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Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
Nauplios
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Di 23. Feb 2021, 18:51

Die Frage nach den gnostischen Einflüssen auf die Kabbala hat schon die rabbinische Tradition des Mittelalters bewegt. Denn es ist ja keineswegs so, daß das Verbot der Bildlichkeit zu allen Zeiten eingehalten worden wäre. So ist das Sefer ha-Bahir - von Gershom Scholem selbst herausgegeben - in weiten Teilen ein exegetischer Midrasch in Frage- und Antwortform, also eben jener Form, welche dem jungen Mann aus der Scholem-Anekdote versagt blieb. In vielen Allegorien offenbart sich dabei eine durchaus mythische Rede von Gott. Ein Schema, das für die Gnosis typisch ist, ist beispielsweise der Dualismus von Licht und Finsternis als Allegorie für gut und böse. Im Bahir ist diese Dualität in Gott selbst verlegt:

"Das lehrt, daß es bei Gott ein Prinzip gibt, welches 'Böse' heißt und es liegt im Norden Gottes, denn es heißt [Jer. 1,14]: Von Norden her öffnet sich das Böse, das heißt, alles Böse, das über alle Bewohner der Erde kommt, kommt von Norden. Und welches Prinzip ist dies? Es ist die Form der Hand, und sie hat viele Boten, und alle heißen 'Böse', 'Böse'." (Sefer ha-Bahir; 109) -




Nauplios
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Di 23. Feb 2021, 19:52

Die Form der Hand steht als Symbol für das Böse. Es ist dieses symbolisch verfaßte Weltgeheimnis, das die Kabbala in wichtigen Bereichen zu einer Mystik der Entschlüsselung macht. Transformationen ins Mythische, eine "Re-Mythisierung der Tora" (Scholem) stehen gegen die "Reinheit" (Scholem) des Gottesbegriffs und sein Bildverdikt.

"In erster Linie ist in diesem Zusammenhang auf den Kampf zwischen dem begrifflich-diskursiven und dem bildhaft-symbolischen Denken innerhalb der Kabbala hinzuweisen, der ihrer Literatur und Geschichte einen eigenartigen Charakter verleiht." (Scholem; a.a.O.; S. 128f) -




Nauplios
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Mi 24. Feb 2021, 19:15

"Wer sich tiefer in das Denken großer Kabbalisten zu versenken sucht, wird die Zwiespältigkeit der Empfindungen zwischen Bewunderung und Abstoßung selten los." (Scholem; a.a.O.; S. 134)

Als erstes Fazit von achtzehn Seiten vorausgehender Bewunderung hat dieser Satz etwas Seltsames. Er entzündet sich vordergründig an der "Stellung" des Bösen in der Kabbala; genauer, seiner Emanation aus der Gnosis und aus der "Vornehmheit" der jüdischen Philosophie, die auf die Ängste des Menschen "nichts eben Kluges zu erwidern gewußt hat". (Scholem) - Die Gnosis hat der Kabbala solche Erwiderung abverlangt und hat damit der (jüdischen) Philosophie - Scholem bezieht sich dabei häufig auf Maimonides - ermöglicht, auf Distanz zum Bösen zu gehen.

Von den "Antrieben der Lebens- und Todesangst der einfachen Menschen" schreibt Scholem (S. 133) und von "Fäden" der kabbalistischen Tradition an das gnostische Erbe. Von "Fäden" in die Sphäre der Lebenswelt schreibt auch Husserl in der Krisis-Abhandlung. Überhaupt gehören "Fäden" zur Grundmetaphorik der Phänomenologie, was noch in der "Anbindung" sich Ausdruck verschafft. Das Momentum des Erzählens taucht hier wieder auf, die "erzählende Philosophie" Schellings als Ideal einer Philosophie der Mythologie.




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Mi 24. Feb 2021, 19:18

Denn es ist der Mythos, der diese Funktionsstelle besetzt. Vom Bösen erzählt der Mythos. Vom Bösen hat er Kluges zu berichten - dem einen zur Bewunderung, dem anderen zur Abstoßung. -




Nauplios
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Mi 24. Feb 2021, 20:27

Manfred Sommer, der in Stift, Blatt und Kant der Frage nachgeht, inwieweit das Ziehen einer Linie - keiner roten Linie - "konstitutiv für unsere Existenz in der Welt" ist, verweist auf die notwendige Kontrastierung von Schrift auf Papier, damit sich Graphismen überhaupt abheben können von einem sie ermöglichenden Untergrund, vornehmlich dem weißen Blatt.

Weiße Zeichen auf weißem Papier - hier kommt es auf den Pinselstrich an, gegebenenfalls auf "Lineaturen, die eine innere Ordnung unmerklich nahelegen" (Sommer; a.a.O.; S. 55). Im Theaitetos hatte Plato von der Erkenntnis als Wiedererinnerung gesprochen und die mnemosyne damit beauftragt, ein ekmageion, ein Gebilde, aus Wachs herzustellen. So sollten dauerhafte Eindrücke (in das Wachsgebilde der Erinnerung) ermöglicht werden.

Diese platonische Vorstellung von der Erinnerung ist über den Neuplatonismus und die Gnosis in die jüdische Mystik eingewandert und zwar genau in Form der weißen Schrift auf weißem Hintergrund. Deren Sichtbarmachen und Transformation in schwarze Sichtbarkeit ist u.a. das Anliegen von Kabbala und Mystik, die Herstellung der Lesbarkeit des Vorgeschriebenen. (s. Sommer; a.a.O.; S. 55) -




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iselilja
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Mi 24. Feb 2021, 21:57

Im Vorbeigehen ist mir vor ein paar Tagen eine kleine Episode unter die Fittiche gekommen, in der die Geschichte aus der anderen Perspektive erzählt wurde. Das Andere ist hier das, was uns fast immer fremd bleibt in unserem Selbstverständnis. Da hieß es.. sie kamen mit der Bibel in unser Land und schon nach kurzer Zeit hatten sie unser Land und wir ihre Bibel.
So ist das mit weißen Buchstaben (Linien?) auf weißem Untergrund.. es dauert eine Weile bis sie vergilben und damit sichtbar werden. :-)




Nauplios
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Do 25. Feb 2021, 01:54

Sehr gut!

Etwas verliert im Laufe der Zeit seine Farbe, vergilbt. Dadurch wird etwas sichtbar, das vormals unsichtbar war, zum Beispiel das, was jetzt als Unter-Grund wieder besser lesbar wird. Oder indem sich ein zu dominanter Unter-Grund invisibilisiert, wird das Darüber-Liegende, das Über-Schreibende, wieder sichtbar.

Für das Verhältnis von Unter und Über hat das Griechische zwei Präpositionen:

hyper = (lat. super) = "über, über ... hinaus"
hypo = (lat.sub) = "unter, darunter"

Der Ulysses von James Joyce wäre ein Beispiel für den Hypertext der Odyssee von Homer. Der Ulysses legt sich gleichsam wie eine Schicht über das homerische Epos: der 16. Juni 1904 in seinem episodischen Verlauf ist bei Joyce bekanntlich den Episoden der Odyssee nachempfunden. Diese Odyssee ist der Zu-Grunde-liegende Hypotext darunter. Die Klassische Philologie kennt das Phänomen der Palimpseste, (palim = wieder / psaeîn = abschaben, reiben): Damit ist der Vorgang des Wiederbeschreibens einer Rolle gemeint (codex rescriptus); man hat einfach die alte Schrift einer Rolle abgeschabt und sie dann mit neuem Text wieder beschrieben. Auf die Weise stehen also zwei Texte übereinander, ein alter und nicht mehr sichtbarer Text, dessen Buchstaben abgeschabt wurden zugunsten eines neuen und sichtbaren Textes. - Mit modernen Methoden kann man heute oftmals den alten Text unter dem neuen doch noch wieder "lesbar" machen, weil die Buchstaben hauchdünne Abdrücke hinterlassen haben, anhand derer dann ein verschollen geglaubter Text in hoch auslösenden Verfahren rekonstruierbar wird - zumindest in Teilen.

Dieses Verhältnis von Hypertextualität und Hypotextualität hat der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette auf die Interpretation von Literatur übertragen. Unter dem Titel Palimpseste hat er eine Ästhetik zweiter Stufe entwickelt, die solchen paratextualen Überlagerungen nachgeht.

Vielleicht kannst Du diesen Gedanken auch für Deinen neuen Realismus fruchtbar machen. ;) Nimmt man nämlich die Wirklichkeit nicht in einem vulgärrealistischen Sinne als Ergebnis von (Sinn)Feldbewirtschaftung, sondern vom Gesichtspunkt ihrer Lesbarkeit her, dann läßt sich nach der Hyper- und Hypotextualität dieses Lesbaren fragen. Für die Dimension der Zeit habe ich das in Form des "Nachlebens" (Aby Warburg) bzw. der Unreinheit der Zeit schon mal angedeutet. Unterhalb des vordergründig Wirklichen könnte ein theoretischer Abschabungsprozeß dessen Hyporealität zum Vorschein bringen. Eine Theorie der Realität müßte sich dazu allerdings mit hochauflösenden Analyseverfahren umgeben, um historisch angereicherte Wirklichkeiten palimpsestieren zu können. :lol:

(Was wäre die Welt ohne die Lust der Benennung!)




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iselilja
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Do 25. Feb 2021, 05:39

Im Grunde entspricht dies genau dem ursprünglichen Gedanken der Aletheia.. dem Entfernen des Überlagernden, dem Herunterreißen der Verhüllung, so dass das ursprüngliche nackt - der nackten Wahrheit gleich - vor einem steht. Doch so einfach, wie bei einem Text, der sich nicht "wehren" kann, ist das garnicht, weil das Überlagernde angenehm süß ist.. es bringt seine "Vorteile" mit sich - die zumindest dem Anschein nach lebenstauglich sind. Man kann damit etwas anfangen - bspw. eine Bibel in der Hand halten und daraus lesen. :-)

Es ist dieser alte Widerstreit zwischen Sophistik und Philosophie, der auch hier in der Methodik wurzelt. Dorchain meinte dazu, es bedürfte einer starken intrinsichen Motivation, sich für die Philosophie zu entscheiden. Und da hat sie wohl recht.




Nauplios
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Do 25. Feb 2021, 20:14

iselilja hat geschrieben :
Do 25. Feb 2021, 05:39
Im Grunde entspricht dies genau dem ursprünglichen Gedanken der Aletheia.. dem Entfernen des Überlagernden, dem Herunterreißen der Verhüllung, so dass das ursprüngliche nackt - der nackten Wahrheit gleich - vor einem steht. Doch so einfach, wie bei einem Text, der sich nicht "wehren" kann, ist das garnicht, weil das Überlagernde angenehm süß ist.. es bringt seine "Vorteile" mit sich - die zumindest dem Anschein nach lebenstauglich sind.
Vermutlich spielst Du damit auf Die nackte Wahrheit Blumenbergs an (?). -

"Der Mensch ist nackt; aber das ist nicht seine ganze Wahrheit. Seine Wahrheit ist, daß er ohne den verhüllenden Schein einer allen Anspruch aufs Wesentliche abwehrenden Verkleidung zu Grunde geht."

Die nackte Wahrheit - das ist nämlich auch die Nacktheit der Wahrheit über den Menschen! Mit dieser Wahrheit hat sich zu arrangieren, wer die Verkleidung herunterreißt und den unverhüllten Blick auf das In-der-Welt-Sein des Menschen. Die Entzauberung der Welt stellt den Menschen vor die Aufgabe, mit der Wahrheit leben zu müssen. Das Überlagernde, "angenehm süß", hatte auch die Funktion, den Menschen zur "Lebenstauglichkeit" zu befähigen. Es ist dieser Zusammenhang von Wahrheit und Leben, vom Arrangement mit der nackten Wahrheit, der in die Lebenswelt eingreift und mit dem es nun fertigzuwerden gilt.

Mit der Enthüllung der Wahrheit ist es ja keineswegs getan. Die enthüllte Wahrheit muß auch ausgehalten werden. Das "angenehm Süße" fällt im Laufe der Neuzeit immer weiter zurück in den Bereich des Persönlichen, bis zuerst Nietzsche, dann Freud auch die Seele vor die Enthüllung ihrer Nacktheit zwingen. Dem Verlust an praktischem Orientierungswissen folgt der Verlust der Herrschaft "im eigenen Haus".

Theorien der Wahrheit und der Wirklichkeit operieren hier im allgemeinen in der völligen Unbekümmertheit um die Nacktheit der Wahrheit. In ihrer binären Ausrichtung bewegen sie sich zwischen wahr und falsch, so als ob mit der reinen und unverhüllten Wahrheit das Geschäft des Philosophierens zwangsläufig an sein Ende gekommen wäre. - Nichts als die Wahrheit. - Subtrahiert man aus dieser Formel die Wahrheit, bleibt: nichts.

Mit Nichts läßt sich schlechterdings nicht leben. Es braucht Trost. Ohne den "verhüllenden Schein einer allen Anspruch aufs Wesentliche abwehrenden Verkleidung" geht er "zu Grunde". -




Nauplios
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Do 25. Feb 2021, 20:34

Von hier aus fällt auch noch ein Licht auf die Vorstellung, man habe es "in den Wissenschaften" - zählt die Philosophie zu "den Wissenschaften? - mit "Aussagen" - macht die Philosophie einzig "Aussagen"? - über Fakten - interessiert sich Philosophie einzig für Fakten - zu tun, deren methodologisches Erfordernis die "Falsifizierbarkeit" sei - ist die Philosophie einzig Wissenschaftstheorie?

Wollte man die eingeschobenen Fragen mit Ja beantworten, wäre die Philosophie einzig ein Reduplikat dessen, was es ohnehin schon gibt. Sie wäre überflüssig.

Das Denken, der Logos vermag mehr und anderes als methodologisch abgesicherte, falsifizierbare Aussagen über Fakten zu generieren.




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iselilja
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Do 25. Feb 2021, 20:48

Nauplios hat geschrieben :
Do 25. Feb 2021, 20:14

Mit Nichts läßt sich schlechterdings nicht leben.
Das Kriterium der Lebenstauglichkeit ist ein sowohl wesentliches als auch oft genug unreflektiertes DIng, das irgendwo immer im Hintergrund bleibt - und dennoch für so vieles verantwortlich zeichnet.

Ich hatte mal anderen Ortes geschrieben, dass wenn man ein glückliches Leben führen will, man vielleicht doch besser zur Reliogion (oder zu den Epikureern) gehen sollte - denn jene werden das Gute niemals der Wahrheit opfern. In der Philosophie sieht es umgekerht aus. - Wahrheit kann auch bitter sein. Und nicht jeder kann mit einer Wahrheit am Ende leben oder glücklich sein.

Dieser lebenspragmatische Aspekt der Hinterfragung vom Sinn der Philosophie an sich findet sich auch wietgehend in der fernöstlichen Philosophie wieder, die uns aber teilweise als Religion vermittelt wird, wie bspw. dem Buddhismus, wo es aber garnbicht um eine Gottheit oder ähnliches geht sondern vielmehr darum, das richtige Maß im Leben zu finden. Vor kurzen sah ich eine Doku über Bhurma glaube ich, da wurde eine Philosophin vorgestellt, die das ungefähr so erklärte: der Mensch kann nicht glücklich sein, wenn er sieht, dass um ihn herum Menschen leiden. Das ist originär buddhistisch. Und es ist zuteifst philosophisch, weil es die Frage nach Wahrheit in den relationalen Kontext des Lebens selbst stellt. Warum suchen wir denn überhaupt nach Wahrheit, doch nicht um der Wahrheit willen, sondern damit sie unserem Leben diene.

ps: Und so kann es natürlich immer auch Wahrheiten geben, bei denen selbst Philosophen ins Wanken kommen und sich fregen, ob sie eine solche Wahrheit denn überhaupt wissen wollen. :-)
Zuletzt geändert von iselilja am Do 25. Feb 2021, 21:05, insgesamt 1-mal geändert.




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Do 25. Feb 2021, 20:58

"Wir entrinnen der Wirklichkeit nicht dadurch, dass wir uns täuschen oder getäuscht werden. Denn das Wirkliche ist dasjenige, zu dem wir nicht erfolgreich auf Abstand gehen können." (Markus Gabriel; Fiktionen; S. 17)

"Der Mensch als animal symbolicum ist ein auf Einsparung von Konfrontationen mit der Wirklichkeit […] angelegtes Wesen.“ (Hans Blumenberg; Beschreibung des Menschen; S.614)

Nur scheinbar widersprechen sich diese beiden Gedanken. Auf Abstand zum Wirklichen kann der Mensch nicht gehen, indem er sich dauerhaft im Schein einrichtet. Auf Abstand zur Wirklichkeit muß der Mensch gehen durch Symbolik - Symbolik ist etwas anderes als Fiktion - , um mit dem Absolutismus der Wirklichkeit - der ein dauerhaftes Auf-Abstand-Gehen durch Fiktionen unmöglich macht - leben zu können.

Hier hat man im Grunde genau jene oben angesprochene Akzentverschiebung. Der eine Akzent liegt auf der Wahrheit, der andere auf Wahrheitsbewältigung.

 




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iselilja
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Do 25. Feb 2021, 21:22

Nauplios hat geschrieben :
Do 25. Feb 2021, 20:58
"Wir entrinnen der Wirklichkeit nicht dadurch, dass wir uns täuschen oder getäuscht werden. Denn das Wirkliche ist dasjenige, zu dem wir nicht erfolgreich auf Abstand gehen können." (Markus Gabriel; Fiktionen; S. 17)

"Der Mensch als animal symbolicum ist ein auf Einsparung von Konfrontationen mit der Wirklichkeit […] angelegtes Wesen.“ (Hans Blumenberg; Beschreibung des Menschen; S.614)

Nur scheinbar widersprechen sich diese beiden Gedanken. Auf Abstand zum Wirklichen kann der Mensch nicht gehen, indem er sich dauerhaft im Schein einrichtet. Auf Abstand zur Wirklichkeit muß der Mensch gehen durch Symbolik - Symbolik ist etwas anderes als Fiktion - , um mit dem Absolutismus der Wirklichkeit - der ein dauerhaftes Auf-Abstand-Gehen durch Fiktionen unmöglich macht - leben zu können.

Hier hat man im Grunde genau jene oben angesprochene Akzentverschiebung. Der eine Akzent liegt auf der Wahrheit, der andere auf Wahrheitsbewältigung.

 
Jaaa. :-)

Und sind wir bereit, über diese Schiendiskrepanz zwischen Gabriel und Blumenberg hinaus zugehen? Denn ich ahne was kommen wird. Und ich weiß auch, dass es gut sein wird.

Ich hatte heute auf Arbeit wiedermal Zeit gefunden, darüber nachzudenken. So möchten andere mal Urlaub machen :lol: Wir erzählen (Rapunzel) oder perfomieren (Weihnachtsmann) unseren Kindern Geschichten - so wie das wohl vermutlich auch schon vor langer Zeit gewesen sein mag mit anderen Geschichten - damit genau diese Diskrepanz nicht nur eines Tages vom inzwischen Jugendlichen/Erwachsenen begriffen wird, sondern gerade auch damit das Kind den Unterschied von Realität und Fiktion erlebt. Es kennt somit den Unterschied und versteht beiderlei Wert. Die Symbolik, auf die Blumenberg abhebt, ist das notwendige Mittel, um diesen Unterschied einer Verwertung zuzuführen. Wir brauchen beides, um uns in der Welt adäquat orientieren zu können - und genau deshalb müssen wir dazwischen unterscheiden können. Denn wir sehen ja, was passiert, wenn immer mehr Menschen das nicht mehr können.




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Fr 26. Feb 2021, 01:50

iselilja hat geschrieben :
Do 25. Feb 2021, 21:22

Und sind wir bereit, über diese Schiendiskrepanz zwischen Gabriel und Blumenberg hinaus zugehen? Denn ich ahne was kommen wird. Und ich weiß auch, dass es gut sein wird.

(...)

Denn wir sehen ja, was passiert, wenn immer mehr Menschen das nicht mehr können.
Soweit das Wir Deiner Frage mich einschließt, ist die Antwort darauf ein klares Nein. ;)

Über irgendjemanden "hinaus" zu gehen, kalkuliert das vorhergehende Erreichen dieses jemanden ein. Jedes grundlos selbstbewußte Selbstbewußtsein wird sich an der Stelle fragen lassen müssen: wo ist der Realismus, wenn man ihn braucht? ;)

Die moralischen Bedenken, die der Hypotext (Subtext) Deines letzten Satzes mitführt, erlaube ich mir in den Wind zu schlagen, sofern sich damit eine gesellschaftspolitische "Relevanz" des philosophischen Denkens oder der Auftrag dazu verbindet. "Nachdenklichkeit" ist politisch nicht mobilisierbar. :-)




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