"Das Sein gibt es nicht. An die Stelle einer metaphysischen Gesamtschau des Wirklichen ist dort die Sinnfeldontologie (im Folgenden = SFO) getreten. Diese ordnet Gegenstände Sinnfeldern zu, wobei ein Sinnfeld eine Anordnung von Gegenständen ist, die einem Regelsystem untersteht. Sinnfelder schließen stets einige Gegenstände ein und andere Gegenstände aus, die in ihrer näheren oder ferneren Umgebung auftauchen. Da es kein allumfassendes Sinnfeld gibt, sind sowohl der Einzugsbereich als auch der Vorhof eines Sinnfelds beschränkt."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 30)
Doch, es gibt den (einen)
absoluten Seinsbegriff (Wirklichkeitsbegriff/Weltbegriff) und entsprechend das (eine)
absolute Sein (die eine
absolute Wirklichkeit/Welt). Das Sein, das sind
die Seienden, die im absoluten Sinn notwendigerweise
all die Seienden und damit
alle Seienden sind.
Die Seienden sind in ihrer Allheit das Sein (die Wirklichkeit/Welt)—gleichgültig, ob das Sein als
die (mereologische) Summe aller Entitäten oder als
die (summenlose) Pluralität aller Entitäten aufgefasst wird, wobei es nur eine einzige absolute Pluralität aller Entitäten geben kann. Die Summe aller Entitäten ist selbst
eine Entität und somit Teil ihrer selbst, wohingegen die (summenlose) Pluralität aller Entitäten selbst
keine von den Entitäten ist, weil sie nicht
eine Entität ist, sondern
viele Entitäten, sogar
alle Entitäten. Die Vielheit aller Dinge ist nicht ein Ding, sondern viele, alle Dinge.
Einwand: Wenn die Pluralität aller Entitäten nicht selbst eine von den Entitäten ist, dann ist sie eine Nichtentität; und folglich gibt es das Sein als Pluralität aller Entitäten nicht.
Erwiderung: Das ist falsch, denn die vielen Entitäten gibt es ja in ihrer Vielheit, und
sie sind die existierende Pluralität aller Entitäten.
Es ist plurallogisch einleuchtend, dass viele Dinge nicht
ein einzelnes Ding von oder unter den vielen Dingen sein können,
die sie sind. Ein paar Schuhe kann nicht einer von den beiden Schuhen sein; aber das Paar Schuhe existiert, weil die beiden Schuhe existieren. Man mag bestreiten, dass es die Menge oder die Summe der beiden Schuhe gibt; aber die Existenz des Schuhpaares ist unbestreitbar.
"In diesem Rahmen ergibt sich eine naheliegende Meontologie: Was nicht existiert, existiert an anderer Stelle, indem es aus einem Sinnfeld ausgeschlossen und einem anderen zugewiesen wird."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 30)
Was nicht existiert, existiert nicht woanders, sondern
nirgendwo.
"If an object is non-existent, it is non-existent. End of story."
———
"Wenn ein Gegenstand nichtexistent ist, dann ist er nichtexistent. Ende der Geschichte."
[© meine Übers.]
(Priest, Graham. An Introduction to Non-Classical Logic: From If to Is. 2nd ed. Cambridge: Cambridge University Press, 2008. p. 296)
"Sowohl Existenz als auch Nicht-Existenz sind in der Form von Relationen instanziiert. Die Existenzrelation ist der SFO zufolge eine Einrichtungsfunktion (Sinn) eines Gegenstandsbereichs. Ein faktisch soundso eingerichteter Gegenstandsbereich ist ein Sinnfeld. Die Eigenschaft, zu existieren, besteht also darin, dass einem gegebenen Sinnfeld ein bestimmter Gegenstand bzw. bestimmte Gegenstände zugeordnet sind. Unter dem Vorzeichen der Negation gilt das auch für Nicht-Existenz. Was in einem Sinnfeld nicht existiert, wird in vielen Fällen an eine andere Stelle verwiesen, existiert demnach in einem anderen Sinnfeld.
Bestreitet man beispielsweise die Existenz von Einhörnern, ist davon der Film Das letzte Einhorn nicht betroffen, dessen Interpretationen ein Sinnfeld zur Erscheinung bringen, in dem es Einhörner gibt. Von Einhörnern, die uns in Kunstwerken entgegentreten, zu sagen, sie existierten nicht, ist der sinnfeldontologischen Meontologie zufolge eine Behauptung dahingehend, dass Einhörner woanders, aber nicht hier (z. B. im Zuschauerraum oder im Universum) existieren. Die uns im Medium ästhetischer Erfahrung erscheinenden Einhörner existieren folglich an einer Stelle, an anderer nicht.
Nicht-Existenz tout court, d. h. als eine Eigenschaft, die einem (durch sie) bestimmten Gegenstand unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einem Sinnfeld zukommt, gibt es ebenso wenig wie Existenz tout court."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 37-8)
Falsch! Einhörner existieren"tout court", absolut
nicht. Zu sagen, dass es im Film
Das letzte Einhorn Einhörner gebe, bedeutet eigentlich nichts weiter, als dass es filmische Darstellungen dieser fiktiven Tiere gibt.
"Was hier nicht existiert, existiert woanders, sofern es überhaupt jemals ein Existenzkandidat war. Hexen existieren nicht in Wittenberg, aber z. B. in Luthers Vorstellungen, die ihrerseits an Wittenberg gekoppelt sind und dort in Hexenverfolgungen kausale Brandspuren hinterlassen haben."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 75)
Falsch! In Luthers Kopf existierten keine Hexen, sondern nur
Hexen-Vorstellungen, von denen keine eine Hexe war. In der Vorstellung existieren nur Vorstellungsbilder, aber nicht diejenigen Dinge, deren geistige Bilder sie sind.
"Es ist nämlich keine Selbstverständlichkeit, die fiktionalen Gegenstände als nicht-existierend zu verbuchen. Es ist jedenfalls keine analytische Wahrheit, dass fiktionale Gegenstände nicht existieren."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 109)
Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit; und selbst wenn die Nichtexistenz fiktionaler Gegenstände keine analytische Wahrheit wäre (die sich allein aus der Bedeutung von "fiktional"/"fiktiv" ergibt), so bliebe die Postulierung existenter (oder realer) fiktionaler Gegenstände nichtsdestoweniger eine ontologische Unsinnigkeit.
"Fiktive Gegenstände existieren ebenso wie fiktionale Gegenstände. Gretchen ist nicht weniger wirklich als Faust. Der Tragödie erster Teil."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 123)
Nein, Gretchen ist nicht weniger
unwirklich als
Faust, wenn damit Goethes gleichnamiger Text
als abstraktes Artefakt gemeint ist. Denn der Faust-Text existiert nur in Form des materiellen Manuskripts und materieller Buchkopien sowie neuronal encodiert im Gedächtnis derjenigen, die ihn auswendig gelernt haben. Der Faust-Text "an sich"
als abstrakter Text-Typ ist bloß ein nichtexistentes Objekt kollektiver Intentionalität.
"Es besteht kein analytischer Zusammenhang zwischen Fiktion und absoluter Nicht-Existenz, wie der Mainstream der gegenwärtigen Ontologie unkritisch annimmt. Es ist an der Zeit, einen seit einigen Jahrzehnten grassierenden philosophischen Mythos zu demaskieren. Dieser Mythos besagt, dass es fiktionale Gegenstände gibt, die als ein bedeutsamer Fall nicht-existierender Gegenstände angeführt werden können – bedeut-sam deswegen, weil uns scheinbar im Medium fiktionaler Darstellung die Bezugnahme auf diese besondere Art nicht-existierender Gegenstände gelingt. Dies generiert einen paradoxie-anfälligen Prämissenrahmen, der durch die handelsüblichen Theoriekonstruktionen stabilisiert werden soll. Doch zu diesem Entwurf lässt sich eine Alternative entwickeln, z. B. der in diesem Buch verteidigte fiktionale Realismus, der Fiktionen als etwas Wirkliches behandelt, in dem fiktive Gegenstände existieren."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 124-5)
Es gibt (streng genommen) keine nicht-existierenden Gegenstände, aber manche Gegenstände,
darunter alle fiktiven, existieren nicht. Sein fiktionaler Realismus überzeugt mich nicht im Geringsten, zumal allein der Name den normalsprachlichen Gebrauch von "fiktional"/"fiktiv" und "real" als
Antonyme pervertiert.
"fiktiv//real"
(Müller, Wolfgang, & Jakob Ebner. Das Gegenwort-Wörterbuch. 2. Aufl. Berlin: de Gruyter, 2020. S. 278)
"Ein Sinnfeld ist eine Anordnung von Gegenständen, die unter Anordnungsregeln steht. Diese Anordnungsregeln sind nicht in allen Fällen sprachlicher Natur. Sinnfelder sind nicht insgesamt oder überhaupt Gegenstandsbereiche menschlichen Nachdenkens und Redens, sondern Gegenstände, die häufig auch – prä-theoretisch formuliert – sprach-, denk, bewusstseins- und theorieunabhängig existieren."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 143)
"Die Meontologie der SFO geht von der Platonischen Idee aus, dass das Nicht-Sein (…) im Anders-Sein (…) besteht. Nicht zu sein, bedeutet nicht, sozusagen gar nichts zu sein, sondern etwas zu sein, das sich von etwas anderem unterscheidet. Im Rahmen der SFO ergibt sich die Situation, dass dasjenige, was in einem gegebenen Sinnfeld nicht existiert, gleichwohl in einem anderen Sinnfeld existiert."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 154)
Meontologie ist die Lehre vom Nichtsein, wobei es da nicht viel zu lehren gibt—erst recht nicht den Quatsch, dass das Nichtseiende nicht das Gar-Nicht(s)-Seiende, sondern das Anders- und Anderswo-Seiende ist.
"What exists only according to some false theory just does not exist at all."
———
"Was nur einer falschen Theorie zufolge existiert, existiert einfach gar nicht."
[© meine Übers.]
(Lewis, David. On the Plurality of Worlds. Oxford: Blackwell, 1986. p. 3)
"Die SFO handhabt dieses Problem durch einen ontologischen Relationismus. Dieser behauptet, dass etwas stets nur relativ zu (bzw. in) einem Sinnfeld existiert und dass es insbesondere kein allumfassendes Sinnfeld gibt derart, dass der Rekurs auf dessen totale Einrichtungsfunktion Existenzfragen in einem besonders anspruchsvollen Sinn klärt. Fermionen existieren im Universum, Gretchen in Faust, der Bundespräsident in Institutionen, die ihre Existenzrechte aus dem Grundgesetz ableiten, Zahlen in formalen Systemen, welche die Zahlentheorie studiert, usw. Aber keiner dieser Gegenstände existiert auf eine metaphysisch besonders ›wirkliche‹ Weise.
Der Witz dieser Überlegung im Kontext der Meontologie lautet: Gretchen existiert nicht im Universum, der Bundespräsident nicht in formalen Systemen, Fermionen nicht in Institutionen, die ihre Existenzrechte aus dem Grundgesetz ableiten, usw. Dass Gretchen nicht im Universum existiert, bedeutet nicht, dass sie nicht existiert; dass Fermionen keine legalen Rechte und Pflichten haben, bedeutet nicht, dass sie nicht existieren, usw."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 160-1)
Seinen ontologischen
Relativismus ("Relationismus" ist nicht das richtige Wort dafür) lehne ich rundweg ab, weil er gegenüber dem ontologischen Absolutismus keinerlei Vorteile oder Vorzüge hat und nur Verwirrung stiftet.
Was existiert, existiert; und was nicht existiert, existiert nicht. – Ende der Geschichte!
Wichtig ist Folgendes:
* "Abstrakt" bedeutet nicht "fiktiv"/"irreal". Der ontologische (insbesondere der mathematische) Platonismus ist—wenn er falsch ist—keine
analytische Falschheit, die sich allein aus der Bedeutung von "abstrakt" ergibt.
* "Fiktiv" bedeutet "irreal" (= "inexistent). Der fiktionale Realismus ist also (aus normalsprachlicher Sicht) eine
analytische Falschheit, die sich allein aus der Bedeutung von "fiktiv" ergibt.
"Kein Sinn von »Existenz« erschöpft Existenz oder bezieht sich auf ein Sinnfeld, dessen Gegenstände die Existenzeigenschaft auf eine ontologisch privilegierte Weise instanziieren. Es gibt keine ontologischen Privilegien, was nicht bedeutet, dass der ontologische Relationismus automatisch auf andere Denkbereiche (wie Ethik, Wahrheitstheorie usw.) durchfärbt. Dass es keinen absoluten Existenzsinn gibt, dem ein Sinnfeld zugeordnet ist, das für jeden existierenden Gegenstand entscheidet, ob er zu ihm gehört oder nicht, ist eine Konsequenz der SFO. Daraus folgt nicht, dass es in einem gegebenen Sinnfeld (etwa demjenigen der wertegebundenen Handlungen oder der wahren Aussagen) keine Standards gibt, die lokale Vorschriften bezeichnen, an denen sich normgebundene Akteure orientieren sollten.
Was in einem Sinnfeld (oder mehreren) existiert, existiert in einigen anderen Sinnfeldern nicht. Kein Gegenstand kommt in allen Sinnfeldern vor, was daraus folgt, dass es keine relevante Allheit von Sinnfeldern (keine Welt) gibt. Da es kein All der Sinnfelder, kein Welt-All, gibt, kommt trivialiter kein Gegenstand in allen Sinnfeldern vor.
Sinnfelder lassen sich nicht derart totalisieren, dass man durch Einsicht in ihre Gesamtkonstitution erfolgreiche substantielle Aussagen darüber machen könnte, was es in jedem Sinnfeld geben muss, damit es überhaupt etwas in ihm gibt. Sinnfelder werden nicht von einem transzendentalen Rahmen umspannt. Das ist eine machen könnte, was es in jedem Sinnfeld geben muss, damit es überhaupt etwas in ihm gibt. Sinnfelder werden nicht von einem transzendentalen Rahmen umspannt. Das ist eine der Hinsichten, in denen sich die SFO vom modalen Realismus David Lewis' unterscheidet. Denn dieser bettet seine möglichen Welten in einen logischen Raum ein, dank dessen der Begriff der Möglichkeit uns Zugang zu einer Totalität des Möglichen gibt."
(Gabriel, Markus. Fiktionen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2020. S. 163-4)
Ich kann mit dem pluralistisch-relativistischen Gedankenspiel seiner Sinnfeld-Ontologie nichts anfangen, weil ich denke, dass es von grundlegender inner- und außerphilosophischer Bedeutung ist, einen absoluten Existenz- und Realitätsbegriff zu besitzen und zu verwenden, der es uns ermöglicht, von
dem (einen allumfassenden) Sein oder
der (einen allumfassenden) Wirklichkeit zu sprechen, wozu alles Seiende/Wirkliche gleichermaßen
gehört, und alles Nichtseiende/Nichtwirkliche gleichermaßen
nicht gehört—
wie alles Fiktive oder Imaginäre.