Was heißt Natur?

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Alethos
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Mo 25. Sep 2017, 20:56

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 23. Sep 2017, 14:42
Was entgeht uns? Eine Natur, die wir im Sinne der ersten Definition begreifen, wendet uns im weitesten Sinne "ein lesbares Gesicht" zu, selbst wenn sie uns gelegentlich abgründig erscheint. (In Verdrehung einer Formulierung von Foucault: „Wir müssen uns nicht einbilden, dass uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben.") Bei den Naturerlebnissen, die ich im Sinn habe, tritt uns die Natur nicht bloß ""als zwecklose raumzeitliche Welt ausgedehnter, materieller Körper" entgegen meine ich, sondern als schön, erschreckend, beunruhigend, als Mutter Natur usw.

"Die schönen Dinge" - sagt Kant - "zeigen an, dass der Mensch in die Welt passe". Wenn wir die Natur jedoch nur noch als "kalte Heimat" verstehen können, dann scheint mir mit unserer Metaphysik was schief gelaufen zu sein :-) denn dann begreifen wir uns selbst in einem substanziellen Sinn als "Weltfremdlinge" wie Welsch es formuliert. Aber warum sollte das so sein?
Ich verstehe. Die Natur in dieser Erlebbarkeit, wo wir auch mittendrin stehen können, hat eine vertraute Sprache (Du würdest vielleicht sagen, wir haben für diese Naturebene bessere Registraturen). Sie ist uns eine "warme Heimat".

Wenn wir uns in der Natur in ihrer Ganzheitlichkeit, in ihrem Zyklischen und auch in ihrem Bedrohlichen, wohl fühlen, weil es uns vertraut ist, dann müssen wir vielleicht nur lange genug in ein Mikroskop schauen oder demokritische Atomistik resp. materialistische Dimensionen denken, damit wir uns in sie einfühlen können? Nicht, dass wir dann zum Quark mutieren und mit unseren Positron-Freunden ein tolles Leben leben, das wohl nicht :), aber es braucht vielleicht auch einen gewissen Mut, sich auf die kalte Leere des subatomaren Seins einzulassen. An eine Grenze zu kommen und zu sagen: "Hier verlasse ich meine Komfortzone", das mag mir oder den meisten von uns schwer fallen. Aber Atomphysikern offensichtlich nicht. Auch Neurobiologen haben da offensichtlich keine Hemmung, alle metaphysischen Hüllen fallen zu lassen :)



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Stefanie hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 19:13
...eine Rose kann nicht ärgerlich sein.
Du hast wohl den "Kleinen Prinzen" nicht gelesen. :)




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Stefanie
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Doch, mehrmals, aber das ist ein Roman, die Geschichte erfunden! Ein Fuchs kann auch nicht reden.



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Jörn Budesheim
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Alethos hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 20:56
Mut, sich auf die kalte Leere des subatomaren Seins einzulassen
Mir geht es nicht um ein "entweder oder".

Was die Naturwissenschaften über die Wirklichkeiten, mit denen sie sich beschäftigen, herausfinden, ist von unschätzbarem Wert! (Man denke nur an die vielen medizinischen Erfolge, ohne die ich - wenn mir diese persönliche Bemerkung erlaubt ist - in diesem Forum gar nicht schreiben könnte, mangels Lebensatem.) Und ich bezweifle auch nicht, dass der Blick in ein Mikroskop oder an den Rand des Urknalls uns zutiefst beeindrucken kann.

Ich bezweifle nur, dass das Weltbild, was hier skizziert ist, richtig ist > "mit dem naturwissenschaftlichen Durchbruch und der Entstehung eines neuen Weltbildes wird Natur als eine zwecklose raumzeitliche Welt ausgedehnter, materieller Körper betrachtet welche universal gültigen Gesetzmäßigkeiten gehorchen." Denn damit wird der Bereich, dem sich einige (nicht mal alle) Naturwissenschaften beschäftigen, zu leicht zum Bild von "allem". Aber es gibt sehr viele Merkmale der vielfältigen Wirklichkeiten, die mit diesem Gedanken verfehlt werden, die aber genau so real sind wie die kalte Leere des subatomaren Seins.




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Alethos hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 20:56
Auch Neurobiologen haben da offensichtlich keine Hemmung, alle metaphysischen Hüllen fallen zu lassen :)
Ach, Du meinst, ein atomistisch-materialistischer Reduktionismus sei keine metaphysische Hülle?




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Stefanie hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 19:13
Zweite spontane Reaktion zum Beispiel Fichtenwald, wieso Zwischending, es ist doch eindeutig, dass es eine Kulturlandschaft ist und dritte spontane Reaktion nach Leseende, das ist mir alles zu unlogisch.
Zur dritten Reaktion ("das ist mir alles zu unlogisch") kann ich nicht viel sagen. Aber zum Fichtenwald schon. Natürlich ist das eine Kulturlandschaft, aber nicht "eindeutig". Denn die Fichten - und die gesamte Flora und Fauna, die zu diesem Biotop gehören -, sind doch offensichtlich natürliche Organismen, keine menschlichen Artefakte. Und selbst wenn es lauter Artefakte aus Kunststoff wären, bestünden sie immer noch aus Materialien, die in der Natur vorgefunden werden; Erdöl ist kein Kunstprodukt, sondern ein natürlicher "Rohstoff", den wir Menschen nur auf sehr "raffinierte" Weise be- und verarbeiten.




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Friederike
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Di 26. Sep 2017, 12:52

Jörn Budesheim hat geschrieben : Mir geht es nicht um ein "entweder oder". [...] Ich bezweifle nur, dass das Weltbild, was hier skizziert ist, richtig ist > "mit dem naturwissenschaftlichen Durchbruch und der Entstehung eines neuen Weltbildes wird Natur als eine zwecklose raumzeitliche Welt ausgedehnter, materieller Körper betrachtet welche universal gültigen Gesetzmäßigkeiten gehorchen." Denn damit wird der Bereich, dem sich einige (nicht mal alle) Naturwissenschaften beschäftigen, zu leicht zum Bild von "allem". Aber es gibt sehr viele Merkmale der vielfältigen Wirklichkeiten, die mit diesem Gedanken verfehlt werden, die aber genau so real sind wie die kalte Leere des subatomaren Seins.
In diesem Moment verstehe ich etwas, das ich bisher nie ganz verstanden hatte. Es geht bei der Zurückweisung dessen, was gemeinhin "Szientismus" genannt wird, nicht darum, den Erklärungs- und Erkenntniswert der Naturwissenschaft(en) abzulehnen oder zu mindern, sondern es geht darum, den Erklärungs- und Erkenntniswert anderer Naturzugänge für genau so gegeben (="wahr") zu halten. Eine hauptsächlich sinnlich erfahrene/erlebte Betrachtung einer Fluß- und Wiesenlandschaft unterscheidet sich qualitativ nicht von dieser Art der Betrachtung einer lebendigen Zellen-Landschaft unter dem Mikroskop. Erklärungs- und Erkenntniswert sind andere als die des Szientismus. "Natur" wird nicht zerlegt, zergliedert, analysiert, sondern "Natur" wird gestaltet, geformt, synthetisiert ... so würde ich den Unterschied stichwortartig zusammenfassen.




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Di 26. Sep 2017, 13:13

Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 09:16
Alethos hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 20:56
Auch Neurobiologen haben da offensichtlich keine Hemmung, alle metaphysischen Hüllen fallen zu lassen :)
Ach, Du meinst, ein atomistisch-materialistischer Reduktionismus sei keine metaphysische Hülle?
Ich sehe deinen Punkt, aber nicht dein Argument :) Wenigstens sehe ich den Bezug zu meinem Beitrag nicht, denn von Reduktionismus habe ich nicht gesprochen

Du selbst hast ja den meines Erachtens einleuchtenden Vorschlag eingeführt, die Einordnung unter Begriffe etwas flexibler handzuhaben. Perspektiven oder Ansichten sind für meine Begriffe gerade nicht exklusiv, nicht reduktionistisch, sondern beinhalten das Andere, das wir vielleicht ungebührender Weise begriffslogisch abzugrenzen geneigt sind.

Das wird übrigens auch beim Mary-Thread zum Problem, wenn wir dem Physikalismus unterstellen, er reduziere die Dinge auf ihren materiellen Gehalt. Das muss nicht so sein, wenn wir an die Theorie als Ergänzung herantreten. Unsere Interpretionen sind ja insofern frei, als wir die Theorien nicht gegeneinander aufwiegen müssen, sondern sie komplementär denken können. Wir können verschiedene Draufsichten auf die Welt der Dinge haben, ohne einer Perspektive oder einer Theorie den alleinigen Geltungsanspruch zu verleihen.

Und ja, du hast recht, dass wie unter gewissen Gesichtspunkten auch physikalistischen Theorien metaphysischen Gehalt zusprechen müssen. Die Theorie, dass alles nur Atome seien, ist sicherlich hochgradig metaphysisch.



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Jörn Budesheim
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Di 26. Sep 2017, 17:05

www.goethe.de hat geschrieben : NATUR UND MENSCH KÖNNEN EINS SEIN

... Die 80.000 Jahre alte Zivilisation hat eine Spaltung nie vorgenommen, an der sich der Westen bis heute abarbeitet: Mensch und Natur waren in Australien immer verschwistert und verwandt. Felsen haben bis heute eine eigene Seele und verkörpern humane Identität. „An vielen Stellen wird hier das Land immer noch von den Ureinwohnern rituell ins Leben gesungen“, sagt die Ökophilosophin Freya Mathews aus Melbourne.

Wer also das Verhältnis des Menschen zur Welt und vor allem zur Natur neu beleuchten will, und damit an die fruchtbarste Triebkraft des deutschen Denkens anzuknüpfen versucht, könnte von einer Reise in die Wüste am anderen Ende der Welt profitieren. Unter dem Fluss aus Sand, der sich durch Alice Springs schlängelt, ist diese Seele noch nicht verloren.

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Alethos
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Di 26. Sep 2017, 19:32

Friederike hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 12:52
Jörn Budesheim hat geschrieben : Mir geht es nicht um ein "entweder oder". [...] Ich bezweifle nur, dass das Weltbild, was hier skizziert ist, richtig ist > "mit dem naturwissenschaftlichen Durchbruch und der Entstehung eines neuen Weltbildes wird Natur als eine zwecklose raumzeitliche Welt ausgedehnter, materieller Körper betrachtet welche universal gültigen Gesetzmäßigkeiten gehorchen." Denn damit wird der Bereich, dem sich einige (nicht mal alle) Naturwissenschaften beschäftigen, zu leicht zum Bild von "allem". Aber es gibt sehr viele Merkmale der vielfältigen Wirklichkeiten, die mit diesem Gedanken verfehlt werden, die aber genau so real sind wie die kalte Leere des subatomaren Seins.
In diesem Moment verstehe ich etwas, das ich bisher nie ganz verstanden hatte. Es geht bei der Zurückweisung dessen, was gemeinhin "Szientismus" genannt wird, nicht darum, den Erklärungs- und Erkenntniswert der Naturwissenschaft(en) abzulehnen oder zu mindern, sondern es geht darum, den Erklärungs- und Erkenntniswert anderer Naturzugänge für genau so gegeben (="wahr") zu halten. Eine hauptsächlich sinnlich erfahrene/erlebte Betrachtung einer Fluß- und Wiesenlandschaft unterscheidet sich qualitativ nicht von dieser Art der Betrachtung einer lebendigen Zellen-Landschaft unter dem Mikroskop. Erklärungs- und Erkenntniswert sind andere als die des Szientismus. "Natur" wird nicht zerlegt, zergliedert, analysiert, sondern "Natur" wird gestaltet, geformt, synthetisiert ... so würde ich den Unterschied stichwortartig zusammenfassen.
Ja, ich sehe das auch so, wie ihr beiden. In meinem ersten Beitrag habe ich auch geschrieben, dass wir hier sehr rasch in idealisierende Vorstellungen von Natur abschweifen könnten. Ich habe natürlich von mir auf andere geschlossen :) Denn es ist doch so: Wenn wir vor dieser Flusslandschaft stehen, und diesen in der Sonne gleissenden Fluss sehen, der sich ins Dunkle schlängelt. Mächtig, aber auch zart die Landschaft formt. Das Grüne, das in allen möglichen Farbtönen an die Berge im Hintergrund übergeht. Die Wärme, das dies in uns ausstrahlt, die wir mittendrin stehen, das ist unglaublich. Es ist eindrücklich, es ist berührend, es ist einfach eine Nummer grösser als jede Art von Wissenschaft es in ihren je speziellen Zugängen auf die Welt je erfassen könnte. Egal, wie gut oder nicht meine Beschreibung dieser Landschaft jetzt war: Ich denke, dass jeder von uns das irgendwie schon einmal erlebt hat: Im Wald, beim Wandern, auf den Hügeln, am Strand - überall preist sich die Natur uns an als unsere warme Heimat. Mir gefällt das: warme Heimat :)



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Stefanie
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Di 26. Sep 2017, 21:46

Alethos:
Es ist eindrücklich, es ist berührend, es ist einfach eine Nummer grösser als jede Art von Wissenschaft es in ihren je speziellen Zugängen auf die Welt je erfassen könnte
Wurzelknuel_PM.jpg
Wurzelknuel_PM.jpg (652.86 KiB) 20192 mal betrachtet
Sieht aus wie ein Kunstwerk, ist aber unter dem Mikroskop das Geflecht von Baumwurzeln und Pilzen.

Auch sehr eindrücklich, faszinierend.... halt etwas kleiner.



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Stefanie
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Di 26. Sep 2017, 21:58

Nur weil eine Landschaft groß ist, und vielleicht nicht komplett von uns ersehen werden kann, ist es nicht automatisch "größer" als das, was die Naturwissenschaft bietet.
Ich hätte ja gerne eine Rose, betrachtet unter dem Mikroskop, gezeigt, aber leider keine gefunden :- )

Wenn Natur gestaltet und geformt wird, durch eine Handlung von uns, ist es für mich nicht mehr Natur, sondern Kultur. Ich bin wohl mehr die Anhängerin eines altmodischen Naturbegriffs. Die Fichten in dem Fichtenwald werden geformt und gestaltet, weshalb für mich der durch den Menschen angelegte Fichtenwald nicht (mehr) Natur ist, sondern eine Kulturlandschaft. Das ist nicht abwertend.
Denn, dass heißt doch nicht, dass eine solche Kulturlandschaft - oftmals im Sprachgebrauch Natur genannt- nicht auch ein berührendes Erlebnis sein kann und oft auch ist.
Es ändert daran auch nichts, wenn ich weiß, es ist von uns geschaffen, oder weiß oder zumindest erahne, dass entweder bei "Natur pur" oder bei einer Kulturlandschaft naturwissenschaftliche Abläufe bestimmte Farben (die Farbe des Meeres) oder bestimmte Formen (z.B. Wind, Sonne ) hervorbringen.

Mir ist die Fragestellung immer noch nicht ganz klar, befürchte ich.



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novon
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Di 26. Sep 2017, 23:24

Stefanie hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 21:58
Ich hätte ja gerne eine Rose, betrachtet unter dem Mikroskop, gezeigt, aber leider keine gefunden :- )
Found some... ;)




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Alethos
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Mi 27. Sep 2017, 01:57

Stefanie hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 21:46
Alethos:
Es ist eindrücklich, es ist berührend, es ist einfach eine Nummer grösser als jede Art von Wissenschaft es in ihren je speziellen Zugängen auf die Welt je erfassen könnte
Wurzelknuel_PM.jpg

Sieht aus wie ein Kunstwerk, ist aber unter dem Mikroskop das Geflecht von Baumwurzeln und Pilzen.

Auch sehr eindrücklich, faszinierend.... halt etwas kleiner.
Ja, wirklich sehr eindrücklich und auch sehr schön. Die Grösse spielt in diesem
Zusammenhang keine Rolle :) Aber das Beinhaltetsein, das finde ich ein wichtiges Krtierium von solchen Naturerlebnissen, wie ich sie meine. Ich kann mich in ein Rizhom zwar eindenken, aber nicht beinhalten. Auch in keinem Atommodell.

Ich habe mit dem idealisierenden Beschrieb oben eigentlich auch nur unterstreichen wollen, dass ich eher ein Mensch von der Sorte bin, die sich als Fürsprecher einer ganzheitlicheren Naturperspektive verstehen. Es geht dabei gar nicht so sehr um Konkurrenz von Schönheit oder von natürlichen Heimatkonzepten als vielmehr um eine Gleichberechtigung. Aber auch um ein tiefes Gefühl der Verbundenheit, das man meiner Ansicht nach nur als Beinhalteter haben kann. Bei jedem Blick durch ein Elektronenmikroskop, so schöne und faszinierende Bilder dies uns verschafft, wir stehen immer ausserhalb, wir denken uns weg und betrachten uns als Geteilte durch. Wir sind Atome, wir sind Moleküle, wir sind Zellen, aber darum sind wir auch Zusammengesetze. Wir sind nicht nur analytisch beschreibbare Wesen, sondern in der Synthese auch erst mittendrin im Leben in seiner Ganzheitlichkeit. Gleichzeitig aber eben auch mehrschichtig. Ich habe mich auch schon ertappt, dass ich mit meinem nichtvorhandenen Röntgenblick :) die molekulare Struktur des Wassers im Fluss habe zu sehen versucht, an welchem ich gerade meine Seele baumeln liess. In Gedanken durchdringe ich den Stein in meiner Hand gelegentlich auch und bilde mir ein, dort die atomaren Gitter zu sehen. Keine Perspektive ist privilegiert. Aber wenn eine Perspektive durch physikalistische Modelle sozusagen bedroht ist, dann finde ich, verdient sie besonderen Schutz :)



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Jörn Budesheim
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Mi 27. Sep 2017, 06:00

Graham Harman, der dritte Tisch hat geschrieben : Sir Arthur Stanley Eddington war ein britischer Astrophysiker, der vor allem durch seine Beobachtung einer Sonnenfinsternis im Jahr 1919 bekannt wurde, die Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie bestätigte. Er wurde als Quäker erzogen und machte auch eine kurze Karriere als Regierungskritiker, als er gegen die Beteiligung Englands am Ersten Weltkrieg protestierte. Eddingtons größtes Geschenk an die Philosophie ist jedoch seine bekannte Parabel von den zwei Tischen. In der Einführung zu seinen Gifford-Vorträgen in Edinburgh 1927 beschreibt er die Situation wie folgt: »Ich will mit der Niederschrift dieser Vorträge beginnen und rücke meine Stühle an meine beiden Tische. Zwei Tische? Ja, denn jeder Gegenstand meiner Umgebung hat einen Doppelgänger – also zwei Tische, zwei Stühle, zwei Federn …« Wie der Leser vielleicht schon vermutet, handelt es sich bei den beiden besagten Tischen um den vertrauten Tisch des Alltags und denselben Tisch, wie er von der Physik beschrieben wird. Wir haben uns längst an C. P. Snows These der »zwei Kulturen« gewöhnt, die zwischen sogenannten literarischen Intellektuellen und Naturwissenschaftlern unterscheidet. Eddington sympathisiert offen mit seiner eigenen Gruppe – der zweiten. Doch er räumt ein, dass die erste nicht ausgelöscht werden kann:
Sir Arthur Stanley Eddington hat geschrieben : Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß die moderne Physik mit ihren empfindlichen Prüfmethoden und ihrer unbarmherzigen Logik mir versichert, daß mein zweiter, wissenschaftlicher Tisch der einzige ist, der wirklich da ist, wo immer dieses »da« auch sein mag. Aber ebenso selbstverständlich ist es, daß es der modernen Physik trotzdem niemals gelingen wird, den ersten Tisch zu verbannen – jenes merkwürdige Gemisch von Außenwelt, Einbildungskraft und ererbtem Vorurteil, das sichtbar und greifbar vor mir steht. Doch müssen wir ihm für den Augenblick Lebewohl sagen, denn wir wollen jetzt die gewohnte Welt des täglichen Lebens verlassen und uns der wissenschaftlichen Welt zuwenden, die von der Physik entdeckt wurde und die ganz und gar eine Außenwelt, oder jedenfalls als solche gedacht ist.
Wittgenstein hat geschrieben : Was den philosophische Betrachter an unserer Sprache am meisten befremdet, ist der Unterschied zwischen Sein und Schein.
Sir Arthur Stanley Eddington betrachtet zwar Tische und nicht die Natur, aber sein Urteil lässt sich auf diese leicht übertragen. Die Welt der mittelgroßen Dinge, wie Sie uns begegnen: also auch Bäume, Wiesen, Wälder und und Goethes Vöglein - ist für ihn ein merkwürdiges Gemisch von Außenwelt, Einbildungskraft und ererbten Vorurteil... Dieser Bereich gehört in irgendeiner Weise zum Schein, während die Welt der Wissenschaft die einzige ist, die wirklich da ist. (Wohin gehören wir denn dann?)

Der cardassianischer Schneider, der das Forum leider bereits wieder verlassen hat, scheint genau dieser Ansicht zu sein :) Mit dieser Sichtweise werden sehr viele tatsächliche Merkmale der Wirklichkeiten mir nichts dir nichts in einzelne Köpfe verbannt und zum Schein gerechnet oder bestenfalls evolutionär hergeleitet, als ererbtes Vorurteil.




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Herr K.
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Mi 27. Sep 2017, 08:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 27. Sep 2017, 06:00
Sir Arthur Stanley Eddington betrachtet zwar Tische und nicht die Natur, aber sein Urteil lässt sich auf diese leicht übertragen. Die Welt der mittelgroßen Dinge, wie Sie uns begegnen: also auch Bäume, Wiesen, Wälder und und Goethes Vöglein - ist für ihn ein merkwürdiges Gemisch von Außenwelt, Einbildungskraft und ererbten Vorurteil... Dieser Bereich gehört in irgendeiner Weise zum Schein, während die Welt der Wissenschaft die einzige ist, die wirklich da ist. (Wohin gehören wir denn dann?)
Das wäre ja aber eine sich selbstwiderlegende Ansicht, denn auch physikalische Messgeräte wie z.B. Mikroskope gehören zu den mittelgroßen Dingen - existierten diese nur zum Schein (also nicht), dann wären darauf aufbauende Behauptungen wenig plausibel. Nun ist aber wenig einleuchtend, wieso z.B. eine Rose verschwinden solle, bloß weil sie jemand durch ein Mikroskop betrachtet. Ebensowenig ist einleuchtend, wieso eine physikalische Beschreibung eines Tisches diesen verdoppeln sollte.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 27. Sep 2017, 06:00
Mit dieser Sichtweise werden sehr viele tatsächliche Merkmale der Wirklichkeiten mir nichts dir nichts in einzelne Köpfe verbannt und zum Schein gerechnet oder bestenfalls evolutionär hergeleitet, als ererbtes Vorurteil.
Zu sagen, dass etwas nur in unseren Köpfen existiert, bedeutet aber nun gar nicht, dass es nur zum Schein - also nicht - existiere. Zum Beispiel gibt es Geld und Verträge tatsächlich und nicht nur zum Schein. Obgleich deren Existenz grundlegend von unseren Einstellungen dazu abhängig ist.




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Stefanie
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Sa 30. Sep 2017, 22:53

Nur eine kleine Zwischeninfo: Nicht dass Hermeneuticus denkt, ich hätte seinen einen Beitrag vergessen (oder die anderen), nein wie könnte ich nur... aber ich hänge hier beim dem Thema gerade gewaltig fest...



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Jörn Budesheim
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Do 21. Mai 2020, 11:16

Weil heute Vatertag ist, vielleicht mal ein kleiner Text über Mutter Natur: Was ist Natur? Das eine oder andere habe ich bereits an anderer Stelle schon mal gepostet.

Ich habe natürlich keine letzte Antwort auf diese Frage. Nicht mal eine erste, ich will hier nur mal einen simplen Gedanken ausprobieren, der ganz und gar naiv beginnt.

Fall 1: Wenn wir irgendeinen Gegenstand betrachten, dann ist es diesem Gegenstand in vielen Fällen gleichsam "egal", was wir über ihn denken. Lava im Monde kümmert es nicht, was wir über sie denken. Sie ist einfach, wie sie ist - unabhängig davon, ob und wie wir sie betrachten.

Fall 2: Ganz und gar anders ist es bei uns selbst: Wie wir uns selbst betrachten und fragen, wie wir sind, dann ist das nicht streng getrennt. Ganz im Gegenteil: Unser eigenes Sein vollzieht sich immer auch im Lichte der Ansichten, die wir von uns selbst haben. Das ist ein wichtiger Aspekt dessen, was man Geist nennt, finde ich.

Diese Unterscheidung (Lava/Geist) ist relativ "streng". (Sie dürfte der Unterscheidung zwischen "an sich" und "für sich" in einem weiten Sinne entsprechen.) Ich frage mich, ob es zwischen den beiden Polen Zwischenglieder geben kann? Übergänge und Kontinuen, sodass sich der strenge Dualismus vielleicht letztlich als falsch oder unterkomplex erweist...

Ein weiterer Fall: Wie sieht es aus mit einer Blüte? In einer gewissen Hinsicht dürfte es der Blüte zwar "egal" sein, wie sie gesehen wird. Auf der anderen Seite können wir ihre Erscheinung meines Erachtens gar nicht verständlich machen, wenn wir nicht in Rechnung stellen, dass sie so, wie sie ist, gewissermaßen "für andere Lebewesen" ist. Man könnte vielleicht sagen, ihre Erscheinung ist auf Wahrgenommenwerden ausgelegt. Die Blüte ist natürlich nicht "für sich", in dem Sinne, dass sie sich um sich sorgt und ein Bild von sich hat, an dem sie sich orientiert. Aber sie ist nicht bloßes "an sich", wie auch immer man das im Einzelnen ausbuchstabieren müsste. Ihr Sein ist nur aus einem lebendigen Zusammenhang heraus zu verstehen.

(Der Naturwissenschaftler David Deutscher argumentiert sogar dafür, dass die Pflanze objektiv schön ist, weil sie über Artgrenzen hinweg gefallen muss.)

Ich würde vorschlagen, den Begriff Natur so zu fassen, dass der lebendige Zusammenhang zu seinem Zentrum wird, aber so, dass er von diesem Zentrum ausstrahlen kann - auch in die unbelebte Natur hinein. Das wäre ein Naturbegriff, der nicht so ohne weiteres von der Physik z.b. zu fassen wäre, weil Erlebnisse (das heißt: Bewusstsein) in irgendeiner Weise Bestandteil dieses Begriffes sind.

In diesem Konzept könnte der Umstand, dass die Blüte so und so aussieht, die Wiese im Frühling grün und schön ist, so und so riecht etc... niemals zu einem Epiphänomen werden, sondern das wäre der Kern des Naturbegriffes.

Dazu ein kurzes Textfragment, was mir gerade via instagram in die Finger gekommen ist:

"Weil alle Prozesse in dieser Wirklichkeit auf Beziehungen beruhen, die Bedeutungen vermitteln (die wir, menschliche und tierische und pflanzliche Subjekte in unseren Emotionen erfahren), lässt sich das Bild eines lebendigen Kosmos, inklusive seines natürlichen Werdens, inklusive seiner sozialen Transformationen, inklusive unsererer materiellen Versorgung, letztlich nur als eine Poetik formulieren." (Andreas Weber)

Wir brauchen also eine poetische Sichtweise, in der das Qualitative von vornherein seinen Platz hat. Denn die rein quantitative Methode des Messens und Zählens kann uns selbst und unseresgleichen bisher in das Bild nicht integrieren. Das wäre wirklich ein Paradigmenwechsel. Vor einigen Tagen habe ich etwas ähnliches gelesen: die beiden Naturwissenschaftler Tononi und Koch die in ihren Arbeiten dem Bewusstsein auf der Spur sind, "sagen, dass die Wirklichkeit fundamental qualitativ ist." (Zitiert nach Markus Gabriel im Gespräch mit Matthias Eckoldt)

Noch mal Andreas Weber, in: "Enlivenment, Eine Kultur des Lebens":

"Das zentrale Merkmal unserer von Krisen heimgesuchten Zivilisation besteht darin, dass wir die Wirklichkeit für etwas anderes halten, als sie ist. Wir halten sie für tot, nach mechanischer Rationalität behandelbar. Aber sie ist lebendig. Wir verleugnen die kreativen, poetischen und nach Ausdruck strebenden Prozesse, aus denen die Welt, die Biosphäre, und unsere eigene Identität hervorgehen. Wir nehmen das Gewebe der schöpferischen Beziehungen, die sich beständig entfalten und eine Vielzahl dynamischer, sich wechselseitig beeinflussender Verbindungen hervorbringen, nicht zur Kenntnis. Wir fühlen es nicht. Es hat weder in den offiziell favorisierten Weltbeschreibungen noch in der privaten Lebensführung einen nennenswerten Platz. Was uns fehlt, ist das: Wir haben vergessen, was es heißt, am Leben zu sein."

Eine zweite Aufklärung müsste dieses falsche Bild zurechtrücken! Dabei geht es nicht nur um eine andere Sichtweise, die gewissermaßen zur physikalischen als nette Dreingabe hinzukommt. Sondern es geht um einen grundlegenden Wandel. Wenn wir die Natur selbst als einen fundamental qualitativen, kreativen und lebendigen Zusammenhang verstehen, welche Rolle müsste dann wohl der Kunst in unserer Gesellschaft und unserem Bestreben, unseren Platz in der Wirklichkeit zu verstehen zukommen?

In einer aufgeklärten Welt, würde jeder verstehen, dass diese Frage natürlich rhetorisch gemeint ist :)




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Jörn Budesheim
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So 24. Mai 2020, 21:17





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So 24. Mai 2020, 23:41

Andreas Weber hat geschrieben : "Zu blühen heisst, geküsst zu sein. Das ist für mich äquivalent."
Ist das nicht wundervoll? Soll man den Animismus doch verlachen: Die Eiche überdauert's.



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