Das Wesen der Dinge

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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Do 27. Jan 2022, 09:50

Jovis hat geschrieben :
Do 27. Jan 2022, 08:47
Kunst [ist z.B.] überhaupt erst ermöglicht, als eine Vergegenständlichung unseres Inneren in äußeren Gegenständen.
Das wäre dann die Richtung von "Innen nach Außen", oft auch dementsprechend Ausdruck genannt. Das wäre nach meiner Einschätzung etwas einseitig und die Kraft der Kunst würde mir dabei fehlen, also (um die Metapher aufzugreifen) die "Richtung von Außen nach Innen".

(Ich für meinen Teil kann ohnehin mit der Idee, Kunst sei generell eine Vergegenständlichung unseres Inneren in äußeren Gegenständen nicht viel anfangen.)




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Jovis
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Do 27. Jan 2022, 12:38

Mit genau dieser Antwort habe ich gerechnet. ;-)

Die andere Richtung der Kunst ist für mich auch die viel interessantere, also die von Außen nach Innen. Die von Innen nach Außen ist vielleicht auch gar nicht die über die Zeiten ausschlaggebende gewesen, sondern eher ein Produkt des Individuationsprozesses der Neuzeit?

Zwar spielen (zumindest heutzutage) beide Richtungen eine Rolle, ich würde den Drang zum Ausdruck bei Künstlerinnen und Künstlern also nicht unterschlagen wollen. Aber ein Kunstwerk sollte auch ohne diesen individuellen Hintergrund bestehen können, einfach für sich. Es ist für mich dann tatsächlich "aufgeladen", wie du es bezeichnet hast, mit Bedeutung, mit Kraft, und wirkt auf mich, also von "Außen" nach "Innen" (bestimmt auch eine zumindest fragwürdige Beschreibung, aber um der Abkürzung des Gedankens willen lasse ich das jetzt mal so stehen). Insofern ist es dann ein Fetisch, in der neutralen Bedeutung des Wortes (auch wenn es mir schwer fällt, dieses so stark einseitig konnotierte Wort neutral zu benutzen), als eines mit einer Kraft ausgestatteten Objektes. Und zwar hat es diese Kraft nicht nur, weil wir sie ihm verliehen haben, sozusagen als Stellvertreter oider als Verlängerung unseres Ichs, sondern es gewinnt damit ein Eigenleben. Zwar immer im Wechselspiel mit Menschen, aber zunehmend unabhängig von seinem Urheber.

Und nicht nur Kunstwerke können ein solches Eigenleben entwickeln, sondern auch andere Gegenstände. Vielbenutzte Werkzeuge oder andere Alltagsgegenstände beispielsweise, die mit der Zeit Patina und so etwas wie Würde gewinnen. (Der japanische Begriff Wabi-Sabi fällt mir dabei ein.)

Das Wesen der Dinge gewinnt so noch eine ganz andere Bedeutung. Dabei geht es dann nicht mehr um die inhaltlich-begriffliche Bestimmung, sondern um so etwas wie die "Persönlichkeit" eines Dinges.




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Friederike
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Do 27. Jan 2022, 13:32

Jovis hat geschrieben : Die fand ich aber recht plausibel, und sie deckt sich mit meinen Überlegungen zum Allgemeinen und Besonderen. Was ist der Grund für deinen Rückzug, also wobei hast du das Gefühl, dass Böhme etwas anderes meinen könnte?
Noch einmal das Böhme-Zitat, nur den letzten Satz habe ich gestrichen:
Böhme hat geschrieben : "Die Substanz-Akzidenz-Beziehung entspricht unserem durchschnittlichen Ding-Verständnis: Dinge haben eine Substanz, die Träger von Eigenschaften ist. Dabei werden öfters noch primäre von sekundären Eigenschaften unterschieden. Letztere sind die Akzidenzien, dasjenige, was einem Ding nur zufällig zukommt, wie die Farbe dem Holz, Stein oder Auto. In der Regel werden Eigenschaften einem Ding, dem hypokeimenon, als Prädikate beigelegt:[...]
Ich hatte Böhme so interpretiert, daß er meint, nur die nicht notwendigen Eigenschaften ("sekundäre" oder Akzidenzien) würden "beigelegt", nicht die "primären", also die notwendigen Eigenschaften. Und aus dem Zitierten geht, finde ich, hervor, daß er alle Eigenschaften meint. Das heißt, alle Eigenschaften werden einem Ding "beigelegt".

Zum spekulativen Satz antworte ich Dir ein andermal.




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Jörn Budesheim
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Do 27. Jan 2022, 19:28



Ab Minute 7:10 sagt Hartmut Böhme etwas zu seinem Buch.




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Jan 2022, 06:55

Nur mal nebenbei, da müsste man wahrscheinlich das Buch vorliegen haben. Unter primären und sekundären Eigenschaften verstehe ich etwas (völlig) anderes, als unter wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften. Die primären Eigenschaften eines Dinges, sagen wir eines Steins, sind seine Ausdehnung, vielleicht sein Gewicht, also diejenigen Eigenschaften, die sich physikalisch messen lassen. Die sekundären Eigenschaften hingegen sind diejenigen Eigenschaften, die - in dieser Vorstellung, die ich nicht teile - an uns hängen, also seine Farbe z.b..

Die wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften können womöglich damit zur Deckung kommen, müssen es aber nicht. Dass Blumen z.b. bunt sind und schön, wäre in dieser Sicht eine sekundären Eigenschaft, während die Farbigkeit und Schönheit der Blume sich in einer Wesensanalyse als notwendige Eigenschaften entpuppen könnte.

Meines Erachtens ist die Natur derjenige Bereich, indem die sogenannten sekundären, gegebenenfalls auch die tertiären Eigenschaften in aller Regel das Primäre sind.




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Friederike
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Fr 28. Jan 2022, 12:14

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 26. Jan 2022, 16:23
Wenn der Ball für sich nicht "Ball", sondern diese springende, rote Rundheit wäre, dann wüssten Sprecher, die erkennen, dass dieser Ball rund ist, sogar mehr als der Ball selbst. Sie könnten erkennen, dass er dieses "Individuum" ist und in eins ein "Mitglied" der Kategorie "Ball". Denn der Unterschied zwischen wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen zeigt ja, dass wir beides erfassen können. Dieser Ball dort ist exakt, der, der er ist, dieses einmalige "Individuum". Und dazu gehört auch, dass er zur Klasse der "Ballartigen" zählt. Manche seiner Eigenschaften machen ihn zum Ball, andere zu diesem ganz besonderen Ball. Das ist im übrigen etwas, was kompetente Begriffsverwender notwendig wissen müssen, sonst wären sie darauf verpflichtet, grundsätzlich alle Bälle miteinander zu verwechseln.
Das ist noch ein für mich ungeklärter Punkt, weil ich zu der Auffassung tendiere, Begriffe würden das Besondere (@Jovis, das Allgemeine und das Besondere hattest Du angesprochen) den konkreten Einzelfall, nicht ausreichend erfassen (@Jörn, Du hast es in Deiner Antwort auf @NWDM thematisiert). X ist ein Ball oder ein Tisch oder eine Blume. Dann sind darin die wesentlichen/notwendigen (primär/sekundär lasse ich weg) Eigenschaften erfaßt. Aber das Material, die Oberflächenstruktur, die Farbe, die Größe sind mit dem Begriff doch nicht erfaßt?! Wenn ich sage, "vorhin habe ich mit Max, Max ist ein Ball, gespielt", dann weiß man in diesem Fall zwar den Namen des Balles, aber über alle seine nicht notwendigen Eigenschaften, die ihn zu diesem einen besonderen Ball machen, weiß man nichts. "Kompetente Begriffsverwender", wie Du sie nennst, würden doch nicht mehr wissen als eben dies, daß der Ball, mit dem ich gespielt habe, noch andere Eigenschaften hat als die "rund" zu sein und das heißt auch, sie wissen, daß mit dem Begriff "Ball" dieser Ball nicht erfaßt ist. In Deinem Beispiel oben wird ein konkreter Ball in den Blick genommen, man sieht ihn mit allen seinen Eigenschaften.
Mir ist so, als hätte ich die Sache noch nicht durchdrungen.




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Jan 2022, 13:04

Dass Begriffe das Besondere nicht erfassen, aber das Allgemeine ist eine Stärke und keine Schwäche. Wären Begriffe Namen, dann könnte beispielsweise das Besondere einer bestimmten Lebenssituation nicht in die Bedeutung eines Begriffs eingehen. Nur, weil Begriffe besonderes nicht schon beinhalten, kann das Besondere teil der Bedeutung werden. Dazu hab ich hier im Forum schon mal geschrieben:

Ich stelle mir vor, wie ein gewisser Theodor am Wiesengrund sitzt. Gerade will er denken: "Dieses wunderbar volle Grün der Wiese." Doch er bremst sich. Denn er will die Wiese und ihre Farbe natürlich vor dem zurichtenden Zugriff des Subjekts und des Begriffs bewahren. So viel Romantik muss sein. Doch plötzlich fällt ihm etwas auf: Wenn er von diesem wunderbar vollen Grün spricht, färbt dann nicht die wirkliche Farbe der Wiese auf den Begriff ab? Ist es nicht die Wiese selbst in ihren vielfältigen Grüntönen, die in diesem Moment die Bedeutung des Begriffes bestimmt? Wie sollte er das Max erklären?

Die Wiese selbst ist hier Teil der Bedeutung. Und diese Liaison ist nur möglich, weil der Begriff (dank Abstraktion) dafür offen ist.




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Jan 2022, 13:08

Lob der Worte

Man hat mir gesagt: "Die Wiese ist nicht grün -
schau dir doch vielen verschiedenen Grüntöne an!"

Jetzt im Park sitzend mache ich den Test:
Ich halte das Wort an jedes Grün.
Jeden Ton umarmt es.

Oh du Grün!




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Jan 2022, 13:33

Friederike hat geschrieben :
Fr 28. Jan 2022, 12:14
"Kompetente Begriffsverwender", wie Du sie nennst, würden doch nicht mehr wissen als eben dies, daß der Ball, mit dem ich gespielt habe, noch andere Eigenschaften hat als die "rund" zu sein und das heißt auch, sie wissen, daß mit dem Begriff "Ball" dieser Ball nicht erfaßt ist.
Und das ist auch gut so. Denn erst das eröffnet die Möglichkeit (mal so ins Blaue spekuliert) in einem Gespräch auf das aufmerksam zu machen, was einem tatsächlich wichtig ist. Für die Aussage: "Ronaldinho ist am Ball perfekt" ist die Farbe des Balls nicht von Belang. Viele der relevanten Eigenschaften stecken im Kontext. Was offen ist, kann man präzisieren.




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Jan 2022, 13:43

Dass wir sprechen können, ist so eine erstaunliche Fähigkeit, über die kein anderes Tier in dieser Weise verfügt. Doch woher kommt die weit verbreitete Skepsis gegenüber der Sprache?




Burkart
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Fr 28. Jan 2022, 15:01

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 28. Jan 2022, 13:43
Dass wir sprechen können, ist so eine erstaunliche Fähigkeit, über die kein anderes Tier in dieser Weise verfügt. Doch woher kommt die weit verbreitete Skepsis gegenüber der Sprache?
Ersteres stimmt (dank an die Evolution); Tiere kommunizieren anders und vermutlich nur selten oder eben gar nicht so tiefschürfend wie wir.
Aber inwiefern Skepsis gegenüber (der) Sprache? Ich halte sie für sehr wichtig, auch wenn sie nicht immer einfach (zu benutzen) ist.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Friederike
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Fr 28. Jan 2022, 15:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 28. Jan 2022, 13:04
Dass Begriffe das Besondere nicht erfassen, aber das Allgemeine ist eine Stärke und keine Schwäche. Wären Begriffe Namen, dann könnte beispielsweise das Besondere einer bestimmten Lebenssituation nicht in die Bedeutung eines Begriffs eingehen. Nur, weil Begriffe besonderes nicht schon beinhalten, kann das Besondere teil der Bedeutung werden. [...]
Ich hatte mir zwischenzeitlich die Frage gestellt, warum "Namen", die doch das Individuellste oder Persönlichste sind, mit denen man ein "Ding" benennen kann, es also "besonders" machen, am allerwenigsten über dieses Ding aussagen. "Max" kann alles heißen, ein Hamster, ein Auto, ein Ball, ein Mensch. Man weiß, wenn man den Namen gesagt bekommt, nichts über das Ding, über das gesprochen wird. Wahrscheinlich werde ich Dir daher zustimmen (muß das noch ein bißchen begrübeln).




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Jan 2022, 16:50

Vielleicht muss man sich fragen, wie präzise man mit einem Namen gegenüber einem Begriff etwas "herauspicken" kann. Nehmen wir an, niemand außer mir hieße Jörn Budesheim. Dann würde man mit dem Namen natürlich nur mich herauspicken, wenn man ihn ausspricht. Mit dem Begriff Mensch, der ebenfalls auf mich zutrifft, würde man nebenbei weitere 8 Mrd. "herauspicken". Hier hat der Name ein ziemliches Plus an "Präzision" :-)




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Friederike
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Fr 28. Jan 2022, 18:06

offtopic: @Jörn, mir ist im Zusammenhang mit Deinem Begriffsplädoyer ein Gedicht oder auch nur die Strophe eines Gedichtes eingefallen, das Du einmal kopiert hattest, der letzte Vers ging ungefähr so "ich laufe auf Spitzenschuhen um voranzukommen", ein Kranich und ein Kadaver, so erinnere ich es, kamen auch darin vor. Von J. Volkmann war es, glaube ich, nicht. Mir fällt jetzt nichts mehr ein, was ich in die Suchfunktion noch eintippen könnte. Weißt Du, welches Gedicht ich meine und wo ich es hier finde (unter den "Gedichten" habe ich es zumindest nicht gesehen).




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Jan 2022, 18:07

Da fällt mir jetzt spontan nichts ein ... Hmmm...




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Jovis
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Fr 28. Jan 2022, 18:11

(Das Folgende bezieht sich auf keinen bestimmten Beitrag – ich hinke ja sowieso mal wieder ziemlich hinterher –, sondern fiel mir gestern beim Nachdenken über das Wesen von Dingen ein.)


Das Wesen des Markknochens

Eine beiläufige, aber intensive Erinnerung aus meiner Kinderzeit ist der Schlüssel in der Schuppentür im Garten. An diesem Schlüssel hing an einem Band ein großer Markknochen, der verhindern sollte, dass der Schlüssel verlorenging oder versehentlich eingesteckt wurde.

Dieser Markknochen war für mich sowohl ein alltäglicher als auch ein außergewöhnlicher Gegenstand. Ich liebte den Anblick und die Berührung dieses gelblichen, durch langen Gebrauch glattpolierten Materials, seine weiche, unregelmäßige Form, seine Härte, seine organische Herkunft. Vor allem diese Herkunft machte den Knochen so besonders. Er sah aus wie aus hellem Holz, aber er war nicht aus Holz, sondern stammte von einem ehemals lebendigen Tier. Dass dieses Tier, zumindest ein Teil von ihm, an unserer Schuppentür hing und über seinen Tod hinaus eine Funktion erfüllte, kam mir, so klein ich auch war (wir zogen dort weg, als ich 11 war), in zweifacher Hinsicht wunderbar vor: Die Verwendung dieses Abfalls einer vermutlich vor Jahrzehnten gekochten Suppe war einerseits wunderbar praktisch (wie mein Großvater, der sich um den Garten kümmerte, überhaupt fast alles, was so anfiel, weiterverwendete); andererseits hegte ich diesem Gegenstand gegenüber eine staunende Ehrfurcht, er war ein kleines, unbegreifliches Wunder für mich.

Ich weiß nicht, wie viele dieser Gedanken ich aus der Rückschau in das kleine Mädchen hineinlege. Aber ich erinnere mich deutlich an die Faszination, die dieser Schlüsselanhänger auf mich ausübte.

Was ist nun das Wesen dieses Knochens? (Oder sollte man besser nach dem Wesen eines Schlüsselanhängers fragen?) Was sind seine primären, was seine sekundären Eigenschaften? Seine physikalischen, messbaren Werte? Seine biologische Zugehörigkeit? Seine Wertlosigkeit als Abfall? Sein praktischer Nutzen? Seine Schönheit? Seine Magie? Gehören die Hände, die ihn täglich berührt haben, dazu? Die lange Zeit, die er schon da hing? Es ist möglich und in bestimmten Zusammenhängen auch sinnvoll, diese Aspekte gedanklich voneinander zu unterscheiden. Aber erst der Umstand, dass all diese Eigenschaften in diesem einen Gegenstand zu solch wundervoller Einheit zusammenkamen, macht für mich sein Wesen aus.




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Jovis
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Fr 28. Jan 2022, 18:20

Friederike hat geschrieben :
Fr 28. Jan 2022, 18:06
offtopic: @Jörn, mir ist im Zusammenhang mit Deinem Begriffsplädoyer ein Gedicht oder auch nur die Strophe eines Gedichtes eingefallen, das Du einmal kopiert hattest, der letzte Vers ging ungefähr so "ich laufe auf Spitzenschuhen um voranzukommen", ein Kranich und ein Kadaver, so erinnere ich es, kamen auch darin vor. Von J. Volkmann war es, glaube ich, nicht. Mir fällt jetzt nichts mehr ein, was ich in die Suchfunktion noch eintippen könnte. Weißt Du, welches Gedicht ich meine und wo ich es hier finde (unter den "Gedichten" habe ich es zumindest nicht gesehen).
Das war im Faden "Leben als Fragment":
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 18. Apr 2021, 12:29
Bild

Aus: Jahrbuch der Lyrik 2021




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Jovis
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Fr 28. Jan 2022, 18:38

Zu Sprache und Begriff schrieb der Theodor u.a. folgendes:

"[Sprache] bietet kein bloßes Zeichensystem für Erkenntnisfunktionen. Wo sie wesentlich als Sprache auftritt, Darstellung wird, definiert sie nicht ihre Begriffe. Ihre Objektivität verschafft sie ihnen durch das Verhältnis, in das sie die Begriffe, zentriert um eine Sache, setzt. Damit dient sie der Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken. Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte."
(Negative Dialektik, S. 164)

(Dieses Zitat wollte ich schon lange mal bringen. Ich finde die Vorstellung einer Konstellation oder Versammlung von Begriffen um eine Sache schön.)




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Friederike
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Fr 28. Jan 2022, 18:47

Danke @Jovis

An A. hatte ich auch mehrfach gedacht. Über die Stelle, die Du zitierst hast, denke ich morgen nach (ich verstehe sie auf den ersten Blick nämlich nicht).




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Jörn Budesheim
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Sa 29. Jan 2022, 06:20

Zu Jovis Schlüsselanhänger-Markknochen: ja, man kann auch "umgekehrt" fragen, indem man nach dem Einzelding, dem Individuum, dem ganz besonderen fragt. Dann nimmt man alle Eigenschaften in den Blick, die dieses Individuum hat und es damit von allen anderen Dingen im gleichen Feld unterscheidet. Man kann auch hier den Wesensbegriff in Anschlag bringen, aber man sollte dann nicht die verschiedenen Frage-Richtungen verwechseln, meine ich.
  • Welche Eigenschaften sind notwendig und zusammen hinreichend, damit "das da" ein Markknochen ist.
  • Welche Eigenschaften hat "das da"? Was ist es, was es zu diesem Individuum macht, das von allen anderen unterschieden ist.
Diese beiden Fragestellungen schließen sich weder aus, noch stehen sie sich gegenseitig im Wege, finde ich. Ein Beispiel: ich habe letztens einen kurzen Text über Krähen gelesen. Krähen sind hochgradig individuell, jede hat einen anderen Charakter. Man könnte vielleicht sagen, jede einzelne Krähe verkörpert zugleich das Muster Krähe und zu diesem Muster gehört es, dass sie sich alle in verschiedenen Hinsichten eben auch unterscheiden. Man kann auch hier zwei verschiedene Wesens Begriffe in Anschlag bringen: ein bestimmtes Eigenschaftenset macht diese individuelle Krähe zu einer Krähe überhaupt und ein anderes Eigenschaftenset macht sie zu dieser ganz besonderen Krähe.




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