Do 21. Mai 2020, 11:16
Weil heute Vatertag ist, vielleicht mal ein kleiner Text über Mutter Natur: Was ist Natur? Das eine oder andere habe ich bereits an anderer Stelle schon mal gepostet.
Ich habe natürlich keine letzte Antwort auf diese Frage. Nicht mal eine erste, ich will hier nur mal einen simplen Gedanken ausprobieren, der ganz und gar naiv beginnt.
Fall 1: Wenn wir irgendeinen Gegenstand betrachten, dann ist es diesem Gegenstand in vielen Fällen gleichsam "egal", was wir über ihn denken. Lava im Monde kümmert es nicht, was wir über sie denken. Sie ist einfach, wie sie ist - unabhängig davon, ob und wie wir sie betrachten.
Fall 2: Ganz und gar anders ist es bei uns selbst: Wie wir uns selbst betrachten und fragen, wie wir sind, dann ist das nicht streng getrennt. Ganz im Gegenteil: Unser eigenes Sein vollzieht sich immer auch im Lichte der Ansichten, die wir von uns selbst haben. Das ist ein wichtiger Aspekt dessen, was man Geist nennt, finde ich.
Diese Unterscheidung (Lava/Geist) ist relativ "streng". (Sie dürfte der Unterscheidung zwischen "an sich" und "für sich" in einem weiten Sinne entsprechen.) Ich frage mich, ob es zwischen den beiden Polen Zwischenglieder geben kann? Übergänge und Kontinuen, sodass sich der strenge Dualismus vielleicht letztlich als falsch oder unterkomplex erweist...
Ein weiterer Fall: Wie sieht es aus mit einer Blüte? In einer gewissen Hinsicht dürfte es der Blüte zwar "egal" sein, wie sie gesehen wird. Auf der anderen Seite können wir ihre Erscheinung meines Erachtens gar nicht verständlich machen, wenn wir nicht in Rechnung stellen, dass sie so, wie sie ist, gewissermaßen "für andere Lebewesen" ist. Man könnte vielleicht sagen, ihre Erscheinung ist auf Wahrgenommenwerden ausgelegt. Die Blüte ist natürlich nicht "für sich", in dem Sinne, dass sie sich um sich sorgt und ein Bild von sich hat, an dem sie sich orientiert. Aber sie ist nicht bloßes "an sich", wie auch immer man das im Einzelnen ausbuchstabieren müsste. Ihr Sein ist nur aus einem lebendigen Zusammenhang heraus zu verstehen.
(Der Naturwissenschaftler David Deutscher argumentiert sogar dafür, dass die Pflanze objektiv schön ist, weil sie über Artgrenzen hinweg gefallen muss.)
Ich würde vorschlagen, den Begriff Natur so zu fassen, dass der lebendige Zusammenhang zu seinem Zentrum wird, aber so, dass er von diesem Zentrum ausstrahlen kann - auch in die unbelebte Natur hinein. Das wäre ein Naturbegriff, der nicht so ohne weiteres von der Physik z.b. zu fassen wäre, weil Erlebnisse (das heißt: Bewusstsein) in irgendeiner Weise Bestandteil dieses Begriffes sind.
In diesem Konzept könnte der Umstand, dass die Blüte so und so aussieht, die Wiese im Frühling grün und schön ist, so und so riecht etc... niemals zu einem Epiphänomen werden, sondern das wäre der Kern des Naturbegriffes.
Dazu ein kurzes Textfragment, was mir gerade via instagram in die Finger gekommen ist:
"Weil alle Prozesse in dieser Wirklichkeit auf Beziehungen beruhen, die Bedeutungen vermitteln (die wir, menschliche und tierische und pflanzliche Subjekte in unseren Emotionen erfahren), lässt sich das Bild eines lebendigen Kosmos, inklusive seines natürlichen Werdens, inklusive seiner sozialen Transformationen, inklusive unsererer materiellen Versorgung, letztlich nur als eine Poetik formulieren." (Andreas Weber)
Wir brauchen also eine poetische Sichtweise, in der das Qualitative von vornherein seinen Platz hat. Denn die rein quantitative Methode des Messens und Zählens kann uns selbst und unseresgleichen bisher in das Bild nicht integrieren. Das wäre wirklich ein Paradigmenwechsel. Vor einigen Tagen habe ich etwas ähnliches gelesen: die beiden Naturwissenschaftler Tononi und Koch die in ihren Arbeiten dem Bewusstsein auf der Spur sind, "sagen, dass die Wirklichkeit fundamental qualitativ ist." (Zitiert nach Markus Gabriel im Gespräch mit Matthias Eckoldt)
Noch mal Andreas Weber, in: "Enlivenment, Eine Kultur des Lebens":
"Das zentrale Merkmal unserer von Krisen heimgesuchten Zivilisation besteht darin, dass wir die Wirklichkeit für etwas anderes halten, als sie ist. Wir halten sie für tot, nach mechanischer Rationalität behandelbar. Aber sie ist lebendig. Wir verleugnen die kreativen, poetischen und nach Ausdruck strebenden Prozesse, aus denen die Welt, die Biosphäre, und unsere eigene Identität hervorgehen. Wir nehmen das Gewebe der schöpferischen Beziehungen, die sich beständig entfalten und eine Vielzahl dynamischer, sich wechselseitig beeinflussender Verbindungen hervorbringen, nicht zur Kenntnis. Wir fühlen es nicht. Es hat weder in den offiziell favorisierten Weltbeschreibungen noch in der privaten Lebensführung einen nennenswerten Platz. Was uns fehlt, ist das: Wir haben vergessen, was es heißt, am Leben zu sein."
Eine zweite Aufklärung müsste dieses falsche Bild zurechtrücken! Dabei geht es nicht nur um eine andere Sichtweise, die gewissermaßen zur physikalischen als nette Dreingabe hinzukommt. Sondern es geht um einen grundlegenden Wandel. Wenn wir die Natur selbst als einen fundamental qualitativen, kreativen und lebendigen Zusammenhang verstehen, welche Rolle müsste dann wohl der Kunst in unserer Gesellschaft und unserem Bestreben, unseren Platz in der Wirklichkeit zu verstehen zukommen?
In einer aufgeklärten Welt, würde jeder verstehen, dass diese Frage natürlich rhetorisch gemeint ist :)