Realität und mögliche Verstehensweisen eines Neuen Realismus

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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iselilja
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Do 1. Apr 2021, 20:22

Die Begriffe Realität und Wirklichkeit werden (leider!) recht häufig synonym verwendet. Der eigentliche Unterschied zwischen ihnen besteht aber darin, dass auch alles Mentale eine Wirklichkeit abbildet, die nicht der Realität vollständig entsprechen muss, und dennoch ihre Wirkung auf uns selbst hat. Unsere Leben sind (kognitiv betrachtet) meist nur eine Mischung von Kenntnis und Überzeugung, bei der mal das eine.. mal das andere überwiegt.




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iselilja
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Do 1. Apr 2021, 21:12

Und insofern sind unsere Weltanschauungen zumeist in einem für das Leben verträglichen Maße fallibel. Mit anderen Worten: wir können als Mensch damit leben (umgehen), dass wir uns irren können. Die Realität zerbricht nicht wegen unseren Irrtümern - unser Überleben hingegen manchmal schon. Nämlich genau dann, wenn der Irrtum soweit von der Realität abweicht und dabei gleichzeitig zur alleinigen Wirklichkeit wird, dass ein Scheitern unausweichlich wird.




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Jörn Budesheim
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transfinitum hat geschrieben :
Mi 31. Mär 2021, 20:31
Ich würde es so verstehen, dass Gabriel ein "physikalisches" Realitätskriterium" ausschliesst. Darüber hinaus las ich, dass sich Gabriel von der Metaphysik distanziert, aber ist ein Ausschluss einer physikalischen Gegebenheit nicht wiederum auch Metaphysik?
Was Gabriel ausschließt ist, dass es einen Bereich alle Bereiche gibt. Das heißt, dass es keine "Anordnungs-Regel" gibt, die alles zusammenfassen kann. So etwa wie bei dem Tisch Beispiel weiter oben, so dass man sagen könnte: aber in Wirklichkeit gibt es nur den "physikalischen Tisch". So wie ich Gabriel verstehe, macht er geltend, dass "Eigenschaften" dieser Art nicht in den Existenz Begriff "eingebaut" sind. Existieren heißt demnach nicht notwendigerweise, physikalisch zu sein - oder als Gegenstück geistig zu sein.

Einer der philosophischen Hauptgegner Gabriels ist der metaphysische Realismus, demgemäß es - zumindestens so wie ich es verstehe - letztlich eine einzige wahre Beschreibung der Welt geben müsse. Nach Gabriel ist die Wirklichkeit jedoch in vielfältiger Art und Weise beschreibbar; und das ist kein grundsätzlicher Effekt unserer Diskurs-Praktiken, sondern legt an der inneren Struktur der Wirklichkeit selbst: sie ist in sich vielfältig, die Vielfalt ist nicht etwas, was wir gewissermaßen einer in sich flachen Wirklichkeit spendieren. Die Wirklichkeit selbst ist unendlich bunt.

Dafür hat Gabriel zwei sehr schöne bündige Formulierungen anzubieten. Seine Ontologie wendet sich gegen zwei extreme Positionen. Die eine nennt er "die Welt ohne Zuschauer" und die andere "Zuschauer ohne Welt". Die eine Position postuliert in ihrer Extremform (dazu würde ich den metaphysischen Realismus zählen), dass nur das wirklich wirklich ist, was es auch ohne Zuschauer geben würde. Und die andere Position postuliert in ihrer Extremform (dazu würde ich gerade gerade Formen des Antirealismus zählen), dass die Welt für uns letztlich unerkennbar bleibt und wir nur im Gespinst unsere eigenen Vorstellungen verwoben sind.




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iselilja
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Fr 2. Apr 2021, 21:18

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 2. Apr 2021, 07:38


Einer der philosophischen Hauptgegner Gabriels ist der metaphysische Realismus, demgemäß es - zumindestens so wie ich es verstehe - letztlich eine einzige wahre Beschreibung der Welt geben müsse. Nach Gabriel ist die Wirklichkeit jedoch in vielfältiger Art und Weise beschreibbar; und das ist kein grundsätzlicher Effekt unserer Diskurs-Praktiken, sondern legt an der inneren Struktur der Wirklichkeit selbst: sie ist in sich vielfältig, die Vielfalt ist nicht etwas, was wir gewissermaßen einer in sich flachen Wirklichkeit spendieren. Die Wirklichkeit selbst ist unendlich bunt.

Das beschreibt in etwa das, was man mit Intersubjektivität ganz gut erklären kann. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man Realität und Wirklichkeit nach den Maßstäben objektiv und subjektiv überhaupt trennen kann. Und ich denke das kann man.

Mit Subjektivität ist hier natürlich nicht nur gemeint, dass jemandem Vanilleeis besser schmeckt als Schokoeis, sondern sie umfasst auch all unsere Handlungs- und Näherungsmechanismen. Das heißt, wie wir individuell mit den Dingen umgehen. Und auch, was Dinge/Sachverhalte unserer individuellen Erfahrung nach bedeuten.
Zuletzt geändert von iselilja am Fr 2. Apr 2021, 21:22, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Fr 2. Apr 2021, 21:22

Ich kann beim besten Willen keinen Zusammenhang zwischen dem Zitat und deinen Kommentar erkennen.




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iselilja
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Fr 2. Apr 2021, 21:24

Dann laß Dir Zeit dafür. :-) Wenn die Wirklichkeit so bunt ist, wie Du bei Gabriel herausliest, dann wird es den Zusammenhang schon geben.
Zuletzt geändert von iselilja am Fr 2. Apr 2021, 21:25, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Nö.




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Fr 2. Apr 2021, 21:28

Ja.. ich denke eigentlich auch, das Gabriel falsch liegt.




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iselilja
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Fr 2. Apr 2021, 21:46

Daran lässt sich übrigens auch ganz gut erkennen, woran Gabriels Philosophie im Ganzen krankt. Sie dichtet einer Realität, von der wir bereits wissen, dass sie einzigartig ist, eine Vielfältigkeit an, die in jeder Sekunde unseres Daseins widerlegt wird. Ein Beinbruch ist eben ein Beinbruch und nicht ein schönes Gemälde eines Beinruchs oder sonst irgendwas anderes. Fakten sind so wie sie sind. Wie wir sie dann subjektiv beurteilen, ist etwas anderes.

Aber genau das meint Gabriel ja nicht. Gabriel glaubt, dass Subjektivität eine objektive Gegebenheit ist, die genau so stattfindet, wie das Subjekt es erlebt. Wenn das so wäre, gäbe es keine Fallibilität.




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Fr 2. Apr 2021, 21:54

Und um das auch kurz noch zu beweisen.. erinnern wir uns an die Tafel mit den drei Quadraten. Gabriel meint, dass dort indefinit viele Gegenstände an der Tafel sind. Das ist aber falsch, weil die zwölf Seitenkanten bspw. nicht ohne die Quadrate sein können. Beides wird also NOTWENDIGERWEISE zusammen betrachtet. Es gibt also an der Tafel real nur eines, was wir auf unterschiedliche (indefinite) Weise analysieren können.

Gabriel müsste auch keine weiteren drei Quadrate an die Tafel malen, damit jemand beim Anblick an Kreidemoleküle denkt. Es sind dieselben drei Quadrate, bei denen das geschieht. Sie sind also in jeder nur möglichen Betrachtung identisch. Es existieren also nicht einmal die Moleküle, einmal die Seitenkanten und einmal die Quadrate. Sondern alles ist - wie bereits gesagt - ein und die selbe Sache. Es kommt auf die Hinsicht an - und die geht immer noch vom Subjekt aus.

Anderenfalls könnte Gabriel ja auch leichterdings erklären, wie die Seitenkanten ohne Moleküle existieren können. Was zu beweisen war. :-)




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Fr 2. Apr 2021, 22:36

iselilja hat geschrieben :
Fr 2. Apr 2021, 21:54
Sie [die angemalten Quadrate an der Tafel] sind also in jeder nur möglichen Betrachtung identisch.
Andernfalls wäre es auch kaum möglich, sich überhaupt über etwas zu verständigen, wenn wir nicht einmal sagen könnten, über was genau wir reden. Es muss also allein dafür etwas da sein, was objektiv nicht aus der Welt zu schaffen ist, dadurch, dass wir unterschiedlich beurteilen.

Und genau das meinte ich auch in einem meiner Anfangsbeiträge: real ist, was trotz neuer Erkenntnis (oder auch trotz anderer Perspektive), real bleibt. Die Quadrate an der Tafel verschwinden also nicht dadurch, dass ich beim Anblick an Moleküle denke. Sie sind also real.

ps: Das selbe gilt übrigens auch für Frau Merkel, weil das Beispiel bereits vorkam. Sie ist immer identisch, völlig egal, welche gesellschaftliche oder sonstige Rolle sie dabei einnimmt oder welchen Anzug sie gerade trägt. Anderenfalls würde man Menschen auch nicht identifizieren können, wenn sie in indefiniter Weise existieren würden.




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Fr 2. Apr 2021, 22:48

Wir können also Gabriel getrost beiseite legen und aus der Philosophie eines Realismus entfernen. Es ist einfach falsch was er schreibt.




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Fr 2. Apr 2021, 22:59

Man stelle sich nur mal vor, Frau Merkel würde an Gabriels Unsinn glauben und öffentlich sagen: das war garnicht ich, sondern mein alter ego als Bundeskanzlerin, die da Osterruhetage qua Amt einführen wollte. :lol:




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Sa 3. Apr 2021, 06:52

Um das nochmal ein wenig zu verfestigen, weil ich weiß, dass es nicht jeder bereits versteht.

Wenn Quadrate an der Tafel dadurch existieren, dass sie im Sinnfeld Geometrie erscheinen, dann ist dafür das Sinnfeld Physik offenbar nicht nötig. Soweit nachvollziehbar. Man kann also die Moleküle - die im Sinnfeld Physik erscheinen - von der Tafel wischen, und es müssten die Quadrate im Sinnfeld der Mathematik übrig bleiben. Das ist nicht der Fall. Also ist es falsch, was Gabriel angibt. Denn nun ist klar, dass es nur eines gibt, was Kant als Ding an sich bezeichnete, und was wir auf unterschiedliche Art analysieren oder auch synthetisieren können. Präziser: wir bilden Urteile darüber.
Zuletzt geändert von iselilja am Sa 3. Apr 2021, 07:09, insgesamt 1-mal geändert.




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Sa 3. Apr 2021, 07:01

Betrachtet man hingegen die selbe Situation prozessontologisch, stellt sich auch die Frage ganz anders. Man könnte sich z.B. fragen, wie oft hat Gabriel mit dem Stück Kreide auf der Tafel angesetzt. Und die Antwort wird in jedem Fall drei lauten, egal, was man letztendlich an der Tafel gedanklich fokussiert.




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Sa 3. Apr 2021, 07:46

Ich hatte ziemlich am Anfang bereits von der Kontinuität der Realität gesprochen. Nun endlich können wir dazu übergehen, Wirklichkeit und Realität auch in der Hinsicht genauer zu betrachten.

Mit Kontinuität der Realität war gemeint, dass sie keinerlei Brüche oder Inkonsistenzen aufweist. Alles was wir in der Realität wahrnehmen (beobachten) können, wirft keinerlei Verriss auf. Dinge passieren nicht aus heiterem Himmel, sondern sind in der Kausalität der Umgebung eingebettet/eingebunden. Man kann also klare zeitliche Abfolgen der Beobachtung angeben. Anderenfalls wäre Wissenschaft auch unmöglich.

Mit der Wirklichkeit hingegen ist das ein wenig anders, auch wenn sie oftmals das selbe zu sein scheint, wie die Realität. Im obigen Beispiel mit den Quadraten an der Tafel wurde festgestellt, dass Gabriel genau drei mal mit der Kreide aufsetzt, um etwas an die Tafel zu malen. Tatsächlich muss das aber nicht stimmen. Denn es könnte sein, dass er vom Zuschauer unbemerkt, aus Versehen abgesetzt und dann wieder aufgestezt hat. Die beobachtete Handlung wird also vom Beobachter in einer logischen Konsistenz zusammengefügt (synthetisiert), und das sogar im Bewußtsein, dass man sich damit irren kann. Dennoch hat der Einzelne vermutlich nichts anderes wahrgenommen. Die Wirklichkeit wird also vom bewußten Subjekt mit sinnhaften Zusammenhängen kontinuierlich ergänzt bzw. um es genauer zu sagen: komplettiert. Deshlab müssen wir auch nicht immer die Rückseite der Dinge konkrete sehen, um sie dennoch (mit einer gewissen Fallibilität) als komplettes Ding zu begreifen. In der Wirklichkeit müssen die Sinnzusammenhänge nicht notwendig der Realität entsprechen, um Sinn zu ergeben - und dennoch orientieren wir uns permanent an jener Realität, um diese Sinnzusammenhänge überhaupt herstellen zu können. Denn nur so wird die Kontinuität auch im Subjekt bewahrt.


Diese Komplettierung unserer Vorstellungen können wir durchaus auch als (realistische) Spekulation verstehen.. womit ich wieder in Richtung Meillassoux gehen will. Unser Bild von der Realität, was im Bewußtsein allerdings die Wirklichkeit ist, in der wir leben und handeln, wird im wahrsten Sinne des Wortes partiell erspekuliert. Denn unsere Handlungsoptionen werden im Bewußtsein beschlossen und nicht in den realen Dingen selbst. Dort existiert dieser Sinn überhaupt nicht, den wir aber um leben zu können, in die Welt hineinlegen müssen. Wohlgemerkt partiell! Nicht damit hier eine Verwechslung mit einer idealistischen Auffassung geschieht, die mitunter meint, dass alles Konstruktion sei.




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Sa 3. Apr 2021, 08:26

Ich hatte das bereits mit der Häuserecke beispielhaft angesprochen, hinter der wir nicht genau wissen, was gerade passiert. Aber wir haben einen Rahmen an Vorstellbarkeit, was wahrscheinlich dahinter gerade passieren kann. So könnte bspw. eine Mutter mit ihrem Kinderwagen uns begegnen, es könnte allerdings auch ein unachtsahmer Radfahrer sein. Aus diesem Pool an empirsich erfahrbaren Möglichkeiten bilden wir ein latentes Wirklichkeitsgefüge, in dem wir uns halbwegs sicher bewegen können. Realität und erlebte Wirklichkeit stimmen also nicht überein, weil unsere Wirklichkeit sowohl über den Bereich des Wahrnehmbaren als auch über den Bereich des Moments hinausgeht.




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Sa 3. Apr 2021, 09:48

Und deshalb kommt dem Wirklichkeitsbegriff auch vermehrt in der Psychologie ein Interesse entgegen - anders als beim Realitätsbegriff. Denn die Wirklichkeit spielt sich im Subjekt ab - sie ist das kognitive und fallible Gegenstück zur Realität. So kann man auch einen Realitätsverlust diagnostizieren, aber keinen Wirklichkeitsverlust.

Auch Verrückte (geistig Insuffiziente) erleben das, was sie erleben wirklich. Sie erkennen also nicht an Hand der Realität selbst, dass sie in drastischer Weise von dem real Stattfindenden abweichen.




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Sa 3. Apr 2021, 10:04

Mit der Intention eines Satyr könnte man Kreativität sogar als geistige Armut bezeichnen. Denn wie jemand vor knapp 2000 Jahren bereits feststellte, gehört jenen das Himmelreich. Dennoch bewerten wir Kreativität i.d.R. als geistige Leistung der besonderen und respektablen Art. Aber ist das in jedem Falle so? Selbstverständlich nicht, denn wir wissen dank der Wissenschaft auch, dass Lügner sehr kreative Menschen sind - vermutlich sogar diejenigen, die am häufigsten im Leben kreativ werden.

Im Gegensatz zur Realität, in der Lügen immer irgendwann zerbrechen, weil sie nicht nur logische sondern auch performative Widersprüche implizieren, kann die erlebte Wirklichkeit Lügen (ebenso natürlich Irrtümer) sehr leicht assimilieren. Und das ist auch der Grund, warum man ganze Heerscharen an Menschen zumindest für einen gewissen Zeitraum belügen kann (die Lüge integriert sich in das Wirklichkeitsgefüge des Belogenen). Der Auffassung eines gewissen G. Le Bon zufolge urteilt der Mensch häufiger gemäß seiner Gefühlslage, weniger seiner rationalen Fähigkeit nach. Menschen lassen sich - um es blumig auszudrücken - gern verführen. Genau das ist die mythische Bedeutung des Satyr.

Auf der anderen Seite ist Kreativität auch immer mit einem zeitweisen Verlassen der Realität zusammenhängig. Diese Einsichtnahme in die Welt der Möglichkeiten entspricht bis zu einem gewissen Grade auch unserem gesunden Menschenverstand, denn sonst wäre bspw. auch Zukunft überhaupt nicht planbar, nicht mal ansatzweise. Geht sie jedoch zu weit darüber hinaus, liegt zwischen Genie und Wahnsinn nur ein sprichwörtlich kleiner Schritt.


Der Mensch, so er geistig gesund bleiben will, muss sich sprichwörtlich immer wieder auf den Boden der Tatsachen fallen lassen. Was nichts anderes heißt, als die Realität als solche wahrzunehmen - zu spüren.




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Sa 3. Apr 2021, 14:09

An dem Punkt wird es nun leider auch nötig, ein paar Anleihen aus dem Gebiet militärischer Strategien zu nehmen. Der sogenannte "Kriegsnebel" bezeichnet eine Sphäre der Umgebung, die in einem hohen Maße sowohl von realer Kenntnisnahme als auch spekulativen Implikationen zu gleichen Teilen etwa durchdrungen ist. In Anlehnung an dieses Verständnis und dem anthropologischen Ansatz Plessners in Die Stufen des Organischen zeichnet sich auch unter nicht konflikthaften Bedingungen eine Sondierung der Umwelt im Allgemeinen in selber Weise ab.
Umweltenmodell realer Bezugsmöglichkeiten.png
Umweltenmodell realer Bezugsmöglichkeiten.png (17.19 KiB) 6881 mal betrachtet

Unsere Bezugnahme zur Realität ist also in der Nähe am stärksten und sichersten. Je weiter (distanzierter) sich der Bezug auf eine Sache richtet, desto weniger können wir über das reale Stattfinden aussagen, und sind insofern auf weit mehr spekulative Setzungen - die ich oben bereits als Komplettierungen erwähnt hatte - angewiesen. Das Modell in meiner Zeichnung sieht etwas liederlich aus, aber das ist so beabsichtigt, weil die Reichweite unserer Beurteilungsmöglichkeiten, sofern sie wie im Inneren Bereich hauptsächlich durch unsere Sensorik gewährleistet sind, eben nicht kreisrund ist - unsere Sinne sind sowohl in ihrer Qualität als auch in ihrer Reichweite sehr unterschiedlich. Somit ergibt sich eben jenes latente Gefühl, in der Welt zu sein, ohne sie jemals exakt definieren zu können. Der weiß verbleibende Außenbereich symbolisiert etwa das, was wir unter Metaphysik (was übrigens auch weite Teile der Abstracta berührt) verstehen dürfen.


ps: Worauf ich damit hinaus will, ist, dass Lügen oder Falschinformationen in der inneren Sphäre fast nie an Geltung gewinnen können. Sie fungieren zumeist in den äußeren und schwerer zu prüfenden Bereichen.




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