Wahrheit/Wahrnehmung

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
Timberlake
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Sa 16. Sep 2023, 13:04

Lisa Feldman Barrett, Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn hat geschrieben : Lange Zeit glaubte die Wissenschaft, das visuelle System im Gehirn funktioniere wie eine Kamera. Es nehme die Information von «draußen»

Die Wissenschaft ist sich mittlerweile ziemlich sicher, dass Ihr Gehirn die momentanen Veränderungen in Ihrer Umwelt schon wahrnimmt, bevor die Lichtwellen, Botenstoffe und anderen Sinnesdaten im Gehirn ankommen.

Vorhersagen sind auch der Grund, warum Sie Lichtwellen als Objekte wahrnehmen. Warum Sie aus Druckschwankungen in der Luft erkennbare Laute heraushören. Warum aus chemischen Stoffen Geruchs- und Geschmackserlebnisse werden. Sie sind der Grund, weshalb Sie die schwarzen Schnörkel auf dieser Seite als Buchstaben und Worte und Ideen identifizieren können.

Na da wären wir ja genau bei meiner "Gegenfrage" angelangt ...
Timberlake hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 17:49
Quk hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 17:42
Timberlake hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 17:09
Unsere Wahrnehmung von Feuchtigkeit kann nur eine Vorstellung von tatsächliche Feuchtigkeit sein .
Sicher, aber danach hatte ich nicht gefragt. Ich hatte nach Deinem Fazit gefragt, ob dies bedeute, dass diese Vorstellung
(a) niemals, (b) immer, oder (c) manchmal mit der Tatsache übereinstimmt.

Mir scheint, Du stimmst für (a), hast aber keine Beweise.

Ich vermute (c), weil ich keine Beweise für (a) oder (b) habe und diese auch nicht für plausibel halte.
Gegenfrage , wenn das Sonnenlicht auf unser Auge trifft , stimmt das , was unser Geist daraus macht (a) niemals, (b) immer, oder (c) manchmal .. wohlgemerkt!!! .. mit dieser Tatsache , also eben diesem besagtem Sonnenlicht überein? Welche "Beweise" gäbe es denn dafür?

Ich halte eine solche Übereinstimmung jedenfalls nicht für "plausibel".

Diese Gegenfrage sei .. aus naheliegenden Gründen .. weil dessen Antwort m.E. "unstrittig" , auch einmal an @Jörn bzw. @Stefanie gerichtet.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 15. Sep 2023, 17:34
Ich sehe einfach kein Argument bei dir. Vielleicht versteht es ja irgendjemand anders und kann es übersetzen?
Ich denke mal , spätestestens mit dieser Gegenfrage solltest du "ein Argument bei mir " gesehen haben und sich demzufolge eine Übersetzung erübrigen.
Wenngleich ich bezweifeln würde , dass sich die Wissenschaft mittlerweile ziemlich sicher, dass Ihr Gehirn die momentanen Veränderungen in Ihrer Umwelt schon wahrnimmt, bevor die Lichtwellen, Botenstoffe und anderen Sinnesdaten im Gehirn ankommen. Dergleichen würde jede Kausalität auf den Kopf stellen. Worin sich die Wissenschaft mittlerweile allerdings ziemlich sicher ist , dass ihr Gehirn momentan einen Gedanken schon längst produziert hat , bevor er ihr bewusst wird.
Zuletzt geändert von Timberlake am Sa 16. Sep 2023, 13:18, insgesamt 1-mal geändert.




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Quk
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Sa 16. Sep 2023, 13:31

Lange Zeit glaubte die Wissenschaft, das visuelle System im Gehirn funktioniere wie eine Kamera. Es nehme die Information von «draußen» auf und mache daraus im Gehirn eine Art Foto. Heute wissen wir es besser. Unser Bild der Welt ist keine Fotografie.

Ihr Gehirn muss sich … auf das Trommelfeuer von Sinneseindrücken einen Reim machen, ...
Das weiß ich alles schon.

Wir springen hier von einem Wurmfaß ins nächste.
Zuletzt geändert von Quk am Sa 16. Sep 2023, 13:33, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Sep 2023, 13:32

Und warum sprichst du dann von der Zeit-Wurst, die schließlich genau das Gegenteil behauptet? Warum zeigst du dich dann irritiert, wenn ich von Werten spreche, obwohl es doch die ganze Zeit darum geht?




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Quk
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Sa 16. Sep 2023, 13:39

Ich spreche nicht nur von X.

Ich spreche mehrere Sachen an: R S T U V W X Y Z.

Ich möchte wissen, wann Du von Y sprichst. Denn Du benutzt immer das mehrdeutige Wort Rstuvwxyz während Du (vielleicht?) nur von Y sprichst.

Und ich möchte wissen, warum Du (vielleicht?) ausschließlich von Y sprichst, wo doch Rstuvwxyz auch andere Aspekte zulässt.
Zuletzt geändert von Quk am Sa 16. Sep 2023, 13:40, insgesamt 1-mal geändert.




Timberlake
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Sa 16. Sep 2023, 13:39

Wenn das Gehirn Gedanken, bereits vorproduziert hat , wohlgemerkt , bevor sie einem bewusst werden, was sagt uns das zu dem , was wir im "philosophischen Sinne" ..so Markus Gabriel .. angeblich leicht erkennen können und zwar zur Wahrheit?

Thomas Metzinger , Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Mainz , spricht in diesem Zusammnenhang übrigens von einen würdelosen Zustand , der unsere Kritikfähigkeit, unsere politische Vernunft und die Fähigkeit zum ethischen Handeln stark einschränkt. Warum dann nicht auch unsere Fähigkeit zur Wahrheit?
Zuletzt geändert von Timberlake am Sa 16. Sep 2023, 14:07, insgesamt 2-mal geändert.




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Sa 16. Sep 2023, 13:55

Jörn, es passiert viel im Sender, und es passiert viel im Empfänger. Das wissen wir doch alle. Und Deine Abstraktionen haben alle ihren Sinn. Dagegen sage ich doch nichts. Wir haben hier kein inhaltliches Problem, sondern ein Kommunikationsproblem zwischen Dir und mir. Wenn ich sage, unsere visuelle Kommunikation funktioniert mittels Lichtstrahlen, die eine gewisse Zeit brauchen vom Sender zum Empfänger, dann kannst Du doch nicht behaupten, das sei ganz klar falsch. Diese Funktion ist eine von unendlich vielen Funktionen in der Welt. Sie widerspricht nicht Deiner Abstraktions-Idee. Und Deine Abstraktions-Idee widerspricht nicht der Lichtstrahlen-Funktion. Es sind zwei Sachen, die sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Du fokussierst immer nur das eine, während ich ergänzend denke. Und zu allen Ergänzungen sagst Du nein, das stimme nicht, denn auf der Pizza seien niemals Spargelpfeile; dabei habe ich das niemals behauptet. Ich sage nur, auf dem Tisch liegen Spargelpfeile, und im Ofen ist eine Pizza. Das sind zwei getrennte Angelegenheiten, die für sich genommen, sinnvoll sind, und keines davon ist "ganz klar falsch". Es sind nur Aspekte. Ich aspektiere den Ofen und sehe wie Du, eine Pizza. Ich aspektiere den Tisch und sehe Spargel, und da sagst Du nein, es gebe keinen Spargel. Das ist so absurd, dass dies nur ein Kommunikationsproblem sein kann. Kannst Du mir diesseitig folgen?

Ein ähnliches Kommunikationsproblem gab es neulich hier irgendwo mit dem Satz "Afrika gibt es nicht". Diese Aussage ist so absurd, dass dies nur ein Kommunikationsproblem sein kann. Afrika hat viele Bedeutungen: Die Form auf dem Globus, die verschiedenen Politiken in den jeweiligen Staaten, die klimatischen Relation, der Vielvölkerkontinent und dergleichen mehr. Ich denke, das Problem mit jenem Satz ist, dass das Wort "Afrika" unspezifiziert daherkommt. Gemeint ist wohl folgende Aussage: "Ein einheitliches Afrika gibt es nicht". Mit dem Adjektiv "einheitlich" wird dieser Satz erst sinnvoll. Erst dann wird er verständlich. Genauso verhält es sich, wenn wir nur "Fluss" sagen in einem metapherschwangeren Satz. So eine Kommunikation funktioniert nicht. Wenn "Fluss" so viel meinen kann, dann muss da noch mindestens ein Adjektiv hinzu! Ebenso im Wort Wahrnehmung. Jörn, in Deinem Gedankengang gehen so viele Schritte voraus; da kannst Du nicht annehmen, die Leserschaft würde diese kennen und hätte dasselbe Vorwissen wie Du. Nein. Ich denke, Du musst Deine Leserschaft an Deinen Denkschritten teilhaben, und zwar von Schritt Nummer 1 an. Mir scheint, Du startest manchmal mittendrin bei Schritt Nummer 789 und denkst unbewusst, wir seien alle auf der gleichen Startposition. -- Ich wünschte mir frühere Startpunkte bei der Mitteilung von Gedankengängen, und mehr Adjektive beim Raushauen mehrdeutiger Schlagwörter :-)




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Quk
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Sa 16. Sep 2023, 14:33

Timberlake hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 13:04
Wenngleich ich bezweifeln würde , dass sich die Wissenschaft mittlerweile ziemlich sicher, dass Ihr Gehirn die momentanen Veränderungen in Ihrer Umwelt schon wahrnimmt, bevor die Lichtwellen, Botenstoffe und anderen Sinnesdaten im Gehirn ankommen. Dergleichen würde jede Kausalität auf den Kopf stellen.
Das riecht auch wieder nach Kommunikationsproblem wegen Adjektiv-Mangel.

Lisa Feldman Barrett wollte sicherlich nicht sagen, dass die Vorhersagen schon vor dem ersten Anreiz erscheinen, sondern dass der Vorhersagen-Aufbau mit dem ersten Anreiz beginnt und meist schon fertig ist, bevor die eigentliche Sinnesdatenaufnahme vollendet ist.




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Quk
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Sa 16. Sep 2023, 14:56

Jörn, wenn ich von der Wahrnehmungswurst und ihrer beiden Enden rede, nämlich von Input und Output, dann denke ich jetzt -- in diesem Diskussionsabschnitt -- nicht an das Multitasking-Feuerwerk im Geist, das kreuz und quer Milliarden von Verbindungen gleichzeitig herstellt, sondern ich rede nur vom Input, das auf der Augenhornhaut beginnt. Ich rede nicht von dem Feuerwerk danach, und zwar deshalb nicht, weil Hirnforschung in diesem Faden bisher nicht das Thema war, sondern "Wahrheit". Ich meinte den Lichtstrahl zwischen Sender und Augenhornhaut. Letzteres ist der Startpunkt des Wahrnehmungsprozesses. Den Ausdruck "Startpunkt des Wahrnehmungsprozesses" hatte ich abgekürzt mit dem einfachen, adjektivlosen Wort "Wahrnehmung". In der gibts natürlich auch ein Feuerwerk und Vorhersagen und Emotionen kreuz und quer und so weiter. Irgendwann wird der Empfänger daraufhin eine Handlung einleiten. Trotz allem Multitasking und Feuerwerk wird eine Zeit vergehen, bis die Handlung beginnt. Auch das könnte man zusammenfassend mit einem Zeitpfeil illustrieren. Es kommt nur auf die Adjektive an. Adjektive, Adjektive, Adjektive! Was meine ich genau? Wovon spreche ich genau? Was meine ich zusammenfassend? Was meine ich im Detail? Was meine ich als Ergänzung? Was meine ich als Einspruch? Bevor X nicht ganz klar beschrieben ist, kann keiner sagen, X sei ganz klar falsch.




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Jörn Budesheim
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Sa 16. Sep 2023, 17:36

Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 14:33
Timberlake hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 13:04
Wenngleich ich bezweifeln würde , dass sich die Wissenschaft mittlerweile ziemlich sicher, dass Ihr Gehirn die momentanen Veränderungen in Ihrer Umwelt schon wahrnimmt, bevor die Lichtwellen, Botenstoffe und anderen Sinnesdaten im Gehirn ankommen. Dergleichen würde jede Kausalität auf den Kopf stellen.
Das riecht auch wieder nach Kommunikationsproblem wegen Adjektiv-Mangel.

Lisa Feldman Barrett wollte sicherlich nicht sagen, dass die Vorhersagen schon vor dem ersten Anreiz erscheinen, sondern dass der Vorhersagen-Aufbau mit dem ersten Anreiz beginnt und meist schon fertig ist, bevor die eigentliche Sinnesdatenaufnahme vollendet ist.
Lisa Feldman Barrett: "Die Wissenschaft ist sich mittlerweile ziemlich sicher, dass Ihr Gehirn die momentanen Veränderungen in Ihrer Umwelt schon wahrnimmt, bevor die Lichtwellen, Botenstoffe und anderen Sinnesdaten im Gehirn ankommen." Ähnliches, wenn auch nicht dasselbe findet sich bei Carlo Rovelli in dem Buch Helgoland. Er zieht daraus jedoch Schlussfolgerungen, die ich etwas gewagt finde.
Carlo Rovelli hat geschrieben : ... Normalerweise würde man denken, dass die Rezeptoren in unserer Netzhaut das auf sie auftreffende Licht in Signale umwandeln, die in unser Gehirn weitergeleitet und dort von Nervenzellen als Information auf immer komplexerer Ebene weiterverarbeitet werden, bis die Objekte interpretiert und identifiziert sind. Manche Nervenzellen erkennen Trennlinien zwischen Farben, andere machen die von diesen Linien gebildeten Formen aus und wieder andere gleichen diese Formen mit Daten aus unserem Gedächtnis ab etwas: eine Katze. und nochmals andere erkennen dann

Aber nein. So funktioniert unser Gehirn nicht. Es arbeitet umgekehrt. Der Großteil der Signale reist nicht von den Augen ins Gehirn, sondern vielmehr in entgegengesetzter Richtung vom Gehirn in die Augen.

Der Ablauf sieht so aus, dass das Gehirn aufgrund vorheriger Geschehnisse und seines Wissens erwartet, dass es etwas sieht. Es erstellt dazu ein Bild als Vorausschau, was die Augen sehen müssten. Diese Information wird vom Gehirn über Zwischenstufen an die Augen übermittelt. Wird eine Abweichung zwischen den Erwartungen des Gehirns und dem Lichtsignal ermittelt, das in den Augen eintrifft, dann – und nur dann - werden über die neuronalen Schaltkreise Signale ans Gehirn geschickt. Was die Reise von den Augen zum Gehirn antritt, ist also nicht das Bild der beobachteten Umgebung, sondern nur die Meldung eventueller Abweichungen von dem, was das Gehirn erwartet.

Die Entdeckung, dass der Sehsinn auf diese Art funktioniert, bedeutete eine Überraschung. Aber denkt man darüber nach, wird klar, dass es sich dabei um eine effiziente Methode handelt, um Informationen aus der Umgebung zu erfassen. Welchen Sinn hätte es, Signale ans Gehirn zu übermitteln, die nur Bekanntes bestätigten? Ähnliche Techniken nutzen Informatiker, um Bilddateien zu komprimieren. Anstatt die Farbe sämtlicher Pixel abzuspeichern, wird nur die Information abgespeichert, wo Farbe sich verändert: Weniger Information genügt, um das Bild zu rekonstruieren.

Die konzeptionellen Auswirkungen auf die Beziehung zwischen dem von uns Gesehenen und der Welt sind freilich beachtlich. Wenn wir uns umschauen, «beobachten» wir nicht wirklich: Wir träumen uns vielmehr anhand dessen, was wir (einschließlich irriger Vorurteile) bereits wissen, ein Bild von der Welt zusammen, überprüfen es unbewusst auf eventuelle Abweichungen vom tatsächlich Gesehenen und versuchen es nötigenfalls zu korrigieren.

Was wir sehen, ist in anderen Worten nicht eine Reproduktion der Außenwelt. Es ist das, was wir erwarten, korrigiert durch das, was wir wahrnehmen können. Die entscheidenden Inputs sind nicht die, welche uns das schon Bekannte bestätigen. Es sind die, die unseren Erwartungen widersprechen.




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Sa 16. Sep 2023, 18:08

Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 14:56
Letzteres ist der Startpunkt des Wahrnehmungsprozesses.
Ich glaube nicht, dass wir hier im Wesentlichen ein Kommunikationsproblem haben. Ich glaube vor allem, dass wir sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was unter Wahrnehmung zu verstehen ist. Ich glaube, das sieht man schon an den sehr unterschiedlichen Beispielen, die wir beide wählen, und auch an der Terminologie. Du sprichst von Input und Output, von Licht, von der Hornhaut und so weiter. Mein Beispiel war dagegen ein Mensch, der einen Stein in der Hand wiegt, um ihn über das Wasser springen zu lassen. Von solchen Lebenssituationen gehen meine Gedanken aus. Daraus schöpfen wir die Begriffe, und das ist in der Regel auch das, was sie bedeuten. Ich habe natürlich auch nichts dagegen, mich zu fragen, was die naturwissenschaftliche Forschung darüber aussagt, wie Wahrnehmung zustande kommt, deshalb habe ich auch entsprechende Zitate aus Büchern, die ich mir dazu gekauft habe, gebracht. Aber das Primat hat unser Leben.

Du möchtest, dass ich mehr in die einzelnen Teilaspekte zerlege, wenn ich dich richtig verstanden habe, aber das widerspricht meiner Vorstellung von dem, was Wahrnehmung ist. Dementsprechend ist das Beispiel mit dem Stein gewählt, normative Elemente sind immer mit im Spiel, das ist kein Extra, das man separat betrachten könnte.

Das heißt, sowohl von der Vorstellung, was Wahrnehmung ist, als auch von der Vorstellung, wie man an das Thema herangehen sollte, vertreten wir eben sehr unterschiedliche Positionen.

Das ist doch in Ordnung, oder?




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Sa 16. Sep 2023, 18:21

Eine Ergänzung zu den Ausführungen von Carlo Rovelli und Lisa Feldman Barrett. Ich glaube, wir müssen noch weit über das hinaus, was sie gesagt haben, die Einbildungskraft berücksichtigen. Das ist ein Punkt, der bisher, wenn ich mich nicht irre, noch nicht angesprochen wurde, der aber sicherlich von entscheidender Bedeutung ist. Ich glaube, das gilt wortwörtlich, wenn wir nur den "Input" einer aktuellen Situation zur Verfügung hätten, wären wir blind.




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Sa 16. Sep 2023, 18:25

Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 13:55
Ein ähnliches Kommunikationsproblem gab es neulich hier irgendwo mit dem Satz "Afrika gibt es nicht". Diese Aussage ist so absurd, dass dies nur ein Kommunikationsproblem sein kann.
Die Aussage hatte ja einen Kontext, nämlich Burkarts rassistische Äußerungen. Nach meinem Empfinden, macht das die Formel durchaus verständlich, zumal es sich dabei um eine relativ gängige Wendung handelt, es gibt Internet-Seiten und Bücher dazu, die ich später ja auch gepostet habe.




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Quk
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Sa 16. Sep 2023, 19:04

Der Ablauf sieht so aus, dass das Gehirn aufgrund vorheriger Geschehnisse und seines Wissens erwartet, dass es etwas sieht.
Ja, klar, aber das ist ja wieder etwas anderes. Das ist Vorausahnung. Das hört man besonders schön bei Synchronsprecherinnen; die führen einen Satz manchmal schon zu Ende, bevor das Original zu Ende gesprochen hat. Im Kampfsport passiert manchmal ähnliches.

Das kann man aber doch nicht auf jede Neuerfahrung anwenden. Das wäre ja Zauberei. Das wäre schön, dann gäbe es keine Unfälle mehr.

Irgendein "Schubs" muss ja erst mal kommen, damit das Hirn dem Schubs entsprechende Erwartungen aus seinem Speicher ziehen kann.

Das heißt, sowohl von der Vorstellung, was Wahrnehmung ist, als auch von der Vorstellung, wie man an das Thema herangehen sollte, vertreten wir eben sehr unterschiedliche Positionen.

Das ist doch in Ordnung, oder?
Sicher. Aber ich bin davon überzeugt, dass ich Dich verstehe, nur Du mich nicht :-)

Da ich ein sehr Problemlösungs-orientierter Mensch bin, und gerne Missverständnisse analysiere, juckt es mich manchmal zu versuchen, auch scheinbar hoffnungslose Diskussions-Staus aufzulösen. Nun denn, hier komme ich jetzt wirklich auch nicht mehr weiter.




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Sa 16. Sep 2023, 19:28

Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 19:04
Der Ablauf sieht so aus, dass das Gehirn aufgrund vorheriger Geschehnisse und seines Wissens erwartet, dass es etwas sieht.
Das wäre schön, dann gäbe es keine Unfälle mehr.
Da steht aber nicht, dass die Erwartungen nie getäuscht werden, oder?




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Sa 16. Sep 2023, 21:17

Getäuscht womit? Mit einer Neuerfahrung? Wo kommt die Neuerfahrung her?




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So 17. Sep 2023, 07:24

Damit verwandt ist sicherlich der von Husserl geprägte Begriff "Protention": "Die Protention ist eine ständige Erwartungshaltung, welche unmerklich die nächste Gegenwart vorstrukturiert." Dementsprechend bedeutet "Retention", in meinen eigenen Worten ausgedrückt, dass der unmittelbar vorausgegangene Moment miterlebt wird.




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So 17. Sep 2023, 07:37

Quk hat geschrieben :
Sa 16. Sep 2023, 21:17
Getäuscht womit? Mit einer Neuerfahrung? Wo kommt die Neuerfahrung her?
Hier noch mal Ausschnitte aus den Zitaten, die ich weiter oben gepostet habe.
Carlo Rovelli hat geschrieben : Es arbeitet umgekehrt. Der Großteil der Signale reist nicht von den Augen ins Gehirn, sondern vielmehr in entgegengesetzter Richtung vom Gehirn in die Augen.
Lisa Feldman Barrett hat geschrieben : Ihr Gehirn kombiniert Informationen von außerhalb und innerhalb Ihres Kopfes und schafft daraus alles, was Sie sehen, hören, riechen, schmecken und durch Berührung erfahren.




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So 17. Sep 2023, 07:53

Ich möchte noch einmal ein Beispiel geben, um zu verdeutlichen, was ich mit Wahrnehmung meine. Wenn ich morgens auf den Balkon trete, sehe ich keine grünen, weißen, schwarzen, braunen Flecken, sondern ich sehe die Birke, und nicht nur das, ich sehe die Birke, die ich gestern, vorgestern, vorvorgestern und all die Jahre davor gesehen habe. Ich sehe auch, dass der Sommer langsam zur Neige geht und sich der Herbst ankündigt.

Das ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt. Es kommen sicher auch noch Dinge hinzu, die ich mir nicht so leicht vollständig ins Bewusstsein rufen kann. Die Birke hat zum Beispiel im wahrsten Sinne des Wortes eine gewisse Ausstrahlung, die ich zumindest im Sommer ab und zu spüre, glaube ich, ohne dass ich sie im Einzelnen benennen könnte, vielleicht eine Art Kühle. Außerdem kann ich meine Aufmerksamkeit auf bestimmte Teile der Birke lenken. Und noch einmal: Das sind natürlich nur winzige Ausschnitte dessen, was unter "Wahrnehmung der Birke (vor mir im Garten links von der Straße ...)" subsumiert werden könnte. Nicht auszublenden ist natürlich auch mein eigener Körper als Ganzes, seine momentane Haltung, ob ich stehe oder auf dem Holzstuhl sitze, wie er sich gerade anfühlt, müde oder wach, kulturelle Einflüsse und so weiter und so fort ...




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So 17. Sep 2023, 08:04

Ein Aspekt, der dabei eine Rolle spielt, ist meines Erachtens folgender: Oft werden unsere sinnlichen Fähigkeiten und unsere begrifflichen Fähigkeiten einander gegenübergestellt, aber ich glaube nicht, dass das angemessen ist, denn auch die Wahrnehmung ist begrifflich strukturiert, wenn auch natürlich viel feinkörniger und weniger "explizit".




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So 17. Sep 2023, 10:02

Der Großteil der Signale reist nicht von den Augen ins Gehirn ...
Das Zitat ist ein schönes Beispiel für klare Sprache. Da steht nicht pauschal allein "die Signale", sondern "der Großteil der Signale". Dank dieser Spezifizierung durch das Wort "Großteil" gibt es noch einen anderen Teil, nämlich derjenige, der durch die Augenhornhaut in den Empfänger gelangt. Und von dem Teil spreche ich die ganze Zeit, Jörn. Wenn Du dem widersprichst, ist das so absurd, dass das nur ein Missverständnis sein kann. Jede Voraussicht, jede Ergänzung, jede Schätzung braucht eine Initialzündung. Sie ist der Kleinteil neben dem obigen Großteil. Ich wette, Du kannst mit geschlossenen Augen die Buchstaben in diesem Kommentar nicht sehen. Das liegt daran, dass der oben erwähnte Großteil keine Auslöserdaten hereinbekommt.

Deinen Kommentaren 67989 und 67990 widerspreche ich nicht.




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