Gabriels Fiktionaler Realismus.

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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iselilja
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Do 4. Mär 2021, 20:14

Alethos hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 20:02
iselilja hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 18:15
cogito ergo sum
Das cartesianische Argumenent baut sich jedoch vor dem Hintergrund einer skeptischen Situation auf: Ich kann nichts wissen, nicht einmal, ob die Aussenwelt real ist oder ich einen Körper besitze, sondern nur dass ich denke, bezeugt, dass ich bin. Zu denken (dass er sei) schien Descartes die untrüglichste Evidenz dafür zu geben, dass er sei. Wenn auch alles andere Täuschung sein möge, so sicherlich nicht, dass er denke, weshalb sein Denken wenigstens keine Täuschung sei.

Ob du mit Descartes deinem Argument einen Dienst erweist, musst du beurteilen.
Wie ich sehe ist dir zumindest der ertse Teil der meditationes bekannt. :-) Immerhin.. entwicklungsfähig.

Was nützt das Wissen um meine "Existenz", wenn ich nichts dazu sagen kann, wie sie aussieht, wie sie sich verhält, wodurch sie kommt etc. Wenn ich also garnicht sagen kann wer oder was dieses ich ist? Wer bin ich? Aus der sicheren Erkenntnis leitet sich REIN GARNICHTS ab - daraus folgt überhaupt nichts Sicheres. Und das muss man verstehen können.. was aber ohne den zweiten Teil kaum möglich ist. Wir würden heute sicher andere Begriffe als Descartes verwenden, weil wir andere Zusammenhänge sehen oder jene Zusammenhänge aus einem Licht der zeitlichesn Distanz bewerten können. Doch was verstehen wir damit schon anderes - als die Notwendigkeit des zuvor radikal Bezweifelten?




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iselilja
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Do 4. Mär 2021, 21:25

iselilja hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 20:14
Wer bin ich?
Oder muss die Frage lauten "Was bin ich?". Aus dem cogito ergo sum lässt sich nicht einmal erschließen, welche der beiden Fragen sinnvoll sei? Denn woran wollte ich das bewerten können? Was müsste da sein, damit ich mit selbiger Gewißheit sagen kann: diese Fragestellung führt mich zurück ins Licht der Welt.

Fundiert selbiges cogito ergo sum irgendeine Logik, die mir Gewißheit verleiht? Und wenn ja welche?

Ich denke man erkennt, dass das Sicherste zugleich das immanent Nutzloseste ist.




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iselilja
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Fr 5. Mär 2021, 15:56

Alethos hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 19:48


Dass sie sich unterscheiden, z.B. dass es in der physikalischen „Welt“ determinierte Abläufe gibt in der Phantasie jedoch nicht, gibt keinen zwingenden Grund vor, ersteren als real und den letzteren als nicht-real zu bezeichnen.

Richtig @Alethos.. es gibt keinen zwingenden Grund Bäume Bäume zu nennen oder Fische Fische. Wir nenne aber Dinge oder Sachverhalte oder Systeme oder was auch immer so, damit wir es von etwas anderem unterscheiden können.

Deine Vorstellung geht dahin, dass das "Reale" selbst nochmal ein Sein hätte welches ein kriterium für seine Berechtigung bräuchte, damit man es unbedingt real nennen muss und auf keinen Fall irgendwie anders. :-) Es spielt keine Rolle, wie man es nennt, nur man muss es irgendwie benennen aus o.g. und auch sonst schon gefühlten 1000x angesprochenem Grund.

Und deshalb nennt man nämlich die eine Welt in der man bestimmte Kriterien vorfindet, die man in der anderen Welt nicht vorfindet: die Realität oder die reale Welt. Und die andere i.d.R. Gedankenwelt, Geist, Imagination, Vorstellung. Such dir was aus.

Körper-Geist-Dualismus.. sagt Dir das was? Wenn ja, hast Du schon die halbe Miete. :-)

ps: Genauso wie es keinen zwingenden Grund gäbe, nur dich mit @Alethos anzusprechen. Wir können auch alle anderen mit @Alethos hier ansprechen.. denn sie scheinen mir im wesentlichen ganz ähnlichen ontologischen Status zu haben. :lol:




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iselilja
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Fr 5. Mär 2021, 16:10

@Alethos.. eine Zwischenfrage wollte ich Dir noch stellen. Siehst Du denn wenigstens ein, dass du einem realen Auto, welches auf dich zu rast, nicht nur in Gedanken ausweichen willst (sozusagen: ach ich springe mal eben in Gedanken zur Seite.. ist ja auch real)? Und dass es auch nichts nützen würde, wenn Du dir vorstellst, dass selbiges Auto nur ein Produkt deiner Phantasie sei? Denn dass es real im Gegensatz zu den beiden anderen Varianten ist, wird dir spätestens dann klar, wenn Du von ihm erfasst wirst.

Und solltest Du dies hier nicht verstehen.. dann sorry, hoffe ich dass Du keine Kinder hast, denen Du irgendwann erklären musst, wie sie sich im Straßenverkehr zu verhalten haben.

Der Punkt hier ist nämlich folgender.. Du sagst, dass das Gedachte genauso real ist wie das nicht Gedachte und gehst dabei davon aus, dass Du immer gemäß der realen Welt denkst. Wenn das so wäre bräuchten wir sicherlich keine Philosophie, denn dann wäre es unmöglich sich zu irren. Wir irren uns aber hin und wieder. Und weil dies so ist, gibt es eben zwei Welten.

Und Gabriels Antwort auf diese Fallibilität hört sich etwa so an: Kein Mensch dürfe sich irren, denn sonst irrt er sich eben. Na toll.




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Alethos
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Fr 5. Mär 2021, 17:32

iselilja hat geschrieben :
Fr 5. Mär 2021, 15:56
Alethos hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 19:48


Dass sie sich unterscheiden, z.B. dass es in der physikalischen „Welt“ determinierte Abläufe gibt in der Phantasie jedoch nicht, gibt keinen zwingenden Grund vor, ersteren als real und den letzteren als nicht-real zu bezeichnen.

Richtig @Alethos.. es gibt keinen zwingenden Grund Bäume Bäume zu nennen oder Fische Fische. Wir nenne aber Dinge oder Sachverhalte oder Systeme oder was auch immer so, damit wir es von etwas anderem unterscheiden können.

Deine Vorstellung geht dahin, dass das "Reale" selbst nochmal ein Sein hätte welches ein kriterium für seine Berechtigung bräuchte, damit man es unbedingt real nennen muss und auf keinen Fall irgendwie anders. :-) Es spielt keine Rolle, wie man es nennt, nur man muss es irgendwie benennen aus o.g. und auch sonst schon gefühlten 1000x angesprochenem Grund.

Und deshalb nennt man nämlich die eine Welt in der man bestimmte Kriterien vorfindet, die man in der anderen Welt nicht vorfindet: die Realität oder die reale Welt. Und die andere i.d.R. Gedankenwelt, Geist, Imagination, Vorstellung. Such dir was aus.

Körper-Geist-Dualismus.. sagt Dir das was? Wenn ja, hast Du schon die halbe Miete. :-)

ps: Genauso wie es keinen zwingenden Grund gäbe, nur dich mit @Alethos anzusprechen. Wir können auch alle anderen mit @Alethos hier ansprechen.. denn sie scheinen mir im wesentlichen ganz ähnlichen ontologischen Status zu haben. :lol:
Dein Beitrag hilft überhaupt nicht weiter. Nicht nur gibst du alles falsch wieder, was ich sagte (z.B. meine ich nicht, dass „Realität selbst nochmal ein Sein“ hätte), sondern auch hast du überhaupt nicht geantwortet auf die Frage, anhand welcher Kriterien Fische in einem Sinn als real und im anderen Sinn als nicht-real zu bezeichnen sind. Es geht um die Realitätskriterien der Dinge, damit sie für dich als reale gelten können.

Du kannst dich gerne für einen grossen Philosophie-Experten halten, dagegen habe ich nichts. Nur solltest du sowohl bei der Wiedergabe von philosophischen Theorien (z.B. der SFO) als auch bei der Wiedergabe dessen, was ich sage, zeigen, dass du verstehst, was da gesagt wird. Es sei denn, du möchtest nicht ein Gespräch führen, sondern lediglich demonstrieren, für wie klug ich dich zu halten habe. :)



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iselilja
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Fr 5. Mär 2021, 18:52

Alethos hat geschrieben :
Fr 5. Mär 2021, 17:32


Dein Beitrag hilft überhaupt nicht weiter.
Falsch @Alethos. Richtig wäre gewesen: er hilft mir nicht weiter. Das liegt aber nicht an dem was ich schreibe, sondern daran wie Du liest. Nämlich selektiv. Du formst die Gednaken an Hand deiner Zielstellung, nicht an Hand dessen, was der Fall ist.

Die Kriterien hatte ich hier und in anderen Threads mehrfach gegeben. Und du hattest auch darauf geantwortet, also gehe ich davon aus, dass sie dir bekannt sind. Wenn Du aber nicht gewillt bist richtig zu lesen, dann kann ich dir auch nicht helfen zu verstehen.




DBorrmann
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 1. Mär 2021, 15:17
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 1. Mär 2021, 13:48
Eine absurde Konsequenz der zweiten Lesart ist z.B., dass es für ein und dieselbe Art von Dingen - z.B. Menschen - zwei grundsätzlich verschiedene Weisen gäbe, zur Existenz zu kommen, einmal durch Geburt, einmal durch Ausgedachtwerden.
In Romanen kommen Menschen in aller Regel auch durch Geburt ins Leben.
Ja? Wie geht denn so eine Buchgeburt?
Aber das wäre mal ein schöner Plot. Vielleicht ein Science fiction, wo sich Eltern ihre Kinder komplett ausdenken können.
Das könnte man so vielleicht wegerklären (ne, kann man eigentlich nicht, aber tun wir mal so). Aber nicht, dass Menschen keine Körpergrösse haben, weil sie in dem fiktionalen Text einfach nicht erwähnt wird (das ist eben der Unterschied zwischen etwas Realem, das seine Eigenschaften unabhängig einer Beschreibung hat, und etwas Ausgedachtem das seine Eigenschaften - bzw besser: Charakterisiserung - so und genau so hat wie es eben erdacht ist).
Eine solche Geburt ist z.B. die des Mörders Grenouille in Patrick Süßkinds „Das Parfüm“.




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Consul
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Di 7. Mai 2024, 23:36

"Das Sein gibt es nicht. An die Stelle einer metaphysischen Gesamtschau des Wirklichen ist dort die Sinnfeldontologie (im Folgenden = SFO) getreten. Diese ordnet Gegenstände Sinnfeldern zu, wobei ein Sinnfeld eine Anordnung von Gegenständen ist, die einem Regelsystem untersteht. Sinnfelder schließen stets einige Gegenstände ein und andere Gegenstände aus, die in ihrer näheren oder ferneren Umgebung auftauchen. Da es kein allumfassendes Sinnfeld gibt, sind sowohl der Einzugsbereich als auch der Vorhof eines Sinnfelds beschränkt."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 30)
Doch, es gibt den (einen) absoluten Seinsbegriff (Wirklichkeitsbegriff/Weltbegriff) und entsprechend das (eine) absolute Sein (die eine absolute Wirklichkeit/Welt). Das Sein, das sind die Seienden, die im absoluten Sinn notwendigerweise all die Seienden und damit alle Seienden sind.

Die Seienden sind in ihrer Allheit das Sein (die Wirklichkeit/Welt)—gleichgültig, ob das Sein als die (mereologische) Summe aller Entitäten oder als die (summenlose) Pluralität aller Entitäten aufgefasst wird, wobei es nur eine einzige absolute Pluralität aller Entitäten geben kann. Die Summe aller Entitäten ist selbst eine Entität und somit Teil ihrer selbst, wohingegen die (summenlose) Pluralität aller Entitäten selbst keine von den Entitäten ist, weil sie nicht eine Entität ist, sondern viele Entitäten, sogar alle Entitäten. Die Vielheit aller Dinge ist nicht ein Ding, sondern viele, alle Dinge.

Einwand: Wenn die Pluralität aller Entitäten nicht selbst eine von den Entitäten ist, dann ist sie eine Nichtentität; und folglich gibt es das Sein als Pluralität aller Entitäten nicht.
Erwiderung: Das ist falsch, denn die vielen Entitäten gibt es ja in ihrer Vielheit, und sie sind die existierende Pluralität aller Entitäten.
Es ist plurallogisch einleuchtend, dass viele Dinge nicht ein einzelnes Ding von oder unter den vielen Dingen sein können, die sie sind. Ein paar Schuhe kann nicht einer von den beiden Schuhen sein; aber das Paar Schuhe existiert, weil die beiden Schuhe existieren. Man mag bestreiten, dass es die Menge oder die Summe der beiden Schuhe gibt; aber die Existenz des Schuhpaares ist unbestreitbar.
"In diesem Rahmen ergibt sich eine naheliegende Meontologie: Was nicht existiert, existiert an anderer Stelle, indem es aus einem Sinnfeld ausgeschlossen und einem anderen zugewiesen wird."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 30)
Was nicht existiert, existiert nicht woanders, sondern nirgendwo.
"If an object is non-existent, it is non-existent. End of story."
———
"Wenn ein Gegenstand nichtexistent ist, dann ist er nichtexistent. Ende der Geschichte."
[© meine Übers.]

(Priest, Graham. An Introduction to Non-Classical Logic: From If to Is. 2nd ed. Cambridge: Cambridge University Press, 2008. p. 296)
"Sowohl Existenz als auch Nicht-Existenz sind in der Form von Relationen instanziiert. Die Existenzrelation ist der SFO zufolge eine Einrichtungsfunktion (Sinn) eines Gegenstandsbereichs. Ein faktisch soundso eingerichteter Gegenstandsbereich ist ein Sinnfeld. Die Eigenschaft, zu existieren, besteht also darin, dass einem gegebenen Sinnfeld ein bestimmter Gegenstand bzw. bestimmte Gegenstände zugeordnet sind. Unter dem Vorzeichen der Negation gilt das auch für Nicht-Existenz. Was in einem Sinnfeld nicht existiert, wird in vielen Fällen an eine andere Stelle verwiesen, existiert demnach in einem anderen Sinnfeld.

Bestreitet man beispielsweise die Existenz von Einhörnern, ist davon der Film Das letzte Einhorn nicht betroffen, dessen Interpretationen ein Sinnfeld zur Erscheinung bringen, in dem es Einhörner gibt. Von Einhörnern, die uns in Kunstwerken entgegentreten, zu sagen, sie existierten nicht, ist der sinnfeldontologischen Meontologie zufolge eine Behauptung dahingehend, dass Einhörner woanders, aber nicht hier (z. ‌B. im Zuschauerraum oder im Universum) existieren. Die uns im Medium ästhetischer Erfahrung erscheinenden Einhörner existieren folglich an einer Stelle, an anderer nicht.

Nicht-Existenz tout court, d. ‌h. als eine Eigenschaft, die einem (durch sie) bestimmten Gegenstand unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einem Sinnfeld zukommt, gibt es ebenso wenig wie Existenz tout court."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 37-8)
Falsch! Einhörner existieren"tout court", absolut nicht. Zu sagen, dass es im Film Das letzte Einhorn Einhörner gebe, bedeutet eigentlich nichts weiter, als dass es filmische Darstellungen dieser fiktiven Tiere gibt.
"Was hier nicht existiert, existiert woanders, sofern es überhaupt jemals ein Existenzkandidat war. Hexen existieren nicht in Wittenberg, aber z. ‌B. in Luthers Vorstellungen, die ihrerseits an Wittenberg gekoppelt sind und dort in Hexenverfolgungen kausale Brandspuren hinterlassen haben."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 75)
Falsch! In Luthers Kopf existierten keine Hexen, sondern nur Hexen-Vorstellungen, von denen keine eine Hexe war. In der Vorstellung existieren nur Vorstellungsbilder, aber nicht diejenigen Dinge, deren geistige Bilder sie sind.
"Es ist nämlich keine Selbstverständlichkeit, die fiktionalen Gegenstände als nicht-existierend zu verbuchen. Es ist jedenfalls keine analytische Wahrheit, dass fiktionale Gegenstände nicht existieren."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 109)
Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit; und selbst wenn die Nichtexistenz fiktionaler Gegenstände keine analytische Wahrheit wäre (die sich allein aus der Bedeutung von "fiktional"/"fiktiv" ergibt), so bliebe die Postulierung existenter (oder realer) fiktionaler Gegenstände nichtsdestoweniger eine ontologische Unsinnigkeit.
"Fiktive Gegenstände existieren ebenso wie fiktionale Gegenstände. Gretchen ist nicht weniger wirklich als Faust. Der Tragödie erster Teil."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 123)
Nein, Gretchen ist nicht weniger unwirklich als Faust, wenn damit Goethes gleichnamiger Text als abstraktes Artefakt gemeint ist. Denn der Faust-Text existiert nur in Form des materiellen Manuskripts und materieller Buchkopien sowie neuronal encodiert im Gedächtnis derjenigen, die ihn auswendig gelernt haben. Der Faust-Text "an sich" als abstrakter Text-Typ ist bloß ein nichtexistentes Objekt kollektiver Intentionalität.
"Es besteht kein analytischer Zusammenhang zwischen Fiktion und absoluter Nicht-Existenz, wie der Mainstream der gegenwärtigen Ontologie unkritisch annimmt. Es ist an der Zeit, einen seit einigen Jahrzehnten grassierenden philosophischen Mythos zu demaskieren. Dieser Mythos besagt, dass es fiktionale Gegenstände gibt, die als ein bedeutsamer Fall nicht-existierender Gegenstände angeführt werden können – bedeut-sam deswegen, weil uns scheinbar im Medium fiktionaler Darstellung die Bezugnahme auf diese besondere Art nicht-existierender Gegenstände gelingt. Dies generiert einen paradoxie-anfälligen Prämissenrahmen, der durch die handelsüblichen Theoriekonstruktionen stabilisiert werden soll. Doch zu diesem Entwurf lässt sich eine Alternative entwickeln, z. ‌B. der in diesem Buch verteidigte fiktionale Realismus, der Fiktionen als etwas Wirkliches behandelt, in dem fiktive Gegenstände existieren."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 124-5)
Es gibt (streng genommen) keine nicht-existierenden Gegenstände, aber manche Gegenstände, darunter alle fiktiven, existieren nicht. Sein fiktionaler Realismus überzeugt mich nicht im Geringsten, zumal allein der Name den normalsprachlichen Gebrauch von "fiktional"/"fiktiv" und "real" als Antonyme pervertiert.
"fiktiv//real"

(Müller, Wolfgang, & Jakob Ebner. Das Gegenwort-Wörterbuch. 2. Aufl. Berlin: de Gruyter, 2020. S. 278)
"Ein Sinnfeld ist eine Anordnung von Gegenständen, die unter Anordnungsregeln steht. Diese Anordnungsregeln sind nicht in allen Fällen sprachlicher Natur. Sinnfelder sind nicht insgesamt oder überhaupt Gegenstandsbereiche menschlichen Nachdenkens und Redens, sondern Gegenstände, die häufig auch – prä-theoretisch formuliert – sprach-, denk, bewusstseins- und theorieunabhängig existieren."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 143)
"Die Meontologie der SFO geht von der Platonischen Idee aus, dass das Nicht-Sein (…) im Anders-Sein (…) besteht. Nicht zu sein, bedeutet nicht, sozusagen gar nichts zu sein, sondern etwas zu sein, das sich von etwas anderem unterscheidet. Im Rahmen der SFO ergibt sich die Situation, dass dasjenige, was in einem gegebenen Sinnfeld nicht existiert, gleichwohl in einem anderen Sinnfeld existiert."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 154)
Meontologie ist die Lehre vom Nichtsein, wobei es da nicht viel zu lehren gibt—erst recht nicht den Quatsch, dass das Nichtseiende nicht das Gar-Nicht(s)-Seiende, sondern das Anders- und Anderswo-Seiende ist.
"What exists only according to some false theory just does not exist at all."
———
"Was nur einer falschen Theorie zufolge existiert, existiert einfach gar nicht."
[© meine Übers.]

(Lewis, David. On the Plurality of Worlds. Oxford: Blackwell, 1986. p. 3)
"Die SFO handhabt dieses Problem durch einen ontologischen Relationismus. Dieser behauptet, dass etwas stets nur relativ zu (bzw. in) einem Sinnfeld existiert und dass es insbesondere kein allumfassendes Sinnfeld gibt derart, dass der Rekurs auf dessen totale Einrichtungsfunktion Existenzfragen in einem besonders anspruchsvollen Sinn klärt. Fermionen existieren im Universum, Gretchen in Faust, der Bundespräsident in Institutionen, die ihre Existenzrechte aus dem Grundgesetz ableiten, Zahlen in formalen Systemen, welche die Zahlentheorie studiert, usw. Aber keiner dieser Gegenstände existiert auf eine metaphysisch besonders ›wirkliche‹ Weise.

Der Witz dieser Überlegung im Kontext der Meontologie lautet: Gretchen existiert nicht im Universum, der Bundespräsident nicht in formalen Systemen, Fermionen nicht in Institutionen, die ihre Existenzrechte aus dem Grundgesetz ableiten, usw. Dass Gretchen nicht im Universum existiert, bedeutet nicht, dass sie nicht existiert; dass Fermionen keine legalen Rechte und Pflichten haben, bedeutet nicht, dass sie nicht existieren, usw."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 160-1)
Seinen ontologischen Relativismus ("Relationismus" ist nicht das richtige Wort dafür) lehne ich rundweg ab, weil er gegenüber dem ontologischen Absolutismus keinerlei Vorteile oder Vorzüge hat und nur Verwirrung stiftet.

Was existiert, existiert; und was nicht existiert, existiert nicht. – Ende der Geschichte!

Wichtig ist Folgendes:
* "Abstrakt" bedeutet nicht "fiktiv"/"irreal". Der ontologische (insbesondere der mathematische) Platonismus ist—wenn er falsch ist—keine analytische Falschheit, die sich allein aus der Bedeutung von "abstrakt" ergibt.
* "Fiktiv" bedeutet "irreal" (= "inexistent). Der fiktionale Realismus ist also (aus normalsprachlicher Sicht) eine analytische Falschheit, die sich allein aus der Bedeutung von "fiktiv" ergibt.
"Kein Sinn von »Existenz« erschöpft Existenz oder bezieht sich auf ein Sinnfeld, dessen Gegenstände die Existenzeigenschaft auf eine ontologisch privilegierte Weise instanziieren. Es gibt keine ontologischen Privilegien, was nicht bedeutet, dass der ontologische Relationismus automatisch auf andere Denkbereiche (wie Ethik, Wahrheitstheorie usw.) durchfärbt. Dass es keinen absoluten Existenzsinn gibt, dem ein Sinnfeld zugeordnet ist, das für jeden existierenden Gegenstand entscheidet, ob er zu ihm gehört oder nicht, ist eine Konsequenz der SFO. Daraus folgt nicht, dass es in einem gegebenen Sinnfeld (etwa demjenigen der wertegebundenen Handlungen oder der wahren Aussagen) keine Standards gibt, die lokale Vorschriften bezeichnen, an denen sich normgebundene Akteure orientieren sollten.

Was in einem Sinnfeld (oder mehreren) existiert, existiert in einigen anderen Sinnfeldern nicht. Kein Gegenstand kommt in allen Sinnfeldern vor, was daraus folgt, dass es keine relevante Allheit von Sinnfeldern (keine Welt) gibt. Da es kein All der Sinnfelder, kein Welt-All, gibt, kommt trivialiter kein Gegenstand in allen Sinnfeldern vor.

Sinnfelder lassen sich nicht derart totalisieren, dass man durch Einsicht in ihre Gesamtkonstitution erfolgreiche substantielle Aussagen darüber machen könnte, was es in jedem Sinnfeld geben muss, damit es überhaupt etwas in ihm gibt. Sinnfelder werden nicht von einem transzendentalen Rahmen umspannt. Das ist eine machen könnte, was es in jedem Sinnfeld geben muss, damit es überhaupt etwas in ihm gibt. Sinnfelder werden nicht von einem transzendentalen Rahmen umspannt. Das ist eine der Hinsichten, in denen sich die SFO vom modalen Realismus David Lewis' unterscheidet. Denn dieser bettet seine möglichen Welten in einen logischen Raum ein, dank dessen der Begriff der Möglichkeit uns Zugang zu einer Totalität des Möglichen gibt."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 163-4)
Ich kann mit dem pluralistisch-relativistischen Gedankenspiel seiner Sinnfeld-Ontologie nichts anfangen, weil ich denke, dass es von grundlegender inner- und außerphilosophischer Bedeutung ist, einen absoluten Existenz- und Realitätsbegriff zu besitzen und zu verwenden, der es uns ermöglicht, von dem (einen allumfassenden) Sein oder der (einen allumfassenden) Wirklichkeit zu sprechen, wozu alles Seiende/Wirkliche gleichermaßen gehört, und alles Nichtseiende/Nichtwirkliche gleichermaßen nicht gehörtwie alles Fiktive oder Imaginäre.



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Mi 8. Mai 2024, 00:16

Gabriel verwendet die Wörter "fiktiv" und "fiktional" nicht synonym. Mir ist nicht klar, was genau er damit meint.

Man kann diese Wörter synonym gebrauchen, aber man kann auch zwischen "fiktiv" und "fiktional" im Sinn von "Fiktives repräsentierend" unterscheiden. Ein fiktionaler Text oder Film, ein fiktionales Theaterstück kann dann ein realer Text oder Film, ein reales Theaterstück sein, das von fiktiven Personen, Sachen oder Geschehnissen handelt. Eine fiktionale Repräsentation ist dann nicht dasselbe wie eine fiktive Repräsentation, weil sie eine reale Repräsentation von Irrealem sein kann. Wenn man allerdings die Unterscheidung zwischen abstrakten Repräsentationstypen und konkreten Repräsentationsexemplaren berücksichtigt, dann sage ich als ontologischer Antiabstraktionist, dass fiktionale Repräsentationstypen selbst fiktive (irreale) Objekte sind. Ein materielles Buchexemplar von Goethes Faust ist eine reale fiktionale Repräsentation, wohingegen Goethes Faust "an sich" als immaterieller Texttyp eine irreale fiktionale Repräsentation und damit selbst etwas Fiktives ist.
"Fiktionale Gegenstände sind im Allgemeinen Gegenstände, auf die wir uns im Modus ihrer Abwesenheit beziehen. Sie sind gegenwärtig präsent, weil wir unsere Wahrnehmungsepisoden nicht nur als mentalen Fluss, sondern als mehr oder weniger stabil eingerichtet erleben, was bedeutet, dass wir über dasjenige hinausgehen, was uns jeweils direkt im Modus der Anschauung als Wirkliches zugänglich ist. Nicht alle fiktionalen Gegenstände sind auch fiktiv, d. ‌h. Gegenstände ästhetischer Erfahrung, die wesentlich im Modus der Interpretation existieren.

Fiktive Gegenstände sind aufführungsabhängig: Wie sie sind, hängt wesentlich davon ab, wie wir sie uns vorstellen, was allerdings, wie wir noch sehen werden, nicht bedeutet, dass es keine objektiven Kriterien dafür gibt, wie wir sie uns vorstellen sollen. Der relevante Kontrast von Fiktion und Wirklichkeit besteht darin, dass fiktive Gegenstände im Unterschied zu den nicht-fiktiven fiktionalen Gegenständen die Lücken unserer Wahrnehmung sozusagen nicht von selbst ausfüllen. Was beispielsweise zwischen zwei Szenen eines Films, in denen uns Handlungen einer Filmfigur gezeigt werden, geschieht, wird durch die ästhetische Erfahrung ausgefüllt, d. ‌h. durch Ausübungen unserer Einbildungskraft.

Fiktive Gegenstände sind deswegen nicht unvollständig, allerdings existieren sie wesentlich in Interpretationen, wodurch sie sich von nicht-fiktiven fiktionalen Gegenständen unterscheiden. Unsere Wahrnehmungswirklichkeit ist von fiktionalen, d. ‌h. spezifisch: imaginären Gegenständen bevölkert, die allerdings denjenigen Gegenständen in für unser Überleben und Erkennen relevanten Hinsichten hinreichend ähneln müssen, damit sie die Lücken unserer direkten Wahrnehmungen ausfüllen können. Was die Wahrnehmungslücken derart erfolgreich ausfüllt, ist in der Regel nicht davon abhängig, wie wir es interpretieren. Dass mein Laptop immer noch vor mir steht, auch wenn ich kurz die Augen schließe und es mir dabei vorstelle, bedeutet, dass es nicht etwa deswegen noch vor mir steht, weil ich es mir so vorstelle. Dass hingegen Gretchen bestimmte Eigenschaften hat, die ihr vom Faust-Text nicht explizit zugeschrieben werden, liegt unter anderem daran, wie ich mir Gretchen vorstelle. Hätte ich mir Gretchen anders vorgestellt, hätte sie andere Eigenschaften gehabt.

Fiktive Gegenstände sind eine Unterart fiktionaler Gegenstände. Diese spalten sich in fiktive und imaginäre auf. Wohlgemerkt sind nicht alle intentionalen Gegenstände, d. ‌h. nicht alle Gegenstände einer wahrheitsfähigen Bezugnahme, fiktional. Die Gegenstände der direkten Wahrnehmung sind zwar intentional (sie sind uns auf eine bestimmte Art und Weise, sinnesspezifisch gegeben), aber nicht fiktional, wenn wir sie ohne fiktionale Anteile unseres mentalen Lebens auch nicht wahrnehmen könnten. Zu jeder Wahrnehmungsszene gehört ein Überschuss, der nicht seinerseits direkt wahrgenommen wird, sondern der uns vielmehr mit vielfältigen fiktionalen Gegenständen in Verbindung setzt. Wir sind unter den als normal erlebten Bedingungen unseres bewussten Wahrnehmens nicht in isolierte Wahrnehmungsepisoden eingekapselt."

(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 25-7)



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Alethos hat geschrieben :
Di 2. Mär 2021, 20:22
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 2. Mär 2021, 20:17
Wenn Du sagst, dass Fiktionales genauso existiert wie Reales, dann machst Du aber genau das: Du fasst beides unter einem Existenzbegriff zusammen.
Das führt aber eben zu Absurditäten.
Ja, wenn man den pluralistischen Existenzbegriff so deutet, wie du, dass er eben kein pluraler ist.
Das Fiktionale existiert deshalb, weil etwas über diesen fiktionalen Gegenstand wahr ist.
Es ist wahr, dass Pumuckl nicht existiert. Daraus folgt weder, dass Pumuckl existiert, noch, dass Pumuckl sowohl existiert als auch nicht existiert.

Gabriel würde erwidern, dass Pumuckl sehr wohl sowohl existiert als auch nicht existiert, und dies kein Widerspruch ist, weil Existenz für ihn nie absolut, sondern immer sinnfeld-relativ ist: Pumuckl existiert (d.i. "erscheint") nicht im Sinnfeld des (physisch) Realen, aber er existiert (d.i. "erscheint") im Sinnfeld des Fiktionalen. – So wie es für Gabriel nur sinnfeld-relative Existenz gibt, so gibt es für ihn auch nur sinnfeld-relative Nichtexistenz.
"Um sich gegen den Vorwurf eines unqualifizierten Meinongianismus zu verteidigen, sollte man zunächst zwei verschiedene Positionen unterscheiden: einen formalen Meinongianismus auf der einen und einen substantiellen Meinongianismus auf der anderen Seite. Dabei behauptet die formale Version, dass man nicht behaupten kann, dass etwas nicht existiert, ohne sich dabei auf die Existenz dessen festzulegen, von dem man (in einer anderen Hinsicht) behauptet hat, es existiere nicht. Im Unterschied dazu vertritt der substantielle Meinongianismus die These, dass man nicht behaupten kann, dass etwas nicht existiert, ohne sich dabei auf die Gegebenheit dessen festzulegen, von dem man zuvor zutreffend behauptet hat, es existiere nicht. Dabei soll es sich bei der Gegebenheit um eine Form intentionaler Inexistenz, das heißt um so etwas wie ein Sein-im-Reich-unserer-Gedanken handeln. Verkürzt gesagt, behauptet der substantielle Meinongianismus also, dass alles entweder wirklich existiert oder gegeben ist. Dagegen sind unzählige Einwände erhoben worden, wobei die klassischen Einwände Russells und Quines meines Erachtens völlig zutreffend sind.

Die Sinnfeldontologie legt sich auf eine spezifische Version des formalen Meinongianismus fest, indem angenommen wird, die Behauptung, x existiere nicht, impliziere die Behauptung, x existiere in einem Sinnfeld, das sich von dem Sinnfeld unterscheidet, von dem behauptet wird, x existiere in ihm nicht. Negative Existenzaussagen wie

(NA) Es ist nicht der Fall, dass x existiert.

lassen sich deswegen immer um ein Konjunkt ergänzen zu

(NA#) Es ist nicht der Fall, dass x existiert, und es ist der Fall, dass x existiert.

Dabei handelt es sich bei (NA#) deswegen nicht um einen ungeschminkten Widerspruch, weil der Existenzbegriff prinzipiell nur relativ auf Sinnfelder aussagbar ist, sodass (NA#) genaugenommen aussagt:

(NA*) Es ist nicht der Fall, dass x existiert_FS1, und es ist der Fall, dass x existiert_FS2 v FS3, …, v FSn.

(NA*) ist eine Verpflichtung des formalen Meinongianismus, während sich der substantielle auf (SM) verpflichtet:

(SM) Es ist nicht der Fall, dass x existiert, und es ist der Fall, dass x gegeben ist.

Der substantielle Meinongianismus operiert mit einem unrestringierten Existenzbegriff, den er von einem ebenso unrestringierten Gegebenheitsbegriff unterscheidet. Natürlich kann man diese Position dadurch variieren, dass man neben der Gegebenheit noch weitere modi essendi einführt. Bei Meinong selber ist Gegebenheit »eine Art allgemeinster Eigenschaft« von Gegenständen als solchen, wobei er drei Gesamtheiten unterscheidet: die der Gegenstände als solcher (die umfassendste Gesamtheit), die des Wirklichen (das Weltganze) und die des Seienden.

Wenn man dem formalen Meinongianismus entsprechend behauptet, es gebe kein Bier mehr, ist dies auf bestimmte Sinnfelder restringiert. Nehmen wir an, diese negative Existenzaussage sei auf meine Wohnung restringiert. Dann sieht man leicht, dass die Aussage impliziert, dass es andernorts Bier gibt. Dasselbe gilt mutatis mutandis für Hexen. Zu behaupten, es gebe sie nicht, heißt nicht zu behaupten, es gebe sie lediglich in unserer Einbildung, denn es gibt auch Hexen im Kölner Karneval (die es freilich nicht gäbe, wenn sich niemand als Hexe verkleidete, doch diese geneaologische Voraussetzung spielt für die reine Existenzfrage vorerst keine Rolle). Auch gibt es eine Vielzahl von Kulturen und Subkulturen, in denen es Hexen gibt, wobei hier »Hexe« oder der entsprechende Ausdruck nicht bedeutet, dass es rothaarige böse Frauen gibt, die nachts auf Besenstielen am Vollmond vorbeifliegen, sondern eher etwa eine quasi-medizinisch begabte Person oder was auch immer die ethnologische Erforschung der magischen Praktiken des Hexenglaubens genau als Bedeutung eines Ausdrucks angeben mag, den wir aus einer bestimmten Sprache mit »Hexe« ins Deutsche übersetzen.

Die Restriktion des Existenzbegriffs auf gegebene Sinnfelder blockiert den direkten Zugang zum substantiellen Meinongianismus und ersetzt diesen durch ein formales Pendant, das jedenfalls nicht in dieselben Fallen wie die substantielle Spielart tappt. Insbesondere verzaubert die formale Variante die Intentionalität nicht auf diejenige Weise, die den Intentionalitätsbegriff in der analytischen Philosophie des Geistes lange Zeit unter Verdacht gestellt hat."

(Gabriel, Markus. Sinn und Existenz: Eine realistische Ontologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2016. S. 214-7)



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"…Dabei soll es sich bei der Gegebenheit um eine Form intentionaler Inexistenz, das heißt um so etwas wie ein Sein-im-Reich-unserer-Gedanken handeln."

(Gabriel, Markus. Sinn und Existenz: Eine realistische Ontologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2016. p. 214)
Die Doppeldeutigkeit von "in" in "Inexistenz" hat viel Unheil angerichtet:

1. Inexistenz als Nonexistenz (Nichtsein/Nichtvorhandensein)
2. Inexistenz als Intraexistenz (Darinsein/Darinvorhandensein/Enthaltensein in etwas)

Im Sinn von 1 hat "in" keinerlei örtliche oder räumliche Bedeutung!

Viele Philosophen haben den Denkfehler begangen, intentionale Inexistenz als "Existenz in Gedanken oder Vorstellungen" aufzufassen. Sie sind irrtümlicherweise davon ausgegangen, dass wenn etwas nicht außerhalb des Geistes existiert, es innerhalb des Geistes existieren muss, damit wir überhaupt darüber sprechen und etwas (Wahres) darüber aussagen können.

Doch in Wahrheit existiert im Geist nur das Vorstellende (das Vorstellungsbild als Vorstellungsinhalt) und nicht das Vorgestellte (der Vorstellungsgegenstand); und wenn das Vorgestellte nicht außerhalb des Geistes existiert, dann existiert es auch nicht innerhalb des Geistes, worin nur das Vorstellende existiert, welches das nicht existierende Vorgestellte geistig vergegenwärtigt (repräsentiert).
Folglich ist "intentionale Inexistenz" nicht Intraexistenz als eine Form von Existenz, sondern schlicht Nonexistenz.
"Wenn man dem formalen Meinongianismus entsprechend behauptet, es gebe kein Bier mehr, ist dies auf bestimmte Sinnfelder restringiert. Nehmen wir an, diese negative Existenzaussage sei auf meine Wohnung restringiert. Dann sieht man leicht, dass die Aussage impliziert, dass es andernorts Bier gibt. Dasselbe gilt mutatis mutandis für Hexen. Zu behaupten, es gebe sie nicht, heißt nicht zu behaupten, es gebe sie lediglich in unserer Einbildung, denn es gibt auch Hexen im Kölner Karneval (die es freilich nicht gäbe, wenn sich niemand als Hexe verkleidete, doch diese geneaologische Voraussetzung spielt für die reine Existenzfrage vorerst keine Rolle). Auch gibt es eine Vielzahl von Kulturen und Subkulturen, in denen es Hexen gibt, wobei hier »Hexe« oder der entsprechende Ausdruck nicht bedeutet, dass es rothaarige böse Frauen gibt, die nachts auf Besenstielen am Vollmond vorbeifliegen, sondern eher etwa eine quasi-medizinisch begabte Person oder was auch immer die ethnologische Erforschung der magischen Praktiken des Hexenglaubens genau als Bedeutung eines Ausdrucks angeben mag, den wir aus einer bestimmten Sprache mit »Hexe« ins Deutsche übersetzen."

(Gabriel, Markus. Sinn und Existenz: Eine realistische Ontologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2016. S. 216)
Das Wort "Hexe" ist mehrdeutig:
1. Wenn es "als Scheltwort für eine alte, widerliche Frau" (Grimm) gebraucht wird, dann ist eine Hexe in diesem Sinn eine reale Person.
2. Eine Hexe ist auch dann eine reale Person, wenn es sich um eine zaubergläubige "quasi-medizinisch begabte Person" handelt, die nicht wirklich magische Kräfte besitzt.
3. Eine Hexe ist aber keine reale Person, wenn damit eine echte Zauberin mit echten magischen Kräften gemeint ist.

* Wenn man sagt, Hexen im dritten Sinn "existieren in unserer Einbildung", und damit meint, dies wäre eine Form von Existenz (und nicht einfach Nichtexistenz), dann begeht man genau den oben beschriebenen Denkfehler.

* Im Kölner Karneval gibt es höchstens im ersten Sinn Hexen, weil man nicht dadurch zu einer Hexe im zweiten oder dritten Sinn wird, dass man sich als Hexe verkleidet. (Wenn man einer Katze Flügel anklebt, wird sie dadurch nicht zu einem Vogel.)



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Alethos hat geschrieben :
Di 2. Mär 2021, 20:59
Was aber wäre die Alternative für das Realsein? Unter welchen Begriff muss etwas nach dir fallen, dass du es als real anerkennen magst?
Eine Definition von "real" ist eine Sache, und (empirische oder theoretische) Kriterien des Realseins sind eine andere. Das Erste ist eine semantische Angelegenheit und das Zweite eine epistemologisch-methodologische:
1. Was bedeutet "real"?
2. Wie finden wir heraus/Wie können wir entscheiden, was real ist?



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Timberlake hat geschrieben :
So 5. Mai 2024, 17:36
Im Unterschied zum Licht , dass nicht nur uns Menschen , sondern auch Tiere, Pflanzen und unorganischen Stoffe affiziert, affiziert Harry Potter "nur" uns Menschen. Er wäre als solches gleichfalls "nur" ein Gegenstand des Menschen. Ein Gegenstand , der nur in unserem Denken und unserer Vorstellung existiert. Wie sollte er demnach ein nichtexistenter Vorstellungsgegenstand sein? Dann doch schon eher ein nichtexistenter Wirklichkeitsgegenstand!
Harry Potter "affiziert" uns gar nicht, weil Nichtexistentes nichts bewirken oder beeinflussen kann. Das können nur existente konkrete (mentale oder extramentale) Repräsentationen von Harry Potter, d.h. sprachliche oder bildliche Zeichen (Texte, Comics, Filme), die sich auf Harry Potter beziehen.

Harry Potter selbst ist ein fiktiver/irrealer Vorstellungsgegenstand, der weder innerhalb noch außerhalb unseres Geistes existiert. Er ist ein rein intentionales Objekt ohne eigenes Sein und Wesen. Er ist kein Objekt im Sinn eines "Gegenwurfs" vonseiten des Seins, sondern ein bloßer "Vorwurf/Hinwurf/Entwurf" vonseiten unseres Sprechens/Denkens/Vorstellens—also, besser gesagt, nichts weiter als ein geistig-sprachliches "Projekt", d.i. eine repräsentationale Projektion (oder Halluzination).

("Gegenwurf" ist die wörtliche deutsche Übersetzung von "Objekt"; und "Vorwurf/Hinwurf" ist die wörtliche deutsche Übersetzung von "Projekt", wobei "vorwerfen" hier im anschaulichen Sinn von "vorwärts/nach vorne werfen" gebraucht wird.)



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