Corona

Philosophie Chat: Hier wird geplaudert über Gott und die Welt.
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Stefanie
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Do 24. Jun 2021, 18:11

Vor zwei Stunden erhielt ich meine zweite Impfung mit Astrazeneca.
Ein kleines bißchen fühle ich mich als Testperson, denn eine zweite Impfung mit dem Impfstoff nach vier Wochen gab es noch nicht so oft. Schauen wir mal und fange an die 14 Tage runter zu zählen.



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Nauplios
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Fr 25. Jun 2021, 11:32

herbert clemens hat geschrieben :
Do 24. Jun 2021, 09:31

Das Phänomen Covid 19 ist tatsächlich sehr vielschichtig. Es hat natürlich eine individuelle medizinische Komponente aber auch eine gesellschaftliche.  Die Spuren die der Konflikt über die „angemessene Krisenbewältigungsstrategie“ in der Gesellschaft hinterlässt ist enorm.
Du hattest mich ja kürzlich nach dem Artikel von Markus Gabriel in der Welt gefragt, Herbert. Ich habe zwar das Online-Abonnement der Welt immer noch nicht; dafür gibt es bei Youtube jetzt ein Interview mit Markus Gabriel bzw. ein Gespräch zwischen ihm und Alexander Doll zu sehen, moderiert von Rebekka Reinhard, stellvertretende Chefredakteurin der Philosophie-Zeitschrift Hohe Luft. Und in diesem Gespräch schildert Markus Gabriel seine Ansichten über die "Spuren, die der Konflikt über die 'angemessene Krisenbewältigungsstrategie' in der Gesellschaft hinterlassen hat":

Markus Gabriel (ab Min. 06.16):

"Dann kommt der Herbst und spätestens im Herbst trifft eben eine gescheiterte Verwaltung einer Gesundheitskrise auf die echte Tatsachenlage, nämlich daß kein reiner naturwissenschaftlich dominierter Diskurs jemals prinzipiell politische Maßnahmen begründen kann, denn eine virologische oder epidemiologische Faktenlage impliziert politisch gar nichts. [...]

Es wäre ein Kategorienfehler, zu glauben, daß die Politik sich an naturwissenschaftlichen Tatsachen orientieren kann. Und dieser Kategorienfehler herrscht jetzt seit Oktober und hat dazu geführt, daß Deutschland sowohl im europäischen und sowieso im globalen Vergleich sicher zu den Schlußlichtern der Pandemiebekämpfung gehört und zwar nicht nur wegen viel zu vieler Toter - das ist sicher auch der Fall - sondern natürlich auch deswegen, weil wir es zu keinem Zeitpunkt
geschafft haben, seit September, ein rationales, akzeptables Verhältnis zwischen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung und Aufrechterhaltung des Wertekatalogs der liberalen Demokratie herzustellen.

Kurzum: Deutschland hat sich - die ersten Klagen kommen jetzt - massive Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen lassen in dem Umgang mit der zweiten Welle, die nicht nur unter dem Thema der Kollateralschäden, sondern völlig, aus meiner Sicht inakzeptabler Grundrechtseinschränkungen über acht Monate zu Buche schlagen.

Und dieses Scheitern [...] ist gerade das Ergebnis einer meines Erachtens philosophisch in keinem Sinne vertretbaren Wissenschaftstheorie, die im Grunde genommen das Wissenschaft/Politik-Verhältnis ein Jahr lang gesteuert hat. Da sind also meines Erachtens massive Defizite aufgetreten."

"... grandios gescheitert ... massive Menschenrechtsverletzungen ... völlig inakzeptable Grundrechtseinschränkungen ... massive Defizite ..."

Der Mann wird wissen, wovon er spricht. Er ist Realist. ;)





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NaWennDuMeinst
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Fr 25. Jun 2021, 12:45

Nauplios hat geschrieben :
Fr 25. Jun 2021, 11:32
Es wäre ein Kategorienfehler, zu glauben, daß die Politik sich an naturwissenschaftlichen Tatsachen orientieren kann.
Genau. Besser ist es sich nicht daran zu orientieren so wie in Brasilien wo es zuerst ja gar kein Coronavirus gab, dann war Covid nur ein Schnupfen und dann hat man sich gedacht, dass die Toten eben zum Wohle des Landes geopfert werden müssen.
Eine Erfolgsstory sondersgleichen. Herr Gabriel, ziehen sie doch nach Brasilien, wo man sie verstanden hat.
Sie brauchen sich vor ihrer Abreise auch nicht impfen lassen, denn so eine Impfung wäre ein schwerer "Kategorienfehler".



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Nauplios
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Fr 25. Jun 2021, 15:49

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Fr 25. Jun 2021, 12:45
Nauplios hat geschrieben :
Fr 25. Jun 2021, 11:32
Nur damit es nicht vollends miteinander verschmilzt: ich habe zitiert. ;)

Es geht ja in den Beiträgen von Markus Gabriel zu diesem Gespräch schwerpunktmäßig um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Er lobt sehr, daß es zu Beginn der Krise beim ersten Lockdown gelungen ist, "Rationalität" walten zu lassen. In dieser Phase agierten Wissenschaft und Politik rational miteinander; man habe der Moral den Vorzug vor der Ökonomie eingeräumt, sagt er auch an anderer Stelle.

In diesem Video spricht Gabriel in Bezug auf das Verhältnis von Politik und Wissenschaft (ab Herbst vergangenen Jahres) von "unzulässigen Vereinfachungen" von seiten der Wissenschaft. Und er gibt dafür ein Beispiel:

"Das fängt an bei Behauptungen über exponentielles Wachstum [...] Es wird behauptet, die Menschen wüßten nicht, was es ist ... Aber eines wissen wir: keine der Kurven, die wir gesehen haben, war eine Exponentialfunktion, gottseidank . Es ist ja ein grober Unsinn, daß wir ein Jahr gehört haben irgendwas über Exponential, was damit gar nichts zu tun hatte." (ab Min. 13.14)

Nun haben wir alle "ein Jahr lang" diesen "groben Unsinn" über das exponentielle Wachstum gehört. Und nun stellt sich die Frage, wie Gabriel zu seiner Einschätzung kommt (nicht nur an diesem Beispiel, sondern auch allgemein). - Gleich zu Beginn seines ersten Statements spricht er von "Tatsachenfragen", die man klären müsse, von einer "Faktenlage" ... er sagt: "was faktisch passiert ist" ...

Dieser ständige Bezug auf "Tatsachen", auf "Fakten" ist für einen Realisten zunächst nichts Besonderes. Erstaunlich daran ist etwas anderes: daß die Wissenschaften, die es doch auch mit der Realität und der Faktenlage zu tun haben, von einer Exponentialfunktion sprechen und der Realist Gabriel diesbezüglich von "grobem Unsinn" redet. "Keine der Kurven, die wir gesehen haben, war eine Exponentialfunktion."

Wer ist dichter an der Realität, die Wissenschaften, die von der Exponentialfunktion sprechen und die dazugehörigen Kurven zeigen oder der Realist Markus Gabriel?

Er sagt ja in dem ersten Statement zweimal "meines Erachtens". Offensichtlich kommt dieses Erachten aber zu einem ganz anderen Ergebnis als das Erachten der Wissenschaften. - Wie ist das möglich? ;)

Übrigens - später im Video kommt Markus Gabriel auch auf "moralische Tatsachen" zu sprechen. ;)
Zuletzt geändert von Nauplios am Fr 25. Jun 2021, 16:00, insgesamt 3-mal geändert.




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Nauplios
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Fr 25. Jun 2021, 15:55

Hm, jetzt ist beim Zitieren etwas schiefgelaufen wie man sieht. Was unter NWDM als Zitat steht, ist natürlich von mir. Ich denke, man kann uns dennoch auseinanderhalten. ;)




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NaWennDuMeinst
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Fr 25. Jun 2021, 15:58

@Nauplios: Entschuldige den Zitierfehler. Es sieht so aus, als ob ich Dich zitiert hätte, dabei war das Zitat selber nur ein Zitat (Du zitierstest Gabriel).
Ich wende mich in meiner Antwort zwar direkt an Gabriel, aber trotzdem könnte der Eindruck entstehen Ich hätte mich auf Aussagen von Dir bezogen.
Sorry.

Zu Gabriel sage ich jetzt einfach nichts mehr. Je mehr ich von dem höre desto weniger kann ich den Kerl leiden.



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Nauplios
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Fr 25. Jun 2021, 16:01

Alles gut, NaWennDuMeinst. Jeder weiß, was gemeint ist.




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Jörn Budesheim
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Fr 25. Jun 2021, 20:01

Untersuchen die Naturwissenschaften eigentlich ethische Fragen oder Wertfragen?




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NaWennDuMeinst
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Fr 25. Jun 2021, 22:07

Nein, das machen sie nicht. Aber Ethik und Moral entstehen nicht im luftleeren Raum.
Man kann kaum erkennen, dass es um Leben und Tod geht wenn man keine Naturwissenschaft hat (oder jene aus der Entscheidungsfindung aussperrt) die eine biologische Bedrohung überhaupt als solche erkennt.
Insofern kann Naturwissenschaft auch - als Ratgeber und Wissenslieferant - wichtig und entscheidend bei ethischen und moralischen Fragen sein.
Und so begreife ich auch das was passiert ist.
Gabriels Vorwurf, die Naturwissenschaft hätte hier das (politische) Ruder übernommen, finde ich unhaltbar.
Man hat sich einfach nur entschieden die Warnungen der Wissenschaftler ernst zu nehmen und die Wissenschaft um Hilfe gebeten bei der Frage welche Maßnahmen nötig sind um dieses oder jenes Ziel zu erreichen.



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Stefanie
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Fr 25. Jun 2021, 22:46

Im Moment liefern sie uns Daten, Berechnungen, Modellieren, Wahrscheinlichkeiten, Modelle usw. Es gibt zudem unterschiedliche Methoden und Annahmen. Es wird gesagt, wenn dies oder jenes vorliegt, geschieht dies oder jenes, macht man das oder dies, passiert wohl dies, Zahlen rauf, Infektionen runter usw.
Diejenigen, die entscheiden, also die Politik , entscheiden sich für eine der Modelle, Berechnungen etc. Darauf basieren dann ihre Entscheidungen. Wieso ist das Kategorienfehler? Entscheidungen brauchen eine Grundlage.
Daher verstehe ich den Satz "Es wäre ein Kategorienfehler, zu glauben, daß die Politik sich an naturwissenschaftlichen Tatsachen orientieren kann." nicht.
Zumal dies dann auch für das zweite große Thema, Klimaschutz, gelten würde.
Er sagt allerdings, orientieren. Die Politik kann auch sämtliche Naturwissenschaften völlig ignorieren, wohin das allerdings führt, kann man derzeit auch gut beobachten. Nicht nur bzgl. Corona.

Mir sind diese Aussagen ehrlich gesagt, gerade etwas suspekt. Zu mal gerade die Aussage zur Expotentialfunktion Wasser auf den Mühlen derjenigen ist, die alles nicht so schlimm finden oder gar leugnen.
Wenn er schon Deutschland ein schlechtes Handeln vorwirft, dann müssen in den Augen von Gabriel Staaten wie Frankreich, Portugal, Spanien, Australien, ganz schlimme totalitäre Herrschaftssyteme sein.



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NaWennDuMeinst
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Sa 26. Jun 2021, 00:57

Das Problem hier ist einfach, dass sich einige Leute übergangen fühlen. Es stinkt diesen Leuten, dass die Wissenschaft befragt wird, anstatt sich für die Meinung der vielen selbsternannten "Experten" zu interessieren. Und sie verstehen nicht wieso das so ist.
Ich schon. Denn wenn ich mir anschaue was aus diesen Ecken für Vorschläge gemacht werden, dann kommt mir das kalte Grausen.
herbert zum Beispiel schlägt allen Ernstes vor wir sollten die Pandemie und ihre Auswirkungen mit einer Art "Gruppenkuscheln" bekämpfen.
Das ist, bei einem Erreger der sich hauptsächlich über enge menschliche Kontakte rasend schnell verbreitet, einfach absoluter Irrsinn sowas vorzuschlagen.
Aber egal wie oft man das anhand von Fakten erklärt, es werden dann einfach entweder frei erfundene oder nicht in den Kontext passende "Fakten" dagegen gehalten.
So zum Beispiel dass das Gruppenkuscheln die Seele erfreut und das dann in Kombination mit frischer Luft Infektionen verhindert und Erkrankungen heilt..
Es tut mir leid, aber ich überlassen solchen Leuten und ihrem esoterisch angehauchten Gefolge doch nicht die Entscheidung darüber wie die Pandemie zu bekämpfen ist.
Ich bin doch weder irre noch lebensmüde. Und ich erwarte von einer Regierung die noch halbwegs eine solche genannt werden will und noch ihre Sinne beisammen hat, dass sie das selbe tut.

Aus dem Gesagten soll man nun bitte nicht ableiten, dass ich die Wissenschaft für unfehlbar halte, oder glaube dass in allen Fragen des Lebens und der Gesellschaft stets die Wissenschaft den Ton anzugeben hat. Ich glaube auch nicht, dass es im Verlauf der Pandemie nicht auch Fehlentscheidungen gegeben hat. Eine globale Pandemie in den Griff zu kriegen ist doch nicht das selbe wie Dreiradfahren. Das da Fehler passieren und Dinge übersehen werden ist völlig normal. Und das war auch zu erwarten.
Aber weil das so ist kann man doch jetzt nicht verlangen, dass wir jeden noch so irren Vorschlag berücksichtigen.

Es ist richtig vor einem Tunnelblick zu warnen. Aber das bedeutet nicht, dass jede verrückte, unqualifizierte Meinung zu dem Thema auch Berücksichtigung finden muss.
Und es kann auch nicht jedes Verlangen umgesetzt werden. Das ist übrigens auch nicht pandemiespezifisch. Das ist in ganz gewöhnlichen Zeiten auch so.
Es müssen stets Interessen gegeneinander abgewägt werden und das bedeutet dann auch oft, dass Einer den Kürzeren zieht. Das ist in vielen Fällen bedauerlich, aber in genauso vielen Fällen einfach nicht zu ändern oder sogar nötig.



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Nauplios
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Sa 26. Jun 2021, 01:55

Stefanie hat geschrieben :
Fr 25. Jun 2021, 22:46

Mir sind diese Aussagen ehrlich gesagt, gerade etwas suspekt. Zu mal gerade die Aussage zur Expotentialfunktion Wasser auf den Mühlen derjenigen ist, die alles nicht so schlimm finden oder gar leugnen.
Das Gabriel'sche Wasser treibt die Mühlen "derjenigen, die alles nicht so schlimm finden oder gar leugnen" in der Tat an. In der Welt vom 19. Mai hat Markus Gabriel einen Artikel über "Lockdown-Mythen" geschrieben mit dem Titel Das Präventionsparadox-Paradox. Der Artikel beginnt so:

"Erfreulicherweise sind die Horrorszenarien, die im Gefolge der 'britischen' Variante durch die Talkshows und andere Medien geisterten (wieder einmal) nicht eingetreten. Allerdings ist die Divergenz zwischen Vorhersage und Wirklichkeit dieses Mal so drastisch ausgefallen, daß selbst die größten Bewunderer der Wahrsagekunst der Modellierer Zweifel hegen.

Diese Lücke zwischen pompöser Vorhersage und faktischer Wirklichkeit wird nun mit einem erneuten, etwas kleinlauten Hinweis auf das vermeintliche Präventionsparadox im logischen Hauruckverfahren geschlossen. Leider handelt es sich dabei um Pseudo-Wissenschaft."

Die "Wahrsagekunst der Modellierer" ... das "vermeintliche Präventionsparadox" ... "im logischen Hauruckverfahren" ... "Pseudo-Wissenschaft" ... "Horrorszenarien" ... - Ja, das findet in der Tat den Beifall von einer bestimmten Seite. Denn zur Faktenlage gehört auch dies:

"Sehr gute Ausführungen auch von Markus Gabriel, geboren 1980, Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn, auf w-on. Die Headline: “Das Präventionsparadox-Paradox”.

Die Quelle? - Die "Achse des Guten". (Ich verlinke jetzt mal nicht, weil diese Quelle ja seinerzeit fons non gratus war.)

Man würde Markus Gabriel Unrecht tun, wenn man ihn in dieses Umfeld verorten würde. - Von "meines Erachtens" ist in dem oben Zitierten allerdings keine Rede, dafür von "Wirklichkeit" und "faktischer Wirklichkeit". Dem setzt Gabriel die "Mythen" des Lockdowns gegenüber inklusive "Horrorszenarien" und "Wahrsagekunst".

Was ist das? Verschwörungstheorie?

In der Welt vom 22. April schreibt Markus Gabriel von einem "Angriff auf die Vernunft":

"Die Errungenschaften der Hochkultur – die Gastronomie, das Reisen, die Kulturszene, die Schulen, die Bibliotheken und die Universitäten – bleiben bis auf Weiteres geschlossen, ohne jegliche Aussicht auf Verbesserung. Gleichzeitig wird Menschen großes Leid zugefügt mit dem Hinweis, man wolle sie und andere beschützen – ohne dass jemals mit wissenschaftlicher Hilfe Mittel gesucht oder gar gefunden wurden, um Kindern, Jugendlichen, Studierenden, Genesenen und Geimpften nach Monaten eines nicht nachvollziehbaren Lavierens und Zögerns endlich wieder ein Leben in Würde und Freiheit zu ermöglichen. Das ist ein Anschlag auf die Vernunft, der sich längst nicht mehr sinnvoll durch den Hinweis auf die weiterhin allzu reale Bedrohung durch das Virus rechtfertigen lässt." 

Hier finden wir eine sehr ähnliche Diktion wie in dem Artikel vom 19. Mai: "Großes Leid" wird Menschen zugefügt mit dem Hinweis, man wolle sie beschützen ... Ein "Anschlag auf die Vernunft".

Schon allein das Wort "Anschlag" entfaltet ein sehr drastisches und suggestives Bild. Und wir können davon ausgehen, daß einem Philologen wie Gabriel die Suggestivwirkung seiner Sprache bewußt ist.

Wenn wir Markus Gabriel keine verschwörungstheoretischen und keine rechtspopulistischen und keine verharmlosenden Absichten unterstellen wollen - ich zumindest würde das nicht wollen - wo müssen wir denn dann diese Kritik ("grandioses Scheitern", "massive Menschenrechtsverletzungen" u.ä.) verorten?




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NaWennDuMeinst
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Sa 26. Jun 2021, 01:58

Stefanie hat geschrieben :
Fr 25. Jun 2021, 22:46
Er sagt allerdings, orientieren. Die Politik kann auch sämtliche Naturwissenschaften völlig ignorieren, wohin das allerdings führt, kann man derzeit auch gut beobachten.
Ja, eben. An wem sollen wir uns denn sonst orientieren?
Die Klofrau die sich erst letztens als Heilpraktikerin und Homöopatin selbstständig gemacht hat und ihren Patienten empfiehlt ihre Krebserkrankung mit Heilkristallarmbändern und kleinen Zuckerkügelchen zu behandeln?
Oder den Erzkapitalisten für den jeder Covidtote nur ein billiges Opfer auf dem Altar des Mammon ist?
Oder die Philosophen, die während bereits die dritte Welle anrollt immer noch über Grundsatzfragen diskutieren?
Oder den Pfarrer der gemeinsam mit seiner Gemeinde die Pandemie "wegbeten" will?
Oder den chronisch frustrierten AFD-Wähler der die Pandemie instrumentalisiert um damit Stimmung gegen die von ihm gehasste Regierung zu machen?
Oder die ganzen Verschwörungstheoretiker die meinen Corona sei wahlweise eine Lüge oder im Labor gezüchtet worden?

Soll ich die fragen? Ich bin doch nicht bekloppt. Keinen von denen drehe ich auch nur eine Sekunde meinen Rücken zu.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Sa 26. Jun 2021, 02:35, insgesamt 1-mal geändert.



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Sa 26. Jun 2021, 02:06

Nauplios hat geschrieben :
Sa 26. Jun 2021, 01:55
Wenn wir Markus Gabriel keine verschwörungstheoretischen und keine rechtspopulistischen und keine verharmlosenden Absichten unterstellen wollen - ich zumindest würde das nicht wollen - wo müssen wir denn dann diese Kritik ("grandioses Scheitern", "massive Menschenrechtsverletzungen" u.ä.) verorten?
In den Rubriken "Klugscheisserei" und "Maulheldentum".
Gabriel befindet sich in einer viel besseren Position. Er weiß nämlich, dass wir das Risiko seinen Ratschlägen zu folgen nicht eingehen können.
Diesen Kritiker könnte man nur auf eine Weise das Maul stopfen, nämlich in dem man seinen Forderungen nachkommt und dann lastwagenweise die Leichen wegschafft.
Der Preis dafür, anschliessend dabei zuzusehen wie Gabriel von einem wütenden Lynch-Mob aufgehängt wird, wäre zu hoch.
Und deshalb kann er die Klappe so weit aufreissen.

(Ich bin mir der suggestiven Wirkung meiner Wortwahl bewusst).

Oder nochmal anders und weniger polemisch: Es ist leicht Maßnahmen zu fordern wenn man das Ergebnis am Ende nicht verantworten muss.
Wenn das Spiel mit den Lockerungen schief geht, dann steht ja hinterher nicht Gabriel am Pranger, sondern die Regierung.

Achja, noch was: Keine Pseudowissenschaft wäre es übrigens wenn Gabriel auch erwähnen würde wie oft die "Modellierer" im Laufe der Pandemie auch richtig lagen mit ihrer "Wahrsagerei". Aber das ist wohl von einem wie ihm nicht zu erwarten.



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Sa 26. Jun 2021, 02:43

Achso ja.
Die "pseudowissenschaftlichen Klimamodellierer" haben uns schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts geweissagt, dass das alles kein gutes Ende nehmen wird.
Aber zum Glück gab es dann doch immer irgendeine Gaby zur richtigen Zeit am richtigen Ort die uns glaubhaft versichert hat das sei alles nicht so schlimm wie es in den "pseudowissenschaftlichen Modellen" aussieht.
Von denen ist jetzt übrigens auch keiner mehr zu sehen. Die Dresche bekommen ersatzweise die aktuellen Amtsträger.
So lässt es sich als Kritiker-Gaby doch gut leben.



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Sa 26. Jun 2021, 02:59

Versuch einer Antwort:

Ich glaube nicht, daß Markus Gabriel die Gefahr durch das Virus und seine Varianten leugnet. Er selbst spricht ja von einer "allzu realen Bedrohung". Es geht ihm nicht um Verharmlosung u. dgl. Außerdem lobt er ja sehr klar und deutlich die Politik und den von ihr beschlossenen ersten Lockdown aus dem Frühjahr des vergangenen Jahres. - Seine vernichtende Kritik richtet sich gegen das politische Management der Coronakrise an Herbst 2020. Er ist auch nicht gegen die Wissenschaften, sondern gegen das falsche Verhältnis von Politik und Wissenschaft(en) bei den beschlossenen Maßnahmen der letzten acht Monate. Es fehlt ihm die Einbeziehung der Geisteswissenschaften, insbesondere wohl auch der Philosophie. "Kategorienfehler" meint in dem Zusammenhang, daß das politische Mandat nicht auf eine kleine Gruppe von Virologen, Epidemiologen, Modellierern übertragen werden darf, deren Expertise dann zur alleinigen Grundlage und Orientierung für die politischen Entscheidungsträger wird.

"Massive Menschenrechtsverletzungen" - das ist natürlich schon das ganz große Besteck des politischen Urteilens. Ich würde mir das in der Form nicht zu eigen machen wollen; finde allerdings auch, daß die "Bewältigung" der Coronakrise seit Herbst von einem politischen Dilettantismus geprägt war, der nach 1945 seinesgleichen nicht hat. "Fehler" sind geschenkt. Aber ein politisches Totalversagen darf man auch so nennen. In dieser Hinsicht bin ich auf der Linie von Markus Gabriel. Deswegen sind aber weder Gabriel noch ich Coronaleugner. (Meine erste Impfung ist am kommenden Montag - Biontech) ;)

Wer die "Qualitäts- und Leitmedien" (Gabriel im Interview mit 3-Sat-Kultur) einschaltet, wird täglich mit harscher und auch vernichtender Kritik am Regierungshandeln konfrontiert. Das ist eigentlich nichts Besonderes. - Hier im Forum ist das etwas Besonderes. Hier ist der Ausdruck "Leitmedien" ja, wie Jörn kürzlich schrieb "nicht mehr weit entfernt vom Ausdruck 'Lügenpresse'".

Die Kritik, die Gabriel äußert, ist ohne Zweifel in ihrer Wortwahl drastisch und manchmal unangemessen. Wenn man sich dazu so positioniert wie NWDM, dann stellt sich doch die simple Frage, ob ein Markus Gabriel hier bei Dialogos nicht eine persona non grata wäre. Wie könnte man sich eine Diskussion zwischen ihm und NWDM vorstellen? ;)




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Sa 26. Jun 2021, 03:10

Ach, ich seh' gerade, die Antwort auf die Frage, wie man sich eine Diskussion zwischen Dir und Markus Gabriel vorstellen kann, NaWennDuMeinst, hast Du schon vorab gegeben: "Klugscheißerei ... Maulheldentum ... das Maul stopfen ... Lynchmob ... " ;)

Mit anderen Worten, eine solche Diskussion zwischen Dir und Gabriel kann man sich gar nicht vorstellen. - Warum überrascht das jetzt nicht? - ;)




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Sa 26. Jun 2021, 03:20

Wenn Markus Gabriel behauptet,

"keine der Kurven, die wir gesehen haben, war eine Exponentialfunktion. Es ist ja ein grober Unsinn, daß wir ein Jahr gehört haben irgendwas über Exponential, was damit gar nichts zu tun hatte." 

ist das dann eine Falschmeldung?




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Sa 26. Jun 2021, 03:46

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 26. Jun 2021, 00:57

herbert zum Beispiel schlägt allen Ernstes vor wir sollten die Pandemie und ihre Auswirkungen mit einer Art "Gruppenkuscheln" bekämpfen.
Das ist, bei einem Erreger der sich hauptsächlich über enge menschliche Kontakte rasend schnell verbreitet, einfach absoluter Irrsinn sowas vorzuschlagen.
Das meint der Herbert nicht so. ;) (hoffe ich)

Aber Du hast natürlich recht, NaWennDuMeinst. So geht es in der Tat nicht.

Ich will mir nicht anmaßen, Dir zur Impfung zu raten, Herbert. Das kann ich aus meiner Position heraus nicht; dazu fehlen mir ja auch die Einzelheiten. Das muß jeder selbst für sich entscheiden. - Für mich war das immer klar, daß ich mich impfen lassen würde, erst recht nach meiner eigenen Infektion mit dem Virus im vergangenen Jahr. Meine Freundin hatte sich bei ihrem Vater angesteckt, der wochenlang beatmet werden mußte mit Luftröhrenschnitt und bis heute noch nicht wieder das Bett verlassen hat. Das ist jetzt mehr als ein Jahr her. - Meine Freundin (Asthmatikerin) hat eine Woche im Krankenhaus gelegen und mußte gottseidank nicht auf die Intensivstation. Sie hat Long-Covid mit Erschöpfungszuständen, Geschmacksverlust, Wortfindungsstörungen, auch nach einem Jahr noch. Besuche bei Lungenärzten und Neurologen haben nichts gebracht. Ich selbst bin glimpflich davon abgekommen; ich könnte Dir aber Einzelheiten berichten, Herbert, die Dich nachdenklich stimmen würden.

Das Coronavirus, Herbert, willst Du nicht haben!!!

Geh' noch mal in Dich! ;)




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Sa 26. Jun 2021, 04:19

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Sa 26. Jun 2021, 02:06

(Ich bin mir der suggestiven Wirkung meiner Wortwahl bewusst).
Ja, das glaube ich Dir schon, NaWennDuMeinst. - Es geht aber nicht nur um eine "suggestive Wirkung". Mit einer Wortwahl wie "Maul-Stopfen ... aufhängen ... Lynchmob ..." verbindet sich keine Einladung zum Gespräch. ;)

Jemandem das "Maul stopfen" bedeutet ja gerade, daß er nicht mehr sprechen kann.

Wie ist denn unter dieser Voraussetzung noch so etwas wie Diskurs möglich? - Gar nicht mehr.

Keine Frage, man muß sich die Kritik Gabriels an den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nicht zu eigen machen ... , aber "Maul stopfen" ... "aufhängen" ... ???

Man kann auf die "Achse des Guten" verzichten, aber wenn man erwägt, wie man dem prominentesten deutschen Vertreter des Neuen Realismus am besten "das Maul stopfen" könnte, dann ist das Spaltungsrhetorik. Und zwar eine der übelsten Art. Wenn schon mit Markus Gabriel kein Gespräch mehr möglich ist, mit wem denn dann? -

Das Ergebnis einer solchen Spaltung ist, daß man sich irgendwann in einer Blase befindet, in der alle allen beipflichten und zustimmen.

"Man kann doch hier alles schreiben. Man muß halt nur damit rechnen, daß man dann auch Gegenwind bekommt." - So ähnlich höre ich es schon. - Und Gegenwind heißt: "Das Maul gestopft" bekommen?

Gegen Deine Wut-Rhetorik ist die "Achse des Guten" ein laues Lüftchen, NaWennDuMeinst. - Warum bist Du so voller Wut und Aggression???




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