Heraklit und einige seiner Zeitgenossen

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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AufDerSonne
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Fr 3. Nov 2023, 12:04

Nauplios hat geschrieben :
Di 31. Okt 2023, 11:47
Auf die Kurzformel "Dieses ist in Wirklichkeit jenes" hatte es der spätraunende Wittgenstein gebracht; aber daß alles fließt, bedeutet noch keineswegs, daß wir nichts erkennen können.
Dieses ist in Wirklichkeit jenes. Ist das so gemeint, dass man oft eine Sache auf eine andere Sache zurückführt (und damit eigentlich nichts gewinnt)?
Und ist es richtig, dass du die Spannung zwischen Veränderung und Beständigem ansprichst? Alles fliesst (alles verändert sich) gegen, alles ist immer gleich?

Möglicherweise gibt es beides. Einige Dinge ändern sich fortlaufend, während andere sehr lange gleich bleiben, beständig sind. Zum Beispiel ist bei einigen Naturgesetzen bisher noch keine einzige Ausnahme aufgetreten. Sie scheinen seit Ewigkeiten zu gelten. Die Wirklichkeit wird von verschiedenen Berufen unterschiedlich erfasst. Ein Physiker versucht es mit Formeln, ein Philosoph mit der Sprache. Aber gibt es sichere Erkenntnis? Man wünscht sich, dass es sichere Erkenntnis geben würde. Die Menschen sehnen sich nach Sachen, wo man sagen kann, so ist es! (Jedenfalls ich tue es). Ich lese gerade ein Buch von Bertrand Russell. Probleme der Philosophie, heisst es. Tatsächlich muss man vorsichtig sein, wenn man meint, man habe eine sichere Erkenntnis. Selbst die Existenz meines Tisches in meinem Zimmer kann angezweifelt werden. Und doch zeigt Russell sehr undogmatisch und kritisch, dass es wahrscheinlich materielle Gegenstände geben muss. Bei allem Zweifel an sicherer Erkenntnis können wir doch davon ausgehen, dass Materie existiert, bzw. materielle Gegenstände.
Auch könnte ich mir vorstellen, dass gewisse geistige Ideen, wie etwa die Gerechtigkeit, existieren. Aber bei der Materie scheint es bewiesen zu sein. Wir können davon ausgehen, dass Materie existiert. Und damit, dass es sichere Erkenntnis gibt.



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Nauplios
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AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 3. Nov 2023, 12:04
Nauplios hat geschrieben :
Di 31. Okt 2023, 11:47
Auf die Kurzformel "Dieses ist in Wirklichkeit jenes" hatte es der spätraunende Wittgenstein gebracht; aber daß alles fließt, bedeutet noch keineswegs, daß wir nichts erkennen können.
Dieses ist in Wirklichkeit jenes. Ist das so gemeint, dass man oft eine Sache auf eine andere Sache zurückführt (und damit eigentlich nichts gewinnt)?
Dabei hilft die Unterscheidung von "etwas als etwas" begreifen und "etwas durch etwas anderes" begreifen vielleicht weiter.

"Der Stern der Liebe schien,
Wenn alle Lüfte schliefen."
(Hölderlin)

Ein Stern läßt sich bestimmen als einen "massereichen, selbstleuchtenden Himmelskörper aus sehr heißem Gas und Plasma." (Wikipedia)

Dabei wird "etwas als etwas" begriffen. Bei der Liebe ist das Ganze schon komplizierter, aber auch sie könnte man als xy bestimmen oder beschreiben.

"Der Stern der Liebe" - hier wird die Liebe nicht per Definition begriffen, sondern dadurch, daß man die Bedeutung eines Sterns, der am nächtlichen Himmel scheint, auf die Liebe überträgt. Ein metaphorischer Umweg. Eine präzise Definition wäre nicht so umständlich.

Die Liebe ist ja kein Stern und Lüfte können auch nicht schlafen. Und dennoch "gewinnt" man damit einen semantischen Gehalt. Die Verse sind ja kein blanker Unsinn. Sie haben Bedeutung. Es handelt sich um Dichtung. Ist das "nichts"? ;)




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Nauplios
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Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich."

(Nietzsche)

Das ist aus Deiner Signatur. Weder war Nietzsche eine Flamme, noch bist Du eine.

Du hast Dich dennoch für diesen Aphorismus entschieden, weil er für Dich eine Bedeutung hat und für uns auch. Das können durchaus unterschiedliche Bedeutungen sein. Die Metapher ist nicht präzise, aber sie ist prägnant. Weil sie keiner präzisen Definition genügt, erregt sie das Mißtrauen der Philosoph*innen. Und außerdem ist sie von Haus aus ein Gegenstand der Rhetorik und der Poetik.




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Nauplios
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AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 3. Nov 2023, 12:04

Aber gibt es sichere Erkenntnis? Man wünscht sich, dass es sichere Erkenntnis geben würde. Die Menschen sehnen sich nach Sachen, wo man sagen kann, so ist es! (Jedenfalls ich tue es).
Ich bin heute 70 Jahre alt geworden. Das zumindest ist eine Sache, wo man sagen kann, so ist es! Als sichere Erkenntnis reicht mir das für den Rest. ;)




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Stefanie
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Herzlichen Glückwunsch!



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AufDerSonne
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Nauplios hat geschrieben :
Fr 3. Nov 2023, 21:19
AufDerSonne hat geschrieben :
Fr 3. Nov 2023, 12:04

Aber gibt es sichere Erkenntnis? Man wünscht sich, dass es sichere Erkenntnis geben würde. Die Menschen sehnen sich nach Sachen, wo man sagen kann, so ist es! (Jedenfalls ich tue es).
Ich bin heute 70 Jahre alt geworden. Das zumindest ist eine Sache, wo man sagen kann, so ist es! Als sichere Erkenntnis reicht mir das für den Rest. ;)
Dann gratuliere ich zum Geburtstag! Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag.



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Jörn Budesheim
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Herzlichen Glückwunsch!




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Eiwa
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Den Glückwünschen schliesse ich mich gerne an :) Alles Gute!




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Herzlichen Glückwunsch nachträglich! Ich hab's erst jetzt gelesen. Also auch genullt ...
Nur das Beste!




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Quk
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Wünsche Dir viel Lebensfreude, Nauplios. -- Prosit!




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Nauplios
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Vielen Dank, Ihr Lieben, für Eure Glückwünsche!

"Je mehr die Vergangenheit kein Versprechen mehr für die Zukunft enthält, um so wichtiger wird die Gegenwart." (Niklas Luhmann) ;)




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Nauplios
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Alles fließt. Der philosophische Gegenspieler Heraklits in der Vorsokratik ist Parmenides. Parmenides ist ein früher Seinsphilosoph.

"Bewegungslos, in den Grenzen großer Fesseln, existiert [das Sein] ohne Anfang, ohne Ende. Dasselbe, am selben (Ort) bleibend, ruht es in sich."

Einer der letzten großen Seinsphilosophen war Heidegger, der die Seinsvergessenheit der Philosophie beklagte. Ebenso könnte man auch nach einer Werdensvergessenheit fragen im Rahmen einer Werdensphilosophie, die nicht auf Ur-grund abstellt, sondern auf Un-grund. Die Ontologie des Seins würde damit aufgegeben zugunsten einer Ontologie des Werdens - Differenz statt Identität.

Einer der modernen Werdensphilosophen ist Gilles Deleuze.




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Jörn Budesheim
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Und es gibt sicher viele Philosophen, die sich weder auf das eine noch auf das andere festlegen. Vieles ändert sich, vieles bleibt.




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AufDerSonne
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Ich denke, dass es Veränderung gibt, ist kein Problem. Da stimmen alle zu. Die schwierigere Frage ist, was beständig ist. Wenn man an die Zeit denkt, scheint zunächst nichts beständig zu sein. Von einer Sekunde zur nächsten ändert sich immer alles. Ganz sicher werden materielle Gegenstände von Sekunde zu Sekunde älter. Nebst anderen Änderungen. Aber das Problem ist doch uralt. Platon dachte sich unveränderbare Ideen, die man nur intellektuell erfassen kann. Ich glaube, das sind so Sachen wie Gerechtigkeit, Vernunft, Wahrheit usw. Jedenfalls sind es nicht-materielle Dinge.
Ich weiss nicht recht, was ich denken soll. Ich finde die Vorstellung von ewigen Wahrheiten (Platon) irgendwie schön. Aber irgendwie auch unrealistisch. Auch Dinge wie die Gerechtigkeit und die Vernunft verändern sich im Verlaufe der Zeit. Also unsere Vorstellungen davon ändern sich. Das wäre übrigens auch ein Argument gegen Gott. Soviel ich weiss, muss der auch ewig sein, damit man ihn brauchen kann. Bei den Naturgesetzen ist es anders. Es scheint Naturgesetze zu geben, die tatsächlich eine halbe Ewigkeit lang gelten.



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Jörn Budesheim
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Von einer Sekunde auf die andere ändert sich immer alles? Tatsächlich? Ändern sich von einer Sekunde auf die andere immer alle Naturgesetze?




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So 5. Nov 2023, 20:31

Ändern sich die Gesetze der Logik, die Gesetze der Mathematik ständig von einer Sekunde auf die andere?




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Ändert sich die Vergangenheit andauernd von einer Sekunde auf die andere oder ändert sich die Vergangenheit vielmehr überhaupt nicht?

Ändern sich alle Wahrheiten von einer Sekunde auf die andere?




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AufDerSonne
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 5. Nov 2023, 20:31
Ändern sich die Gesetze der Logik, die Gesetze der Mathematik ständig von einer Sekunde auf die andere?
Auf das Leben bezogen, ja. Der Satz des Pythagoras gilt zwar seit ein paar tausend Jahren unverändert. Aber es spielt für mich keine Rolle. Es spielt für niemanden eine Rolle, denn wir müssen leben und handeln.
Oder gibt es Menschen, die sagen, ich tue das jetzt nicht, weil der Satz des Pythagoras seit ein paar tausend Jahren gilt? Das ist doch kein Argument.



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Jörn Budesheim
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Ich habe aber nicht gefragt, ob du glaubst, dass der Satz des Pythagoras im so genannten Alltag eine Rolle spielt, sondern ich habe "gefragt". ob sich Mathematik und Logik jede Sekunde ändern? Eigentlich habe ich das natürlich nicht ernst gefragt, denn es ist offensichtlich nur eine rhetorische Frage gewesen, da die Antwort jedem bekannt ist.




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So 5. Nov 2023, 21:05

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 5. Nov 2023, 21:02
Ich habe aber nicht gefragt, ob du glaubst, dass der Satz des Pythagoras im so genannten Alltag eine Rolle spielt, sondern ich habe "gefragt". ob sich Mathematik und Logik jede Sekunde ändern?
Ja, tun sie, denn wir müssen leben. Das ist meine Antwort.



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