Das Wesen der Dinge

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Alethos
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So 9. Mai 2021, 17:42

Friederike hat geschrieben :
So 9. Mai 2021, 15:44
Alethos hat geschrieben :
Sa 8. Mai 2021, 14:03
[...] Meine Lösung: Ich erkläre, dass wir wissen, was ein Tisch ist durch seine wesentlichen Eigenschaften als Tisch, und behaupte, dass wir dadurch nicht erfasst haben, was das Wesen des Dings dort ist, das (auch) Tisch ist. Das Wesen des Dings ist unergründlich, weil es nicht nur dieser Gegenstand ist. Seine „Ganzheit als Ding“ ist viele Gegenstände zugleich.
Dann kann man auf den Begriff "Wesen" und das, was mit ihm gemeint ist, doch verzichten, oder nicht? Wenn man sagt, es gäbe das Wesen eines Dinges und es sei aber unergründlich, dann werden Wort und Wesen sinn-los. Das ist nichts gegen Dich @Alethos, es ist eine fragende Feststellung. Man könnte anstelle von Wesen ebensogut irgendein anderes, ein ausgedachtes Wort nehmen, irgendeine Buchstabenfolge, von der niemand weiß, was sie bedeutet. Das heißt, es muß im Hintergrund Deiner Äußerung eine bestimmte Bedeutung von "Wesen" geben, vor dem die Äußerung Sinn ergibt. Aber welche Bedeutung ist das? Man könnte vielleicht sagen, es ist genau das, was über "etwas" nicht gesagt werden kann, nur bleibt die Bedeutung des Wortes "Wesen" dann auch "leer" (mir fällt nur "leer" ein).
Das leuchtet mir trotz Frühlings-Stimmung nicht ein, warum dadurch der Begriff Wesen unnötig oder „leer“ genannt werden sollte. Denn auch, wenn wir nicht zu erfassen vermögen, was das Wesen eines Dings sei, so gibt es doch seine unbestreitbare Realität, und obwohl diese Realität nicht als Ganze erfassbar wird, so sei wenigstens das genannt sein Wesen.

Würden wir unterstellen wollen, dass der Wesensbegriff „leer“ sei im Sinne von „bedeutungslos“ oder „inhaltslos“, dann würden wir damit ja gerade behaupten, das Ding habe keine Substanz. Wir verfügen aber über den Begriff (Substanz, Wesen) mit guten Gründen, weil die Dinge ja nicht leer sind, sondern volle und ganze im Lichte ihrer Einordnung in der Wirklichkeit.

Der Begriff „Wesen“ stünde so gesehen stellvertretend für die Tatsache, dass wir Dinge nicht in ihrer Ganzheit erfassen, wenn wir sie durch ihre wesentlichen Eigenschaften zu denken versuchen, weil wir ihrer Wirklichkeit damit nicht gerecht werden. Wenn wir sie beschreiben als „das“ und „genau das“, dann erfassen wir vielleicht etwas Wesentliches an ihnen, aber wir beschreiben damit nicht ihr Wesen als Wesen. Sie sind jeweils auch mehr als das, was wir mit wesentlichen Eigenschaften beschreiben, weil, indem sie sind, sich ihr volles Potenzial aktualisiert, d.h. sie sich als das oder das zugleich zeigen. Wenn ein Tisch von Holzwürmern gefressen werden soll, d.h, wenn er in dieser Tatsache potenziell vorkommen können soll, muss er notwendig aus Holz bestehen. Nicht als „Tisch“ muss er notwendig aus Holz bestehen, aber als dieser Tisch dort, der gefressen wird. Es gibt keinen Sachverhalt, in dem am Ding nichts wesentlich wäre, wenn er genau jener ist, der in diesen Tatsachen vorkommt, in denen er eben vorkommt. Er ist, anders gesagt, sofern er ist, notwendig dieser. Um sein zu können, muss er notwendig dieser sein, un wäre er möglicherweise etwas Anderes, wäre er immer noch der Möglichkeit nach dieses. Dann aber, wenn er also sein soll, der Möglichkeit nach oder in konkreter Aktualität, muss alles an ihm wesentlich sein - weil seine Realität sein Wesen impliziert. Ergibt sich also seine Realität relational, wie wir festgestellt haben, d.h. ergibt sich seine Wirklichkeit aus der tatsächlichen Einbettung in Beziehungen, so muss alles an ihm wesentlich sein, was diese Beziehungen ermöglicht.

Der Wesensbegriff füllt also nicht eine Leerstelle, sondern dient in pragmatischer Art und Weise der Handhabung dieses Umstands, dass den Dingen nichts akzidentiell zukommt, sondern alles immer notwendig ist für sie als diese Dinge, die sie sind.

Du selbst hattest vorgeschlagen, den Begriff „Wesen“ in der Funktion einer absoluten Metapher zu verwenden. Absolute Metaphern stehen ja auch für etwas und nicht für nichts. Sie sind Begriffe, die keinen Gegenstand bezeichnen resp. stehen sie für etwas, das die Gegenständlichkeit in der Form klarer Definitionen transzendiert. „Sein“, „Wahrheit“, „Gott“ wären solche absoluten Metaphern, die nicht keinen Gegenstand haben, sondern für deren Unbegrifflichkeit stehen.



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Alethos
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So 9. Mai 2021, 17:57

Ich denke übrigens auch, dass wir Wesen auch dann metaphorisch verwenden, wenn wir bspw. sagen: „Der wesentliche Punkt meiner Aussage ist das und das“. Damit meinen wir ja nur, dass für unsere Aussage dieses entscheidend sei und nicht anderes. Aber das ist ja nicht die Aufgabe eines irgend Punktes, dass er entscheidend sei.

Und auch, wenn wir in anderer Rede vom „Wesen“ sprechen, wenn wir bspw. vom „Wesen der Menschheit“ oder ähnliches sprechen, dann meinen wir damit nur die Menschheit in Anwesenheit ihres Begriffs, „die Menschheit“, und nicht die ganze Bedeutungsweite dessen, was wir mit „Menschheit“ meinen können.

Begriffe sind so gesehen immer metaphorisch, wenn sie die Einzelnen aus der Ferne zusammenfassen. Der Begriff muss immer eine Übertragungsleistung vollbringen von den Einzelnen zum Allgemeinen resp. dann, wenn er durch dieses Allgemeine jene Einzelne meinen können will. Der Begriff meint also nicht die Einzelnen, sondern beschreibt die Funktionen, die die Einzelnen hinordnet zu ihm: Er erzählt uns also etwas über die Ordnung der Dinge, warum sie etwa zu diesen gehören und nicht zu jenen. Diese Ordnung ist real und wir liegen nicht ganz falsch, wenn wir sagen, dass sie ihr Wesen beschreibt. Aber Wesen - so verstanden als Begriff - müsste die gesamte Ordnung aller Dinge umfassen können, denn darin kommen sie ja vor: in allen möglichen Zusammenhängen. Der Begriff „Wesen“ abstrahiert von den konkreten Dingen, und reduziert damit auf die wesentlichen Eigenschaften. Wenn er die anderen Eigenschaften der Dinge wegnimmt, ausklammert, von ihnen absieht, wie kann er die Dinge dann aber wesentlich erfassen in ihren jeweiligem Dasein? Er kann es eben nur teilweise: Begriffe müssen deshalb metaphorisch sein, weil sie Überschüsse schaffen, die sie selbst nicht heben können. Sie können nicht für die Dinge stehen, sondern nur für die Funktion, die sie zu solchen macht.



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Friederike
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Mo 10. Mai 2021, 15:32

Alethos hat geschrieben : Wenn wir sie beschreiben als „das“ und „genau das“, dann erfassen wir vielleicht etwas Wesentliches an ihnen, aber wir beschreiben damit nicht ihr Wesen als Wesen. Sie sind jeweils auch mehr als das, was wir mit wesentlichen Eigenschaften beschreiben, weil, indem sie sind, sich ihr volles Potenzial aktualisiert, d.h. sie sich als das oder das zugleich zeigen.
Nochmal auf Menschen angewandt, nicht den/die Menschen, sondern einen bestimmten Menschen. Dies ist der Zusammenhang, in dem ich den Wesenbegriff benutze, und ich möchte klarer "sehen", was ich eigentlich damit meine, wenn ich das Wesen eines Menschen zu erfassen suche. Achso, ich habe die obige Stelle aus Deinen beiden längeren Beiträgen zitiert, weil es diese Stelle war, die mich motiviert hat zu schreiben.

Mit dem "Wesen" erfasse ich das an einem Menschen, das ich für unveränderlich halte. Ob von Geburt an oder nicht, finde ich dabei unerheblich. Es ist eine Eigenschaft*, die das gesamte Dasein dieses Menschen bestimmt und alle seine/ihre Verhaltensweisen, das Denken und das Fühlen tönt. Eigenartigerweise kennzeichne ich diese Eigenschaft mit ganz schlichten Worten: Ein stiller, ein freundlicher, ein temperamentvoller, ein lebensfreudiger, ein leidender Mensch usw. Man könnte anstelle dessen wohl auch "Charakter" sagen, aber das eben ist mir viel zu wenig. "Wesen" ist mehr. Ob ich Deine Unterscheidung in "Realität" und "Wirklichkeit" richtig verstanden habe, darüber bin ich mir unsicher. Ich würde sagen, das "Wesen" eines Menschen umfaßt (oder erfaßt?) die Wirklichkeit eines Menschen und das bedeutet, die Möglichkeiten dieses Menschen ins "Wesen" einzuschließen. Realität sind äußere Daten, Sachverhalte, das Realisierte also. :lol:

*"Eigenschaft" gefällt mir überhaupt nicht als Ausdruck für das Gesuchte. Wenn ich anstelle dessen "Wesensmerkmale" oder "Wesenszüge" nehme, dann allerdings ist das Gesuchte fast schon das Ganze. Geht also nicht.




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Friederike
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Mo 10. Mai 2021, 15:59

Wir hatten vor einiger Zeit einmal über Rilkes Gedicht "Das Singen der Dinge" gesprochen. Ich glaube, es drückt treffend aus, was man wohl auch als die Vernachlässigung des Wesens der Dinge bezeichnen könnte. Es scheint mir wie ein "intuitiver" Zugang zur "Wesens"- Wahrnehmung, wobei der Wesensbegriff unbestimmt bleibt.

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
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infinitum
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Do 13. Mai 2021, 19:04

ich habe wieder bei Descartes was in der dritten Medi entdeckt, was mich auf eine Idee gebracht hat:
Denn zweifelsohne sind diejenigen, die mir Substanzen darstellen, irgendetwas Größeres, und enthalten, um es einmal so auszudrücken, in sich mehr objektive Realität als diejenigen, die nur Modi, bzw. Akzidenzen repräsentieren. Und sicherlich hat diejenige, durch die ich mir einen höchsten Gott - ewig, unendlich, allwissend, omnipotent und Schöpfer aller Dinge, die außer ihm sind - einsichtig mache, wiederum mehr objektive Realität in sich, als die, durch die endliche Substanzen dargestellt werden.
Hier will ich nicht auf den Gottesbeweis hinaus, sondern auf die Modi der Realität in Bezug auf das Wesen der Dinge. Bei D. gibt es einmal die objektive Realität (was er tatsächlich riecht, schmeckt, fühlt) und es gibt die subjektive Realität (nebengeordnete Realität; Modi oder Akzidenzen). Sinnliche Wahrnehmungen oder Anschauungen im Sinne von Vorstellungen sind als gedankliche Zugriffe verschiedene Modi des Geistes zu verstehen. Ideen sind als rein gedankliche Zugriffe alle gleich, aber Dinge in ihrer jeweiligen Realität unterscheiden sich in gradueller Hinsicht. Also könnten wir das Wesen des Dinges vielleicht in der objektiven Realität ihres Sachgehaltes vermuten- da diese Dinge, die Substanzen darstellen, irgendetwas Größeres (objektiv Realeres) als die Akzidenzen darstellen.

Wenn wir wieder zum Tisch-Beispiel zurückkommen, dann fällt es mir erstmal schwer, D. objektive Realität als objektiv anzuerkennen, denn wie sich der Tisch anfühlt oder wie das Holz riecht ist (für mich) eigentlich eine subjektive Empfindung. Was wären Akzidenzen in Bezug auf den Tisch? Wäre es die Idee oder eine rein geistliche Vorstellung, die ich von einem Tisch habe, also dass er eine Ablagefähigkeit hat und mindestens 3 Beine hat (dann wackelt er zwar, aber er bleibt stehen)?
Um der Frage des Threads damit nun auf den Grund zu gehen: was wäre die "Substanz" des Tischs?



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Jörn Budesheim
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Do 13. Mai 2021, 19:47

Friederike hat geschrieben :
Mo 10. Mai 2021, 15:59
Wir hatten vor einiger Zeit einmal über Rilkes Gedicht "Das Singen der Dinge" gesprochen. Ich glaube, es drückt treffend aus, was man wohl auch als die Vernachlässigung des Wesens der Dinge bezeichnen könnte. Es scheint mir wie ein "intuitiver" Zugang zur "Wesens"- Wahrnehmung, wobei der Wesensbegriff unbestimmt bleibt.

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
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Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
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Rike fürchtet sich ja nicht vor dem Wesen der Dinge, sondern vor der Menschen Wort. Das Wesen der Dinge steht gar nicht in Frage, Rilke vernimmt es von den Dingen selbst, sie singen zu ihm.




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Alethos
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Do 13. Mai 2021, 21:05

Er fürchtet der Menschen Hang zu meinen, sie hätten abschliessend begriffen, wenn sie die Dinge bloss benennen können als das und das:

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.


Vielmehr müssen wir uns, so verstehe ich Rilke, vom Klang der Dinge mittragen lassen in die Unaufhörlichkeit und uns mit ihnen treiben lassen an jenen Punkt, an dem es keine Rolle an sich mehr spielt, ob dies dort ein Haus ist oder nicht, solange es singen kann wie eines. Das Ding, das wir Haus nennen, hat weder Beginn noch Ende an den Grenzen dieses Begriffs, das es uns spendet, sondern er, der Begriff, bietet lediglich die Möglichkeit, durch ihn hindurch das Wesen des Dings durchscheinen zu lassen in seiner wirklich unendlichen Fülle.



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Jörn Budesheim
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Fr 14. Mai 2021, 06:46

transfinitum hat geschrieben :
Do 13. Mai 2021, 19:04
denn wie sich der Tisch anfühlt oder wie das Holz riecht ist (für mich) eigentlich eine subjektive Empfindung.
"Für mich" sind die sogenannten sekundären Qualitäten genauso objektiv wie die primären. Wären sie im Grunde nur "für mich" und eigentlich nichts als eine subjektive Empfindung, wären wir von der Evolution ganz sicher aussortiert worden :)




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Jörn Budesheim
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Fr 14. Mai 2021, 07:18

Draußen zwitschern die Vögel, ihr Gesang und ihr buntes Gefieder gehören zu ihrem Wesen schätze ich. Die Idee, nur dem objektive Realität zuzugestehen, was ohne Qualität ist, erhebt die tote Natur zum Paradigma der Existenz ohne eine Begründung dafür zu geben. Aber aus welchem Grund sollte die Wirklichkeit der großen, erlebbaren Fülle weniger real sein?




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Fr 14. Mai 2021, 07:41

Off-topic: kennt sich jemand mit Freud aus und kann skizzieren, worum es bei der freudschen Todessehnsucht geht? Vielleicht gibt es ja einen "psychoanalytischen" Zusammenhang zwischen die Metaphysik des Todes (= der Idee, dass der unbelebten Natur der Primat gebührt) und dieser Sehnsucht?




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Friederike
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Fr 14. Mai 2021, 09:44

Alethos hat geschrieben :
Do 13. Mai 2021, 21:05
[...] Vielmehr müssen wir uns, so verstehe ich Rilke, vom Klang der Dinge mittragen lassen in die Unaufhörlichkeit und uns mit ihnen treiben lassen an jenen Punkt, an dem es keine Rolle an sich mehr spielt, ob dies dort ein Haus ist oder nicht, solange es singen kann wie eines. [...]
by the way: der Klang eines Wortes, denn Worte gehören ebenfalls zu den Dingen.




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Fr 14. Mai 2021, 10:18

Friederike hat geschrieben :
Fr 14. Mai 2021, 09:44
by the way: der Klang eines Wortes, denn Worte gehören ebenfalls zu den Dingen.
Das klingt jetzt wie eine Ergänzung, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Du hast mehr Rilke-Erfahrung: Wie würdest du das Gedicht mit Blick auf die besprochenen Fragen auslegen?



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Fr 14. Mai 2021, 10:58

Alethos hat geschrieben :
Fr 14. Mai 2021, 10:18
Das klingt jetzt wie eine Ergänzung, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Du hast mehr Rilke-Erfahrung: Wie würdest du das Gedicht mit Blick auf die besprochenen Fragen auslegen?
Es war eine Ergänzung. Als ich Deine "Betrachtung" (irgendwie finde ich das Wort passender als "Auslegung" oder "Interpretation") las, kam mir der Gedanke in den Sinn. Soweit ich mich erinnere, sind wir damals bei der Besprechung des Gedichtes, überhaupt nicht auf die Idee gekommen, die Wörter als "singende Dinge" mit einzubeziehen. Und das bei einem Lyriker. :lol:
Ich glaube, ich habe mich mißverständlch ausgedrückt. Ich denke also nicht, daß Rilke in diesem Gedicht den Gesang der Sprache thematisiert.




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Alethos
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Fr 14. Mai 2021, 11:08

Danke für deine Betrachtungen. Wir sollten uns überhaupt mehr mit Gedichten beschäftigen, finde ich. Das tut der Seele einfach gut und das wiederum wäre bestimmt wesentlich in einem einträglichen Sinn des Begriffs.



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Friederike
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Fr 14. Mai 2021, 11:26

Es geht noch weiter @Alethos.
Alethos hat geschrieben : [...] sondern er, der Begriff, bietet lediglich die Möglichkeit, durch ihn hindurch das Wesen des Dings durchscheinen zu lassen in seiner wirklich unendlichen Fülle.
Die lyrische Sprache tötet die Dinge natürlich nicht, ganz im Gegenteil (wenn schon der Begriff -in Deiner Interpretation- die Dinge nicht zum Schweigen bringt).




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Fr 14. Mai 2021, 11:55

Alethos hat geschrieben :
Fr 14. Mai 2021, 11:08
Danke für deine Betrachtungen. Wir sollten uns überhaupt mehr mit Gedichten beschäftigen, finde ich. Das tut der Seele einfach gut und das wiederum wäre bestimmt wesentlich in einem einträglichen Sinn des Begriffs.
Du kannst ja nichts dafür, daß ich mit dem Guttun für die Seele "wellness"-Werbung assoziiere. Und dies im Hintergrund möchte ich Dir, was die Gedichte angeht, entschieden widersprechen.

Die zweite Assoziation ist die des "Wesens" mit "Seele". Davon komme ich nicht los. Deswegen habe ich auch Schwierigkeiten, in Dingen wie Laptops, Laternenpfählen, Wasserkochern o.ä. ein Wesen auszumachen oder diese Dinge singen zu hören.




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Fr 14. Mai 2021, 13:04

Friederike hat geschrieben :
Fr 14. Mai 2021, 11:55
Die zweite Assoziation ist die des "Wesens" mit "Seele". Davon komme ich nicht los. Deswegen habe ich auch Schwierigkeiten, in Dingen wie Laptops, Laternenpfählen, Wasserkochern o.ä. ein Wesen auszumachen oder diese Dinge singen zu hören.
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
Und kein Wasserkocher oder Laptop

Gegen Wellness-Werbung haben wir Grundsätzliches einzuwenden.



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AndreaH
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Sa 15. Mai 2021, 13:40

transfinitum hat geschrieben :
Do 13. Mai 2021, 19:04
ich habe wieder bei Descartes was in der dritten Medi entdeckt, was mich auf eine Idee gebracht hat:
Denn zweifelsohne sind diejenigen, die mir Substanzen darstellen, irgendetwas Größeres, und enthalten, um es einmal so auszudrücken, in sich mehr objektive Realität als diejenigen, die nur Modi, bzw. Akzidenzen repräsentieren. Und sicherlich hat diejenige, durch die ich mir einen höchsten Gott - ewig, unendlich, allwissend, omnipotent und Schöpfer aller Dinge, die außer ihm sind - einsichtig mache, wiederum mehr objektive Realität in sich, als die, durch die endliche Substanzen dargestellt werden.
Hier will ich nicht auf den Gottesbeweis hinaus, sondern auf die Modi der Realität in Bezug auf das Wesen der Dinge. Bei D. gibt es einmal die objektive Realität (was er tatsächlich riecht, schmeckt, fühlt) und es gibt die subjektive Realität (nebengeordnete Realität; Modi oder Akzidenzen). Sinnliche Wahrnehmungen oder Anschauungen im Sinne von Vorstellungen sind als gedankliche Zugriffe verschiedene Modi des Geistes zu verstehen. Ideen sind als rein gedankliche Zugriffe alle gleich, aber Dinge in ihrer jeweiligen Realität unterscheiden sich in gradueller Hinsicht. Also könnten wir das Wesen des Dinges vielleicht in der objektiven Realität ihres Sachgehaltes vermuten- da diese Dinge, die Substanzen darstellen, irgendetwas Größeres (objektiv Realeres) als die Akzidenzen darstellen.

Wenn wir wieder zum Tisch-Beispiel zurückkommen, dann fällt es mir erstmal schwer, D. objektive Realität als objektiv anzuerkennen, denn wie sich der Tisch anfühlt oder wie das Holz riecht ist (für mich) eigentlich eine subjektive Empfindung. Was wären Akzidenzen in Bezug auf den Tisch? Wäre es die Idee oder eine rein geistliche Vorstellung, die ich von einem Tisch habe, also dass er eine Ablagefähigkeit hat und mindestens 3 Beine hat (dann wackelt er zwar, aber er bleibt stehen)?
Um der Frage des Threads damit nun auf den Grund zu gehen: was wäre die "Substanz" des Tischs?
Mir gefällt der Gedankengang und das Zitat sehr gut, ehrlich gesagt weiß ich aber noch nicht wie ich diese Differenzierung der subjektiven und objektiven Realität einordnen kann.




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Alethos
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Sa 15. Mai 2021, 17:17

Ich starte noch einmal einen Versuch - machen wir einmal tabula rasa mit diesem Tisch :)

Ein Gegenstand, ganz allgemein betrachtet, existiert immer vor seinem Hintergrund. Ein Tisch gehört z.B. in die Ordnung der Möbelstücke. Ein Gegenstand kann jedoch vor vielen Hintergründen vorkommen, manchmal auch vor mehreren zugleich. Der Tisch kann bspw. in meiner Wohnung vorkommen, da also in der Ordnung der Dinge meiner Wohnung. Er kann zugleich aber auch in Gunten erscheinen, da in der Ordnung der Dinge des Ortes, der Gunten heisst. Dieser Gegenstand, den ich hier beschreibe, sei es nun dieser Tisch in meinem Wohnzimmer oder jener im Ort Gunten, kommt aber auch in meinen Aussagen hier über ihn vor. Er ist der Gegenstand meiner Rede - nicht irgendeiner - sondern dieser.

Wenn er existiert vor dem Hintergrund, vor welchem er sich beschreiben lässt, dann färbt doch der Hintergrund auf ihn ab? Was wesentlich ist für den Hintergrund ist auch wesentlich für ihn? Wenn ich ihn als Gegenstand in der Ordnung der blauen Dinge beschreibe, ist da sein Blausein nicht wesentlich? Ist er mehr Tisch in diesem
Zusammenhang oder Blaues? Ist es überhaupt wesentlich, was er ist, als vielmehr, dass er ist so und so?



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AndreaH
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Sa 15. Mai 2021, 21:24

Das mit dem Hintergrund wie du ihn beschrieben hast, verstehe ich. Das bestätigt auch das Argument weshalb es wichtig ist und das es auch wichtig ist, das Wesen im Ganzen zu erfassen und nichts davon wegzunehmen. Da es ihn deshalb genau zu diesem individuellen Gegenstand macht den dieses Wesen beinhaltet. Wie ist es aber, wenn ich nun vor einem individuellen Tisch stehe und das Wesen dieses Tisches erfassen möchte? Es wäre mir gar nicht möglich, da ich das geschichtliche dieses individuellen Tisches gar nicht kenne. Außerdem könnte man den Hintergrund ständig wechseln und das Wesen dadurch ständig anders auslegen. Ich denke also, wir können immer nur einen Bruchteil von etwas wahrnehmen wenn wir es individuell betrachten.
Wie ist es aber, wenn wir Tische im allgemeinen und im plural betrachten?
-Wollen wir das Wesen "der Tische" erfassen-
So denke ich, läßt sich dies schon leichter erfassen.
Dort können wir wesentliche Eigenschaften, die sich durch Gemeinsamkeiten hervorheben herausfiltern und so das Wesen begreifbar machen.




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