Was heißt Natur?

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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NaWennDuMeinst
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Mo 1. Jun 2020, 12:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 20:20
"Das" quantitative naturwissenschaftliche Weltbild ist mit großer Wahrscheinlichkeit falsch. Ich kann einfach zu viele Dinge nicht integrieren.
Dass in der Wissenschaft vor allem quantitative Aussagen gemacht werden ist eine Folge der Grenzen wissenschaftlicher Modellbildung.
Bereits im Rahmen der bisher besprochenen Charakteristika der Modellbildung lassen sich
aber weitere wesentliche Grenzen der naturwissenschaftlichen (physikalischen) Methodik
markieren:
Zunächst gibt es natürlich relative Grenzen. Forschung hängt ab vom Stand der Technik,
von der Rechenleistung der Prozessoren in Computern, von den zur Verfugung stehenden
finanziellen Mitteln usw. Solche Grenzen verschieben sich mit der Zeit und bedeuten i.a.
keine prinzipielle Beschränkung.

Interessanter sind die absoluten Grenzen. Dies sind solche Grenzen, die prinzipiell gegeben
sind und sich nicht mit äußeren Bedingungen und dem Stand der Forschung ändern. So
haben alle naturwissenschaftlichen Modelle einen prinzipiell hypothetischen Charakter. Sie
werden entworfen und getestet und sind dabei immer wieder Versuchen der Falsifikation
ausgesetzt. Ihre Wahrheit liegt allein in ihrer Bewährung. Aber selbst lange bewährte
Modelle können an neuen Daten scheitern. Interpolationen und Extrapolationen sind nie
mit Notwendigkeit richtig. Wir sind nie ”gefeit“ gegen überraschend Neues, das zu einer
Abänderung von Modellen zwingt.

Eine besonders wichtige absolute Grenze liegt darin, daß physikalische Modelle immer
nur Teilaspekte der Naturwirklichkeit präparieren können. Dies wurde oben bereits deutlich gemacht.
Für die Physik (und die anderen Naturwissenschaften) läßt sich das weiter
konkretisieren:

• Die Kategorien Raum, Zeit und Materie müssen schon vorausgesetzt werden.
So kann Beobachtung und Datenerfassung nur vorgenommen werden, wenn bereits Materie vorhanden ist.
Evtl. existierende andere Kategorien (z.B. nichtmaterielle Wirklichkeiten) sind methodisch ausgeblendet.
Leicht kann es dann allerdings zu einer dogmatischen Ausblendung kommen, also zur Behauptung der Nichtexistenz solcher
Wirklichkeiten.

• Der meist sehr hohe Grad an struktureller Angleichung bei physikalischen Modellen
(Theorien) mittels des Modellmaterials Mathematik bedeutet, daß auch nur Fragen
nach strukturellen (und dabei meist auch quantitativen) Zusammenhängen beantwortbar sind:
Wie und wie schnell fällt ein Stein? Wie breiten sich Wellen aus?
Wie fließt elektrischer Strom?

• Die Mathematisierung erzwingt außerdem auch eine Typisierung, Normierung. Selbst
eine einfache mathematische Operation wie die Addition kann ja nur mit völlig gleichen,
d.h. im Modell gleich gemachten Objekten durchgeführt werden.
Individuelle Unterschiede können bestenfalls als statistische Abweichungen formuliert werden.
Das Individuelle, das Einmalige ist ausgeblendet zugunsten des Gesetzmäßigen.

• Fragen nach dem Wesen, nach Qualitäten, nach dem Was sind nicht beantwortbar
und damit ebenfalls ausgeblendet. Was eigentlich Schwerkraft (elektrischer Strom,
Licht usw.) ist, kann der Physiker nur mit dem Hinweis auf Verknüpfungen mit anderen
Größen, also funktional, mit Strukturaussagen, beantworten.
Ich habe den Eindruck, dass man sich dieser Beschränktheit der Wissenschaft durchaus bewusst ist, sie aber auch für "unumgehbar" hält.
Aus dieser Erkenntnis von Beschränktheit folgt aber auch die Einsicht, dass Wissenschaft kein (vollständiges) Weltbild liefern kann (und will).
Die Anologie zu einem Haus in dem die Wissenschaft verschiedene Stockwerke beschreibt aber zum Beispiel nichts über die anderen Stockwerke oder gar den Architekten weiß, finde ich sehr anschaulich.
Das Stockwerk mit dem sich die Naturwissenschaftler beschäftigen ist das "Stockwerk Natur". So gesehen liefern uns die Naturwissenschaften ein Naturbild, kein Weltbild.
Jetzt ist die Frage, wie Naturwissenschaftler gewisse Dinge in das Naturbild "integrieren" sollen, wenn sie dabei an die Grenzen des prinzipiell Machbaren stossen?
Wie soll der Naturwissenschaftler mithilfe wissenschaftlicher Methodik zeigen, dass "der Berg denkt"?
Solche Dinge können mMn nur Teil eines übergeordneten Weltbildes sein, nicht aber Teil eines wissenschaftlichen Naturbildes.



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Alethos
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Mo 1. Jun 2020, 14:39

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 1. Jun 2020, 12:43
Wie soll der Naturwissenschaftler mithilfe wissenschaftlicher Methodik zeigen, dass "der Berg denkt"?
Solche Dinge können mMn nur Teil eines übergeordneten Weltbildes sein, nicht aber Teil eines wissenschaftlichen Naturbildes.
Nun kann man ja über Weltbilder streiten und versuchen, Erkenntnisse, die man gewinnt, in Weltbilder zu fassen. Oder man kann Weltbilder nach den Erkenntnissen formen, die man gewonnen hat. Ich optiere für eine Version, die ohne Weltbilder auskommt.

Genau genommen, plädiere ich mit dem Neorealisten Gabriel dafür, dass es die Welt nicht gibt (und es folglich auch keine Weltbilder geben kann). Mit "Welt" ist hier ein Bereich gemeint, der alle anderen Bereiche einschlösse. Denn: Was ist die Welt anderes als die Vorstellung irgendeines Gesamtbereichs aller Dinge?

Nun ist das Argument gegen die Welt in dieser Auslegung ein stichhaltiges, ein logisch-stringentes und man kommt zur Konklusion (dass es die Welt nicht gibt) nicht durch einen naturwissenschaftlichen Zugang zur Wirklichkeit. Wir können das Argument durchexerzieren, oder einfach mal annehmen, dass dem so ist (dass es die Welt nicht gibt).

Nun gibt es aber Dinge (ob imaginierte, realphysische, erträumte, erdachte, abstrahierte, gewesene und sein werdende, Dinge des Rechts, der Politik, der Quantenphysik etc.) Es gibt also nicht nichts in der Vorstellung, dass es die Welt nicht gibt, sondern sehr vieles, im Grunde unendlich vieles. Dieses je Seiende können wir also gar nicht mehr denken aus der Optik eines Ganzen (eines Weltbilds oder einer alles umfassenden Theorie der Wirklichkeit), sondern wir kommen diesem Seienden nur über epistemisch lokal ansetzende Verfahren: den Atomen und Quanten über mathematische Modelle oder Experimente, der Moral über Gründe, die für etwas sprechen (Normativität), der Sprachbedeutung über Performierung einer (sozialen) Sprachpraxis etc.. Die Wirklichkeit ist nicht so aufgebaut, dass sie (in ihrer Gänze) wie auch immer naturalistisch, mathematisch, sozial begriffen werden könnte: 1. weil es ein "Ganzes der Welt" gar nicht gibt und 2. weil wir es mit Seienden zu tu haben, die in der Ordnung ihrer (lokalen) Existenzbedingungen vorkommen. Es gibt Dinge, also Existierendes, das nur deshalb exisitiert, weil es zu einem Bereich der Wirklichkeit gehört und nur in diesem Bereich der Wirklichkeit vorkommt. Alles Existierende kommt also lokal vor und als solches kommt es gleichberechtigt mit allem anderen vor, das ist.

Soweit also zur nicht vorhandenen Vorrangstellung naturalistischer Weltkonzeptionen unter der Fülle aller Weltkonzeptionen.

Nun konkret nochmal zum Berg. Was heisst denken? Das ist eine nicht naturwissenschaftlich allein zu beantwortende Frage, oder? Wir denken durch Begriffe. Sind denn Begriffsbedeutung und Semantik denn naturwissenschaftlich in irgendeiner Weise fruchtbar zu machende Phänomene? Ich denke, nein.
Also, was ist denken? Versuchen wir einmal trotzdem den Weg über die Naturwissenschaft, also konkreter über die Neurophysis, im besonderen das Hirn (obwohl es fraglich ist, ob nur das Hirn denkt, wenn es denkt, oder bspw. auch der Zeh oder das Knie).

Nun gut, wir haben ein Hirn, das sich aus Neuronen zusammensetzt. Was aber denkt im Hirn? Ein einzelnes Neuron? Zwei Neuronen? Drei? Oder ist es vielmehr das Zusammenwirken verschiedener Dinge im System "Hirn"? Letzeres würden wohl Neurologen bejahen: Denken resultiert aus dem Zusammenwirken verschiedener "Dinge" im Hirn, dazu zählen Zellen, Hormone, verschiedene chemische Stoffe, Elektrizität. Alles das, einverstanden?

Gut, nun, gehen wir weiter, auch wenn die medizinisch-biologische Darlegung, was Denken ist, wie ich sie oben versucht habe, mehr als mangelhaft ist: Denken ist eine systematische Leistung der hirnphysiologischen Bausteine.

Nun also, aber: Was denkt denn, wenn nicht das Neuron allein? Und genauer: Was ist ein Neuron? Es ist ein zellulares (Kleinst-)System bestehend aus nichts als toter Materie: Erst das Zusammenspiel der zellulären Bausteine in der Zelle machen aus ihr ein Lebendiges.. und erst die Vielzahl dieser Lebendigen denkt.

Nun denken wir uns doch einfach mal einen Berg als Baustein einer Zelle. Er ist nichts als tote Materie. Aber im Zusammenspiel mit anderem wird er eingebunden in ein ökologisches System. Das ökologische System, denken wir es uns als Hirn: das denkt. Weder Aminosäuren in der Zelle noch Berg am Horizont denken, aber im systematischen Verbund wird denkbar, dass es denkt. Der Berg denkt nicht als Berg: Er hat kein Bewusstsein, aber er ist Teil eines grösseren Systems, dem wir nicht mehr einfach so die Fähigkeit absprechen können, dass es denkt.

Nun ist damit nicht beantwortet, was Denken sei, aber es ist wenigstens ein Ansatz gegeben zum Verstehen, dass Denken nichts exklusiv Lebendiges ist resp. das das, was als lebendig gelten soll, auch grosszügig ausgelegt werden kann.



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NaWennDuMeinst
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Mo 1. Jun 2020, 19:06

Alethos hat geschrieben :
Mo 1. Jun 2020, 14:39
Nun denken wir uns doch einfach mal einen Berg als Baustein einer Zelle. Er ist nichts als tote Materie. Aber im Zusammenspiel mit anderem wird er eingebunden in ein ökologisches System. Das ökologische System, denken wir es uns als Hirn: das denkt. Weder Aminosäuren in der Zelle noch Berg am Horizont denken, aber im systematischen Verbund wird denkbar, dass es denkt. Der Berg denkt nicht als Berg: Er hat kein Bewusstsein, aber er ist Teil eines grösseren Systems, dem wir nicht mehr einfach so die Fähigkeit absprechen können, dass es denkt.
Doch. Weil Du ja selbst feststellst, dass die beteiligten Teile nicht selbst denken müssen um Denken zu ermöglichen.
So wie auch die Neuronen alleine nicht denken, so denkt eben auch der Berg nicht nur deshalb weil er Teil eines Systems ist in dem Denken vorkommt.
Will sagen: Dein Argument könnte man auch für die gegenteilige Behauptung super nutzen.
Nun ist damit nicht beantwortet, was Denken sei, aber es ist wenigstens ein Ansatz gegeben zum Verstehen, dass Denken nichts exklusiv Lebendiges ist resp. das das, was als lebendig gelten soll, auch grosszügig ausgelegt werden kann.
Das Problem ist hier wohl die Lokalisation. Weil man das Denken nicht verorten kann, verortet man es einfach überall, bzw nimmt an, dass das Denken keinen Ort hat.
Ich frage mich aber auch, ob es dann, wenn man es so betrachtet, überhaupt noch Sinn macht zu sagen Jemand sei der Urheber seiner Gedanken.
Müssen wir dem Berg Tantiemen zahlen?

Oder auch cogito ergo sum.
Alles denkt also bin ich?

Also ich weiß nicht.



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Jörn Budesheim
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Mo 1. Jun 2020, 19:41

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 1. Jun 2020, 19:06
Alles denkt also bin ich?
Nicht, dass ich das unterschreiben möchte, aber es gefällt mir hervorragend!




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Alethos
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 1. Jun 2020, 19:06

Das Problem ist hier wohl die Lokalisation. Weil man das Denken nicht verorten kann, verortet man es einfach überall, bzw nimmt an, dass das Denken keinen Ort hat.
Ich frage mich aber auch, ob es dann, wenn man es so betrachtet, überhaupt noch Sinn macht zu sagen Jemand sei der Urheber seiner Gedanken.
Das ist nun eine nicht ganz lautere Fortsetzung meines Gedankens :) Siehe es doch einfach als Angebot, ein andere denn naturwissenschaftliche Perspektive einzunehmen.

Es geht ja auch darum, das Denken von anderen Seiten zu betrachten, es durchleuchten in seiner Mannigfaltigkeit. Ein Anknüpfungspunkt ist nun eben der festzustellen, dass das Denken nicht im Kopf allein geschieht.



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NaWennDuMeinst
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Di 2. Jun 2020, 01:49

Alethos hat geschrieben :
Mo 1. Jun 2020, 20:24
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 1. Jun 2020, 19:06

Das Problem ist hier wohl die Lokalisation. Weil man das Denken nicht verorten kann, verortet man es einfach überall, bzw nimmt an, dass das Denken keinen Ort hat.
Ich frage mich aber auch, ob es dann, wenn man es so betrachtet, überhaupt noch Sinn macht zu sagen Jemand sei der Urheber seiner Gedanken.
Das ist nun eine nicht ganz lautere Fortsetzung meines Gedankens :)
Das ist das, wie ich es verstanden habe (das kann sich von dem was Du gemeint hast unterscheiden, dann liegt ein Missverständnis vor), und was sich für mich daraus ergibt.
Ich habe nur versucht das was Du mir erklärt hast gedanklich zu erfassen und in meine Sprache zu übersetzen.
Siehe es doch einfach als Angebot, ein andere denn naturwissenschaftliche Perspektive einzunehmen.
Ja. Gerne. Ich habe ja überhaupt nichts dagegen. Aber mir fehlt momentan noch der "Mehrwert".
Man schickt sich ja an Probleme, die das naturwissenschaftliche "Naturbilid" nicht lösen kann, einer Lösung zuzuführen. Momentan sehe ich aber nur weitere Probleme.
Was bringt es mir so zu denken? Worin besteht der Vorteil?
In wie fern komme ich (oder kommen wir Menschen) auf diese Weise weiter?
Wie hilft uns das dabei die Welt besser zu verstehen?
Das fehlt mir aktuell noch.
Man kann natürlich auch mal zum Spaß einfach phantasieren.
Aber wenn aus Spaß Ernst werden soll, muss da irgendwie noch mehr kommen. Für mich jedenfalls.

Oder mal ganz plump formuliert: Ich nehme also nun an dass "alles denkt". Und nun? Wie geht's jetzt weiter?
Was folgt daraus an Positiven, Wissenswerten?
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Di 2. Jun 2020, 02:15, insgesamt 1-mal geändert.



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Di 2. Jun 2020, 02:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 1. Jun 2020, 19:41
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 1. Jun 2020, 19:06
Alles denkt also bin ich?
Nicht, dass ich das unterschreiben möchte, aber es gefällt mir hervorragend!
Echt? Also mir bereitet es nur Unbehagen. Denn zu meinem Begriff von dem "Ich" in dem Satz gehört für mich auch, dass ich Derjenige bin der meine Gedanken denkt (nicht irgendein "wir").
Das ist sozusagen ein essentieller Teil meiner Identität. Für mich ergibt das "ich" in diesem Satz überhaupt keinen Sinn ohne das.
Und dabei ist natürlich berücksichtigt, dass meine Gedanken "gewachsen" sind, sie also auf die Gedanken anderer zurückgreifen.
Trotzdem meine ich, dass meine Gedanken mir gehören, und sonst Niemandem und dass sie auch aus mir entspringen und sonst niemanden.

Wie steht dieser Denkbegriff zur Idee "Individualität"? Gibt es das alles noch oder lösen sich sämtliche Gedanken und Selbstentwürfe im großen Schwarmbewusstsein auf?



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Jörn Budesheim
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Di 2. Jun 2020, 05:38

Wie gesagt: ich unterschreibe das nicht!

Ich für meinen Teil denke auch nicht, dass Berge denken. Aber es ist nicht schlecht, auch mal exotische Gedanken auszuprobieren.




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Jörn Budesheim
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NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 2. Jun 2020, 02:06
Trotzdem meine ich, dass meine Gedanken mir gehören, und sonst Niemandem und dass sie auch aus mir entspringen und sonst niemanden.
Das wäre sozusagen das andere Extrem. Das unterschreibe ich auch nicht.

Ein ganz wichtiger Punkt bei Gedanken ist schließlich, dass andere dieselben Gedanken auch haben können und/ oder wir sie (einander mit)teilen können. Nehmen wir einen ganz unspektakulären Fall: jemand kommt herein und hat vielleicht den Gedanken, dass auf dem Tisch ein Tablet steht. Das ist ein Gedanke, den jeder erfassen kann, der in diesem Raum kommt, ganz einfach, weil wirklich auf dem Tisch ein Tablet steht. Oder: in der Schule lernen die Kinder bereits recht früh, die richtigen Gedanken über die Grundrechenarten zu erfassen. Und später lernen sie, wenn sie z.b. Philosophie Bücher lesen, die Gedanken zu erfassen, die darin behandelt werden.

Das spricht dagegen, dass Gedanken generell einem Einzelnen gehören oder ihm entspringen. Es kann natürlich sein, das eine Einzelne einen Gedanken erfasst hat, den bisher niemand erfasst hat. Aber das ändert nichts daran, dass Gedanken etwas sind, was jeder erfassen kann.

Gedanken sind daher nichts, was prinzipiell in einem privaten Innenraum "eingeschlossen" ist. Oder etwa jemandem "gehört".

Denken hingegen, also der Vorgang des Erfassens von Gedanken, mag etwas Innerliches sein, in welchem Sinne auch immer, aber Gedanken (also das, was beim Denken erfasst wird) sind grundsätzlich etwas öffentliches, etwas auch von anderen erfasst werden kann.

Nehmen wir den berühmten Gedanken, dass 7 + 5 = 12 ist. Nun sind Zahlen keine raum-zeitlichen Dinge. Daher kann dieser Gedanke auch keinen Ort haben etwa "im" Kopf. Das wäre so sinnlos, wie zu sagen, dass dieser Gedanke einen halben Quadratmeter einnimmt und 100 g wiegt.




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Di 2. Jun 2020, 07:21

Weil es gerade in einem anderen Thread erwähnt wurde, fällt mir dazu die Position Walter Benjamins ein. Aber ob das dafür spricht, dass Berge denken...
Walter Benjamin, in "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916)" hat geschrieben : Es gibt kein Geschehen oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen geistigen Inhalt mitzuteilen. Eine Metapher aber ist das Wort »Sprache« in solchem Gebrauche durchaus nicht. Denn es ist eine volle inhaltliche Erkenntnis, dass wir uns nichts vorstellen können, das sein geistiges Wesen nicht im Ausdruck mitteilt; der größere oder geringere Bewusstseinsgrad, mit dem solche Mitteilung scheinbar (oder wirklich) verbunden ist, kann daran nichts ändern, dass wir uns völlige Abwesenheit der Sprache in nichts vorstellen können. [Von mir hervorgehoben]
Walter Benjamin hat geschrieben : Die Vorhänge sind die Dolmetscher für die Sprache des Windes.
Nehmen wir einfach mal an, man würde das akzeptieren. (schön und poetisch ist diese Idee ja allemal.) Spräche das dann dafür, dass Vorhänge denken? Gedanken sind etwas, was fürs Wahrsein in Frage kommt. Gedanken können also wahr und falsch sein. Jemand der denkt, muss also irren können. Da Berge und Vorhänge nicht irren können, können sie auch nicht denken.




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Alethos
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Di 2. Jun 2020, 12:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 2. Jun 2020, 07:21
Gedanken sind etwas, was fürs Wahrsein in Frage kommt. Gedanken können also wahr und falsch sein. Jemand der denkt, muss also irren können. Da Berge und Vorhänge nicht irren können, können sie auch nicht denken.
Wobei es wirklich fraglich ist, ob alle Gedanken Urteilsform haben oder einen präpositionalen Gehalt. Aufforderungssätze sind z.B. solche, die weder wahr oder falsch im entsprechenden Sinn sein können. Das ist natürlich kein Argument dafür, das Teppiche oder Vorhänge denken.



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Di 2. Jun 2020, 13:46

Aufforderungssätze sind keine Gedanken, können aber wahre oder falsche Gedanken "enthalten" oder darauf basieren. "Kannst du das Fenster schließen" enthält das Urteil, dass das Fenster offen ist und vermutlich einiges mehr.




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Di 2. Jun 2020, 18:49

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 2. Jun 2020, 13:46
sind keine Gedanken
Da haben wir wohl eine andere Auffassung davon, was Gedanken sind. Sie haben für meine Begriffe nicht immer Urteilsform.

Frege schreibt bspw.: "Urteilen im engeren Sinn könnte man kennzeichnen als ein Übergehen vom Gedanken zum Wahrheitswert.". Nach dieser Konzeption sind Gedanken und Wahrheitswert nur in der Form von Urteilen kongruent.



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Alethos hat geschrieben :
Di 2. Jun 2020, 18:49
Da haben wir wohl eine andere Auffassung davon, was Gedanken sind.
Sieht so aus. Je länger ich darüber nachdenke, desto abwegiger finde ich es zum Beispiel, eine Aufforderung einen Gedanken zu nennen.




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Di 2. Jun 2020, 19:27

Alethos hat geschrieben :
Di 2. Jun 2020, 18:49
Frege schreibt bspw.: "Urteilen im engeren Sinn könnte man kennzeichnen als ein Übergehen vom Gedanken zum Wahrheitswert.". Nach dieser Konzeption sind Gedanken und Wahrheitswert nur in der Form von Urteilen kongruent.
Hierzu kann ich nichts sagen, weil ich weder verstehe was Frege schreibt, noch was du schreibst :) und auch nicht worauf du dich beziehst.




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Di 2. Jun 2020, 20:30

Frege hat geschrieben : »Eine Tatsache ist ein Gedanke, der wahr ist.«
Ich weiß nicht sicher, ob man das mitmachen sollte. Aber "umgedreht" wäre ich dabei: ein wahrer Gedanke ist eine Tatsache.




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Di 2. Jun 2020, 20:33

Ich beziehe mich auf deine Aussage, dass Gedanken wahr oder falsch sein müssen. Das Ganze dürfte wohl ein Nebenschauplatz des hier eigentlich Thematisierten ("Was heisst Natur?") sein.

Um Frege hier auszudiskutieren, ist wohl thematisch kein Platz, aber vielleicht dazu noch John Searle in 'Geist, Sprache und Gesellschaft' S. 121/122'
Wir brauchen einen Begriff, der allgemeiner ist als der der Wahrheit, weil wir einen Begriff brauchen, der nicht nur solche intentionalen Zustände (wie Überzeugungen) abdeckt, die wahr oder falsch sein können, sondern auch solche (wie Wünsche und Absichten), die erfüllt und enttäuscht, ausgeführt oder nicht ausgeführt werden können. Ich kann glauben, dass ich heute Abend ins Kino gehen werde, und mich somit in einem Zustand befinden, der wahr oder falsch ist; und genauso kann ich wünschen, heute Abend ins Kino zu gehen, oder beabsichtigen, heute Abend ins Kino zu gehen. Meine Wünsche und Absichten können jedoch nicht buchstäblich wahr oder falsch sein. Was meiner Überzeugung ihre Wahrheitsbedingung ist - und zwar: dass ich heute Abend ins Kino gehen werde –, ist genau das, was meinem Wunsch seine Erfüllungsbedingung ist – eben: dass ich heute Abend ins Kino gehen werde. Ich werde also sagen, dass intentionale Zustände wie Überzeugungen und Wünsche Erfüllungsbedingungen haben, und dieser Terminus deckt nicht nur Erfüllungsbedingungen (für Wünsche) ab, sondern auch Wahrheitsbedingungen (für Überzeugungen), Ausführungbedingungen (für Absichten) und so weiter. Erfüllungsbedingungen zu haben ist ein allgemeines Merkmal sehr vieler intentionaler Zustände mit propositionalem Gehalt, und Wahrheitsbedingungen sind ein Spezialfall der Erfüllungsbedingungen.
Zuletzt geändert von Alethos am Di 2. Jun 2020, 21:21, insgesamt 1-mal geändert.



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Ein Wunsch ist ein Gedanke?




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Aber im Prinzip müssen wir das nicht klären, denn man kann das Argument oben ja entsprechend umformulieren: Berge können keine internationalen Zustände haben, weil sie die Erfüllungsbedingungen nicht verfehlen können :)

Falls Benjamin Recht hätte, hieße das, dass sie zwar über eine Sprache verfügen, aber nicht denken können.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 2. Jun 2020, 20:59
Aber im Prinzip müssen wir das nicht klären, denn man kann das Argument oben ja entsprechend umformulieren: Berge können keine internationalen Zustände haben, weil sie die Erfüllungsbedingungen nicht verfehlen können :)
Man kann immer alles so umdrehen, dass es irgendwie falsch scheint. :)

Schliesslich müssten wir dem Gedanken Webers auf den Grund gehen und versuchen, die Argumente zu verstehen, die er für die Aussage, dass ein Berg denke, anführt, um beurteilen zu können, wo er sich irrt. Ich bin überzeugt, dass er bessere anführen kann als ich und ich meine, ihn schon allein als Biologen würdigend, hätte er es verdient, dass wir ihn nicht "von der Seitenlinie" auspfeifen.



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