und vergibt "dazu auch Sterne". -

Eine schöpferische Praxis, der hiermit keineswegs Einhalt geboten wird. ;)




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Mi 7. Aug 2019, 02:01

altitudo - Tiefe

Die Tiefe ist die umgekehrte Höhe (altitudo),
beides den Flügeln des Dichters gleich brauchbar
und wegsam, nur die Mitte, die Ebene nicht,
welche Flug und Lauf zugleich begehrt.

(Jean Paul; Vorschule der Ästhetik; § 72)

Alle tiefe Erkenntnis, sogar die eigentliche
Weisheit wurzelt in der anschaulichen Auffassung
der Dinge [...] Alles Urdenken geschieht in Bildern.

(Arthur Schopenhauer; Die Welt als Wille und
Vorstellung
; in Werke; II, 85)


Alles Wurzeln ist chthonisch. Selbst Flachwurzler benötigen ein Minimum an Erdgebundenheit, an Tiefe. Alles Tiefe aber, in Sonderheit tiefe Erkenntnis, hält sich zugute, daß sie sich keiner Wissenschaft vom ersten Blick, keinem Blick auf die Oberfläche, verdankt. Tiefe und Oberfläche sind die metaphorischen Antipoden, an denen sich Bewertungssysteme der Dignität orientieren. Schon bei Demokrit heißt es: "In Wirklichkeit wissen wir nichts; denn die Wahrheit liegt in der Tiefe." (Fg. 166) Aus der Tiefe wird die Wahrheit geborgen. In der Tiefe hat sie ihren Ursprung. In der altitudo finden Tiefe und Höhe als Tiefschürfendes und Hochtrabendes als metaphorisierte Zwillinge zusammen. Dazwischen die Jean Paul´sche "Mitte", die "Ebene", Heimstätte alles Planen und Flachen.

In die Tiefen des innerpsychischen Raums taucht die Tiefenpsychologie. Nach dem Eisberg-Modell Freuds sind nur 20 % unserer Persönlichkeit als bewußt an der Oberfläche sichtbar. Die anderen 80 % sind unter der Oberfläche in Form von verdrängten, vergessenen, ungelösten inneren Konflikten unsichtbar. Das Sichtbare steht im Verdacht, Symptom für´s Unsichtbare zu sein. Von der "vergleichsweise tieferen Seelenstimmung" ist ein "vergleichsweise tieferer Blick in das Wesen der Wirklichkeit unabtrennlich", schreibt Ludwig Klages in Der Geist als Widersacher der Seele (411). - Die Oberfläche hat die Verweisungsstruktur auf Darunterliegendes, Dahinterliegendes, das Wesentliche, das Sub-stantielle, Gründ-liche, Sub-lime und Unter-schwellige.

Kultur - Pflege und Ackerbau, Wurzelwerk und Ernte.
Zuletzt geändert von Nauplios am Mi 7. Aug 2019, 02:13, insgesamt 1-mal geändert.




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Mi 7. Aug 2019, 02:13

altitudo - Höhe

Klassisch geworden: die eisigen Höhen der Abstraktion, exemplarisch am Luhmann´schen Flug über den Wolken:

"Diese Theorieanlage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen." Soziale Systeme; 12f)

Auch der Luftschiffer ist wie sein maritimes Gegenstück einer, der Gefahren auf sich nimmt, um seine Theorie mit größerer Sehschärfe aus größerer Höhe auszustatten.




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Mi 7. Aug 2019, 02:47

Oberfläche

"Flächen sind Oberflächen von etwas: es sind Häute. Die traditionellen Flächen sind Oberflächen von Körpern. Die neuen Flächen sind Oberflächen von Begriffen." (Vilem Flusser; Lob der Oberflächlichkeit; S. 58) -

"Ohne Oberflächenvertrauen geht es nicht mehr." (Manfred Faßler; Tiefe Oberflächen. Virtualität. Visualisierung. Bildlichkeit; S. 12) -

Ein alltägliches Indiz für dieses "Oberflächenvertrauen": die Benutzeroberfläche.




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Do 8. Aug 2019, 19:13

Bis drei zählen

Drei Bücher: zählen wir sie, um zu erfassen, daß es drei sind? - Fünf Bücher ... Sieben Bücher ... zwölf Bücher ... ab wann müssen wir sie zählen, um ihre genaue Anzahl bestimmen zu können?

Würde Gott auch zählen müssen? - Oder könnte er die Anzahl der Bücher, seien es auch tausende, durch seine Anschauung sofort und ohne sie langwierig zählen zu müssen, bestimmen?

"Cum deus calculat et cogitationem exercet, fit mundus", setzt Leibniz als Randbemerkung seinem Dialogus (1677) hinzu (Philosophische Schriften; VII; 191). Heidegger nutzt einen Doppelsinn, der im calculus als "Rechenstein" und "Spielstein" liegt: Wenn Gott rechnet, wird Welt. Wenn Gott spielt, wird Welt (Satz vom Grund). Das et cogitationem exercet läßt Heidegger fort, also Gottes Bedenken. Das ist ein starkes Stück. -




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Di 13. Aug 2019, 02:38

"Wo ES war, soll ICH werden.

"Was E war, kann U werden." (Theodor W. Adorno; Gesammelte Schriften Bd. 19, 548)

E bedeutet hier Himmel, U bedeutet Unterwelt. "Die Welt der Unterhaltung ist die Unterwelt, die sich für den Himmel ausgibt." - Unterhaltung, Leichtigkeit, Ohrenkitzel versus Strenge, Passion, Tiefe. Bachs Matthäuspassion wurde erst hundert Jahre nach ihrer Erstaufführung von Mendelssohn in Berlin wiederaufgeführt - bezeichnenderweise nicht in einer Kirche, sondern in einem Konzertsaal. Bei der Uraufführung in der Thomaskirche in Leipzig soll es dem Chronisten zufolge zum Aufschrei einer frommen Witwe gekommen sein: "Behüte Gott, ihr Kinder! Es ist doch als ob man in einer Opera oder Comödie wäre." (Christian Gerber; Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen; 1732; S. 284). Die Leipziger Ratsherren beschließen kurz darauf, Bach das Gehalt zu kürzen. In Bachs Anstellungsurkunde hatte es geheißen: "In Beybehaltung guter Ordnung in denen Kirchen, die Music dergestalt einrichten, daß sie nicht zu lang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere." (Zit. n. Byung-Chul Han; Gute Unterhaltung. Eine Dekonstruktion der abendländischen Passionsgeschichte; S. 12)

Auch der moderne Hörer der Matthäuspassion mag an einem Karfreitag daran leiden, daß diese "zu lang währen" möge, daß sie aber "opernhafftig herauskommen" könnte, käme ihm vermutlich nicht in den Sinn. Adorno dürfte sie noch zum "E" zählen. Doch man sieht an diesem Beispiel, daß auch Passionen den Veränderungen im Wirklichkeitsverständnis unterliegen.



(Lola Astanova spielt Schuh-pin)




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Nauplios
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So 6. Okt 2019, 18:11

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der Hans Blumenberg-Gesellschaft,

hiermit möchte ich Sie im Namen des Vorstandes herzlich zur Mitgliederversammlung der Gesellschaft einladen. Sie findet statt am 11.10. 2019 von 15:00-17:00 im Clubraum der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin, die Tagesordnung umfasst:

1. Begrüßung, Feststellung der Beschlussfähigkeit, Verabschiedung der Tagesordnung
2. Bericht des Vorstands über die Aktivitäten der Gesellschaft, Finanzbericht
3. Aussprache über die Berichte, Entlastung des Vorstands
4. Wahlen des Vorstands und der Rechnungsprüfer
5. Diskussion über zukünftige Aktivitäten des Vereins
6. Verschiedenes

Wir freuen uns auf zahlreiches Erscheinen. Für die Mitglieder, die nicht anwesend sein können, werden wir die wichtigsten Ergebnisse hinterher in einer Mail zusammenfassen.

Mit herzlichen Grüßen

Daniel Weidner


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Prof. Dr. Daniel Weidner

Professor am Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin
Stellvertretender Direktor, Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung
Schützenstr. 18
10117 Berlin




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"Wir freuen uns auf zahlreiches Erscheinen." - Daß die Tagesordnung einer Gesellschaft auf Floskel angewiesen ist, wird nicht verwundern, daß es der Einladungstext dazu auch ist, hätte Blumenberg zu einer Glosse veranlaßt. ;)




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Friederike
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So 6. Okt 2019, 18:27

Für mich spreche ich, vermute aber, daß ich zumindest Dich @Nauplios, auf meiner Seite habe.

Für die Mitglieder, die nicht anwesend sein können, werden wir die wichtigsten Ergebnisse hinterher in einer Mail zusammenfassen.

"Hinterher." :roll: Wie sagt man? "Das geht gar nicht". Es muß "anschließend" oder im "Anschluß an" heißen.




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Nauplios
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So 6. Okt 2019, 19:10

Ja, das stimmt. Wie sagt man? Hinterher ist man immer schlauer. :lol:




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Nauplios
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Fr 22. Nov 2019, 20:12

In der Traumdeutung berichtet Freud von seinem berühmten Parzentraum:

"Ich gehe in eine Küche, um mir Mehlspeise geben zu lassen. Dort stehen drei Frauen, von denen eine die Wirtin ist und etwas in der Hand dreht, als ob sie Knödel machen würde. Sie antwortet, daß ich warten soll bis sie fertig ist [...] Ich werde ungeduldig und gehe beleidigt weg ... " (Traumdeutung; S. 210) -

Anschließend berichtet Freud von verschiedenen Erinnerungen, die sich für ihn mit diesem Traum verbinden. Die Wirtin im Traum ist seine Mutter, "die das Leben gibt". Als Freud diesen Traum notiert ist er in den 40ern und das fabula docet dieses Traums illustriert Freud an einem Shakespeare-Zitat aus Heinrich IV: "Thou owest God a death", allerdings um eine nicht unerhebliche Veränderung: "Du bist der Natur einen Tod schuldig." - Die Gläubigerinstanz von Gott auf die Natur zu delegieren war möglich durch die Doppelnamengebung von Parca (Geburtshelferin) und Morta als latinisierte Form der Moira. Während Nona und Decima die Dauer der Schwangerschaft einrahmen, umfaßt der Zuständigkeitsbereich von Parca/Morta Geburt und Tod. - In Heideggers Eistenzialanalytik drückt sich diese Konstellation in der Kopplung von "Sein zum Tode" und "Schuld" aus. Im Theoriediskurs der Psychoanalyse wird vorweggenommen was in der begrifflichen Disposition bei Heidegger erneut erwacht: ein Stück Arbeit am Mythos. -




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Do 4. Feb 2021, 01:58

Es ist vielleicht eines der frühesten Zeugnisse einer Traumdeutung, von der Odyssee, 19, 535 berichtet. Die Verstellung des Odysseus, den Penelope nicht erkennt, bringt diesen in die Verlegenheit, ihr einen Traum zu deuten, in dem er selbst wiederum verstellt als Adler vorkommt, der die Gänse der träumenden Penelope getötet hat. Dem Wehklagen der (träumenden) Penelope entgegnet der Adler: "Kein Traum ist dieses, sondern richtige Wahrheit, die dir vollendet werden wird." Die Traumexplikation des Adlers endet mit seiner Selbstdecouvrierung als Gatte der Penelope, welche diese wohlgemerkt nur träumt. Die Wahrheit ist also verkapselt als geträumte, gleichwohl "richtige Wahrheit" (ouk ónar, all'hýpar esthlón). Die Traumszene ist ein mis-en-abyme: der in der Realität verstellte Odysseus deutet den im Traum verstellten Odysseus, eine Art Philologie avant la lettre , gleichsam ein Wahres im Falschen.




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Do 4. Feb 2021, 18:24

Das Hysteron-Proteron bezeichnet in der Rhetorik die Figur "Das Spätere ist das Frühere". "Doch auf! Deute mir diesen Traum und höre!". Allerdings ereignet sich die Traumdeutung im Traum selbst, so daß sich damit die Ebenen zweifach verschachteln. Das Hysteron ist das Hören, das Proteron das Deuten. Das Deuten wiederum bestreitet den Traumcharakter des Geträumten und sagt eben damit die Wahrheit auf der Ebene des Nicht-Träumens. Deutungshoheit kann nur durch die Selbstzuweisung des Deuters aus dem Deutungszusammenhang heraus entstehen. Die Schwelle, die hier entsteht, ist die zwischen Ich und Traum-Ich.




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So 7. Feb 2021, 19:12

Hysteron-Proteron - losgelöst vom rhetorischen Kontext, obschon auch sie in diesen Kontext gehört, ist die Präfiguration als Bezugnahme auf vergangenes Geschehen das Modell der Inanspruchnahme von Bedeutung des Gegenwärtigen. Sich umzubringen wird auf diese Weise zum Liebestod oder wie im Fall der Günderode zum Heldentod, dessen romantisches Insignium der Dolch ist. Nach vorausgegangener Konsultation eines Chirurgen sticht sich Karoline von Günderrode den Dolch "zwischen die vierte und fünfte Rippe in die linke Herzkammer"; so notiert es das ärztliche Protokoll. Die gegen alle Normierungen der weiblichen Geschlechtsrolle aufbegehrende Dichterin stirbt mit 26 Jahren auf eine männlich konnotierte Weise, wie sie die nordische Mythologie, ein Forschungsfeld der Günderrode, vielfach überliefert. Der am griechischen Mythos forschende Friedrich Creuzer, unglücklich verehelicht mit der Tochter seines Doktorvaters, wird nachrichtlich vom Tod seiner Geliebten erst Monate später erfahren, weil man sein zartes Gemüt schonen will.




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Di 16. Feb 2021, 01:03

Roland Barthes schreibt über Schumanns Musik, sie dringe "durch die Sinnlichkeit ihres Melos gleichsam in die Eingeweide". - Die physische Wirkung des Melos - eine Metapher, die spontan an die "petite phrase de Vinteuil" erinnert, an den "Refrain des Glücks", wie Proust sie nennt. Das Melos einer Musik, vergleichbar einer Art Rohbau, bei dem Rhythmik und Harmonik fehlen, ein musikalischer "Graphismus" im Sinne Sommers, ein Unbegriffliches im Übergang zur Gestaltung, der deutungsoffene Nachklang.




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Mi 17. Feb 2021, 19:39

pollá tà deiná - so beginnt die erste Strophe des gleichnamigen Chorlieds aus der Antigone. deinós lernt man im Graecum, das sich in der Regel auf Plato/Xenophon, dem attischen Dialekt, bezieht, als "gewaltig, furchtbar". In der Übersetzung Schadewaldts:

"Viel Ungeheures ist, doch nichts
So ungeheures wie der Mensch."

Hölderlin hatte 1799 übersetzt:

"Vieles Gewaltige gibts, doch nichts
ist gewaltiger als der Mensch … "

Und 1803:

"Ungeheuer ist viel, doch nichts
ungeheuerer, als der Mensch … "

Heidegger hingegen übersetzt deinós mit "unheimlich":

"Vielfältig ist das Unheimliche, nichts doch
Über den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt."

Mit dem Unheimlichen wird der Assoziationsfreiraum des "Unheimischen", des heimischen Raums, der Heimat u.ä. vorbereitet. Man kann an diesem kleinen Beispiel erahnen, wie vieldeutig philosophisch inspirierte Übersetzungen sein können.

Πολλὰ τὰ δεινὰ κ’ οὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει.




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Mi 17. Feb 2021, 20:20

Karl Heinz Bohrer ist solchen philosophisch motivierten Hermeneutiken in einem lesenswerten Aufsatz über Behaupten und Zeigen nachgegangen (in: Was ist eine philologische Frage?; S. 255-274) nachgegangen, u.a. am Beispiel von Foucaults Interpretation von Velázquez' Bild Las Meninas im ersten Kapitel von Die Ordnung der Dinge. Für Bohrer stellt sich Zweifel ein, "ob die einzelnen Gegenstandsaussagen nicht jeweils mehr versprechen, als sie halten können, weil sich eine Obsession des Benennens einstellt, die auf etwas aus ist, was gar nicht dargestellt ist, bzw. weil eine Beschreibung imaginativer Strukturen vorliegt, die in die schiere Spekulation von Gesichten des Theoretikers übergeht." (a.a.O; S. 273) - Bohrer spricht von der "endgültigen Camouflage eines defizitären Zeigens dessen, was auf dem Bild zu sehen ist, zugunsten eines Behauptens. Eines Behauptens, dessen Inhalt schon vorher festliegt." (S. 274) - Doch was könnte dieses Zeigen sein, das sich keines Behauptens schuldig macht? - Eine Hermeneutik der Unbegrifflichkeit? -




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Di 23. Feb 2021, 14:33

Gershom Scholem berichtet in Zur Kabbala und ihrer Symbolik eine Anekdote aus dem Jerusalem des Jahres 1924. Ein junger Mann sucht den Kontakt zur esoterischen Tradition des orientalischen Judentums. Nachdem er mit vielen Kabbalisten gesprochen hat, findet er niemanden, der bereit wäre, ihn in der jüdischen Mystik zu unterrichten. Als er die Suche schon aufgeben will, spricht ihn doch noch jemand an, er wäre bereit, ihn in der Kabbala zu unterweisen. Doch er stellt dafür eine Bedingung an den jungen Mann: keine Fragen zu stellen. -

Scholem kommt in seiner Deutung ohne Umschweife auf Schelling zu sprechen. Er sieht darin "einen ersten seltsamen Hinweis auf den sich noch in spätesten Formen erhaltenden Gehalt eines erzählenden, aber nicht mehr fragenden Denkens, einer, um Schellings Ausdruck zu gebrauchen, 'erzählenden Philosophie', wie sie dem großen Philosophen der Mythologie als Ideal erschien." (Gershom Scholem; Zur Kabbala und ihrer Symbolik; S. 117) -

Die Verflechtung der antiken Götter in den Handlungs- und Gestaltungsbereich menschlicher Weltverarbeitung hatte die Differenz von Menschen und Göttern vor allem auf die Potenz der Überwindung von Sterblichkeit und ihren Sekundärpotenzen zulaufen lassen. Darüberhinaus attestierte der griechische Mythos den Unsterblichen die Schwächen der Sterblichen, was die Bildfähigkeit göttlich verfaßter Mächte verbürgte, mithin jenes, welches die jüdische Tradition mit theologischem Aufwand zu vermeiden trachtet. Taten und Schandtaten griechischer Götter konnte man sich "bildlich vorstellen", die Bilderlosigkeit der jüdischen Tradition und besonders ihrer Mystik war darauf aus, die Transzendenz Gottes bis in den Begriff zu schützen. Was läßt sich von einem solchen Gott noch aussagen? Wie kann man ihn in seinem Begriff theologisch befragen? -

"Die Tendenz der, wenn ich so sagen darf, klassischen jüdischen Tradition zur Liquidation des Mythos als einer zentralen geistigen Macht wird von solchen zur Metapher gewordenen quasi-mythischen Rückständen nicht berührt." (Scholem; a.a.O.; S. 118)

Die "Reinheit" (Scholem) des Gottesbegriffs macht den darin Begriffenen als Unbegriffenen unantastbar. In dieser Paradoxie tast ihn das Denken nicht an. Den schöpferischen Gott und seine Kreatur trennt ein "Abgrund" (Scholem). Wie kann ein solcher Gott lebendig sein? - Die Spannung zwischen Reinheit und Lebendigkeit - kann denn wenigstens von ihr erzählt werden?

"Der lebendige Gott geht nie im reinen Begriffe auf." (Scholem; a.a.O.; S. 119) -




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