Gedankendinge

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Consul
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Do 25. Jul 2024, 23:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 25. Jul 2024, 07:12
Consul hat geschrieben :
Mi 24. Jul 2024, 22:27
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 24. Jul 2024, 13:06
"Gedankending" Was ist das? Ein Gedanke?
Nein, ein nur gedachtes Ding, d.h. ein inexistenter, irrealer Gegenstand eines Gedankens oder einer Vorstellung.
Okay, von wem gedacht? Also: wessen Gedanke ist das, "allgemeine oder abstrakte Gedanken" sind ja vermutlich nicht gemeint.

Ich hatte oben ein Beispiel gegeben: Ich bin der Ansicht, dass noch Bier im Kühlschrank ist. Diese Überzeugung ist wahr, wenn noch Bier im Kühlschrank ist. (Wir wollen annehmen, dass es so ist.) Nun glaube ich in dem Beispiel zwar, dass es sich so verhält (Bier im Kühlschrank), verschwende aber gerade keine Gedanken daran, außerdem hab ich auch noch nicht nachgeschaut, ob tatsächlich Bier im Kühlschrank ist. Wahr ist die Ansicht dennoch, denn das Bier ist im Kühlschrank.

Wie verhält es sich mit dem "Gedankending" in diesem Beispiel? Worauf in diesem alltäglichen Beispiel bezieht sich der Ausdruck?

PS: Mit Beginn meines Studiums, Anfang der 80er hab ich angefangen, philosophische Texte zu lesen, später hab ich Vorlesungen gehört und Seminare und Vorträge besucht, war in philosophischen Gesprächskreisen, in philosophischen Foren, wie diesem hier, sehe und höre Podcasts und YouTube-Videos zur Philosophie, aber der Ausdruck "Gedankending" ist mir nie begegnet.
"Gedankending = bloß Gedachtes, Vorgestelltes"

DUDEN: https://www.duden.de/rechtschreibung/Gedankending
"Gedankending = bloß Gedachtes, Vorgestelltes"

DWDS: https://www.dwds.de/wb/Gedankending?o=gedankending
"gedankending = nur gedachtes ding, ding in gedanken ( Campe): als ob er ... nur als gedankending existirte. Kant 5, 100 u. o., er braucht es gleich noumenon; s. auch gedankenwesen."

Grimm'sches Wörterbuch: https://www.dwds.de/wb/dwb/gedankending
"Gedankending. Kant bezeichnet vielfach die Ideen und ebenso das Ding an sich als Gedankendinge oder Gedankenwesen."

(Eisler, Rudolf. Kant-Lexikon. 1930. Nachdruck, Hildesheim: Olms, 1961. S. 175)
"Sofern etwas nur gedacht wird, heißt es Gedankending (ens rationis, ens cogitabile). Sofern etwas als außerhalb des Bewusstseins existierend oder so gedacht wird, wie es in Wirklichkeit ist, heißt es Außen- oder Einzelding (ens reale)."

(Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Begr. v. Friedrich Kirchner & Carl Michaëlis. Hrsg. v. Arnim Regenbogen & Uwe Meyer. Hamburg: Meiner, 2013. S. 152)
"Gedankending, ens rationis, ratiocinantis. Ein leerer Begriff; oder Begriff ohne Gegenstand; ein bloß durch den Begriff gedachter Gegenstand; der Gegenstand eines Begriffs, dem gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert."

(Mellin, G. S. A. Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie. II. Band. II. Abtheil. Jena/Leipzig, 1799. S. 750)
"Gedankending, (ens rationis), ein bloßer Begriff, dem kein Objekt außer dem Verstande entspricht, der sich bloß auf eine besondere Denkart bezieht, und auf einer Abstraktion beruht; z.B. Raum. Das Gedankending ist zwar ein Unding, weil es keinen Gegenstand hat, von dem es der Begriff wäre; aber es gibt noch ein Unding im engeren Sinne des Wortes, ein absolutes Unding, von dem sich das Gedankending sehr merklich unterscheidet. Dies ist der Gegenstand eines Begriffes, der sich selbst widerspricht."

(Wenzel, Gottfried Immanuel. Neues vollständiges philosophisches Real-Lexicon. Zweyter Band: F–H. Linz, 1808. S. 192)
"Gedankending ist alles, was gedacht wird. Ob ein solches auch wirklich sei, ist eine Frage, die sich aus der bloßen Widerspruchslosigkeit des Gedankens nicht bejahen lässt. Denn daraus folgt immer nur die Denkbarkeit oder die logische Möglichkeit des Dinges. Die Wirklichkeit desselben muss also auf andere Weise dargetan werden, sei es durch Wahrnehmung oder durch Deduktion aus theoretischen und praktischen Prinzipien. Wird etwas ein bloßes Gedankending (ens merae cogitationis) genannt, so heißt dies entweder, dass es überhaupt nicht wahrgenommen werden könne, etwas Übersinnliches sei, oder dass es gar nur erdacht, d.h. erdichtet worden, etwas Eingebildetes sei."

(Krug, Wilhelm Traugott. Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Zweiter Band: F–M. Leipzig: Brockhaus, 1827. S. 117-8)
[Krug ist der Nachfolger Kants als Lehrstuhlinhaber an der Königsberger Universität.]

Tja, es scheint leider nicht klar zu sein, was genau ein Gedankending ist. Es fängt mit dem Wort "Ding" an, das als deutsche Übersetzung der folgenden lateinischen Wörter gebraucht werden kann:
"Ding = ens, res, substantia, aliquid…"

Grimm'sches Wörterbuch: https://www.dwds.de/wb/dwb/ding#GD02497
I. Ein Ding als ens ist ein Seiendes, eine Entität.
II. Ein Ding als aliquid ist (irgend)etwas (Seiendes oder Nichtseiendes).
III. Ein Ding als res ist eine Sache im weitesten Sinn.
IV. Ein Ding als substantia ist eine Substanz, ein konkretes Einzelwesen (z.B. ein Körper, eine Seele, ein Mensch, ein Pferd, ein Stein).

Daran schließen sich die folgenden Fragen an:

1. Ist ein Gedankending einfach irgendein Denkgegenstand, irgendetwas Gedachtes (aliquid cogitatum), d.i. irgendein intentionaler Gegenstand (obiectum intentionale), gleichgültig, ob es sich dabei um etwas Seiendes, eine Entität (ens) oder etwas Nichtseiendes, eine Nonentität (non-ens) handelt?

2. Ist ein Gedankending als Denkgegenstand grundsätzlich ein inexistenter, irrealer Denkgegenstand und damit eine Nonentität (non-ens)?

Das trifft zumindest zu, wenn von einem reinen/bloßen Gedankending die Rede ist, das nur etwas Erdichtetes oder Eingebildetes ohne Sein und Wirklichkeit ist.

3. Wenn ein Gedankending eine Entität (ens) ist, ist es dann eine extramentale oder "reale" Entität (ens extra mentem, ens reale) oder eine intramentale oder "rationale" ("ideale") Entität (ens intra mentem, ens rationis), ein "Ding in Gedanken"?

3.1 Ein Gedankending als Kant'sches Noumenon ist ein denkbare Entität (ens cogitabile), aber keine wahrnehmbare Entität (ens perceptibile). Ein Noumenon ist "ein bloß durch den Begriff gedachter Gegenstand; der Gegenstand eines Begriffs, dem gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert." (Mellin) Noumena sind aber weder Nonentitäten noch intramentale Entitäten.
(Deshalb ist mir nicht klar, ob man Noumena als entia cogitabilia auch treffend als entia rationis bezeichnen kann, die ja angeblich intramental existieren. Ich bin aber kein Kant-Experte.)

3.2 Bei der Verwendung von "Gedankending" ist oft der wichtige Unterschied zwischen einem Begriff, einer Vorstellung, einem Gedanken und dem begriffenen, vorgestellten, gedachten Gegenstand verwischt worden. Das wird im Folgenden deutlich:
"Ens (or res) can be distinguished further as either ens extra mentem, a being or thing outside of the mind, or ens rationis, a being or thing belonging exclusively to the mind prior to or apart from its external entity, literally, a “being of reason.” Ens rationis is called ens only improprie, since it has no independent esse, whereas ens extra mentem or ens realis is in the proper sense, proprie, ens. Thus the idea of a horse is an ens rationis, but the horse itself is an ens realis and can be called ens or res extra mentem, whereas a unicorn is only ens rationis."

(Muller, Richard A. Dictionary of Latin and Greek Theological Terms. 2nd ed. Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2017. p. 107)
Die Idee oder der Begriff eines Pferdes ist also eine "intramentale", "ideale"Entität, während Pferde "extramentale", "reale" Entitäten sind.

Die Idee oder der Begriff eines Einhorns ist auch eine "intramentale", "ideale" Entität, während Einhörner keine "extramentalen", "realen" Entitäten sind.

Viele haben nun den Fehler begangen, sowohl die Begriffe von Dingen, die keine extramentalen, "realen" Entitäten sind, als auch die betreffenden Dinge selbst als intramentale, "rationale" Entitäten zu betrachten. Damit werden Einhörner neben dem Einhornbegriff zu innergeistigen "Dingen in Gedanken".
Das ist jedoch widersinnig, denn niemand hat ein Einhorn in seinem Geist/Kopf!
Einhörner, die nicht außergeistig in der raumzeitlichen Wirklichkeit vorkommen, kommen auch nicht innergeistig in der Vorstellung vor; denn die Vorstellung von Einhörnern enthält keine Einhörner, sondern nur Einhorn-Vorstellungen, die selbst keine Einhörner sind.

Wie gesagt, bei der Rede von Gedankendingen als entia rationis ("Vernunftwesen") wird oft der wichtige Unterschied zwischen Denken und Gedachtem, Vorstellung und Vorgestelltem, Begriff und Gegenstand durcheinandergebracht oder verwischt.

Ich verwende das Wort "Gedankending" in der Bedeutung von bloßer, reiner, d.i. nichtseiender Denkgegenstand/Gegenstand des Denkens (intentionaler Gegenstand). In diesem Sinn ist ein Gedankending ein "Unding", d.i. eine Nonentität—also gar kein ens, weder ein ens reale noch ein ens rationis.
Ein Gedankending als daseinsloses Unding ist etwas bloß Ausgedachtes, Eingebildetes, Erdichtetes.

Meine oder deine Gedanken über Undinge sind jedoch wohlgemerkt selbst keine Undinge. Ein Gedankending in meinem Sinn ist weder ein (geistiger) Gedanke noch ein (geistiger) Begriff. Als Undinge existieren Gedankendinge nicht, was aber keineswegs bedeutet, dass Gedanken über "Gedankenundinge" ebenfalls nichtexistent sind.



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Fr 26. Jul 2024, 00:39

"ens rationis (Latin, a being of reason) In medieval thought, another term for an intentional object or object of thought, as opposed to self-subsistent or independent objects."

(Blackburn, Simon. Oxford Dictionary of Philosophy. 3rd ed. Oxford: Oxford University Press, 2016. p. 27)
Es bleibt allerdings die ontologische Frage, ob entia rationis als Denkgegenständen oder intentionalen Gegenständen auch dann eine Art von Sein—ein "intentionales Sein" (esse intentionale) oder ein "ideales Sein"—zukommt, wenn ihnen das reale Sein (esse reale) fehlt.
(Wenn diese Unterscheidung von Seinsarten/-weisen getroffen wird, dann wird unter Realität üblicherweise konkrete extramentale Existenz in Raum und Zeit verstanden.)

Diejenigen, die diese Frage bejahen, gehen davon aus, dass Gedachtsein ohne Sein des Gedachten grundsätzlich unmöglich ist, sodass absolut seinslose Dinge gar keine Gedankendinge oder Denkgegenstände sein können. Das ist jedoch ein großer Irrtum!



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Fr 26. Jul 2024, 00:50

Consul hat geschrieben :
Fr 26. Jul 2024, 00:39
Es bleibt allerdings die ontologische Frage, ob entia rationis als Denkgegenständen oder intentionalen Gegenständen auch dann eine Art von Sein—ein "intentionales Sein" (esse intentionale) oder ein "ideales Sein"—zukommt, wenn ihnen das reale Sein (esse reale) fehlt.
Was das angebliche "ideale Sein" betrifft, so kann dies in zweierlei Weise aufgefasst werden:

1. als (intra)mentales, konkret-psychologisches Sein im Sinn des subjektiven Idealismus
2. als extramentales, abstrakt-logisches Sein (platonistisches Sein) im Sinn des objektiven Idealismus



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Fr 26. Jul 2024, 04:35

"Das Gedankending wurde auf sehr verschiedene Weise erklärt. Einige nahmen es für etwas Subjektives in der Seele entweder schlechthin in logischem Sinne, oder so, dass die Vorstellungen und Begriffe für Gegenstände selbst genommen wurden.

Andere betrachteten dagegen das Gedankending als etwas Objektives, welches durch die Objekte in dem Verstande bestimmt werde, was in dem Verstande ist, entweder als Akzidenzen, Begriffe, Fertigkeiten, oder als etwas, das der Verstand objektiv wahrnimmt und erkennt (quod prospicit intellectus)."

(Tennemann, Wilhelm Gottlieb. Geschichte der Philosophie. Achter Band. Zweite Hälfte. Leipzig, 1811. S. 794-5)
"Gedankending, 1) (Psych.), die Vorstellung von einem Gegenstande, der nicht außer uns, sondern nur in unserem Bewusstsein, oder in unserer Einbildungskraft existiert; – 2) (Log.), s. v. a. [so viel als] abstrakter Begriff."

(Meyer, Joseph, Hg. Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Zwölfter Band. Hildburghausen, 1848. S. 123)
"Das Gedankending

1. Es gibt Gedankendinge. Dasjenige, womit die Logik sich beschäftigt, sind nicht die außerhalb unseres Intellekts in der Welt vorhandenen Dinge selbst, sondern das, was in unserem Intellekt gedacht wird. Die Dinge, welche außerhalb unseres denkenden Intellekts da sind, haben unabhängig von unserem Denken ein Sein: davon ist aber dasjenige eigentümliche Sein, was nur von unserem denkenden Intellekt abhängt und nur im Intellekt gedacht wird, wohl zu unterscheiden. Das Seiende ist daher zweifach: dasjenige, welches in der Außenwelt oder äußeren Natur vorhanden ist, das Naturding, ens naturae, ens rei, und dasjenige, welches im denkenden Intellekt ist, das Gedankending, ens rationis, ens in anima. Dass solche Gedankendinge vorhanden sind, kann niemand leugnen. Unser Intellekt kann nämlich nichts geistig vorstellen und im Erkennen erfassen, was er nicht als ein Seiendes, ein Etwas, ein Ding erfasst oder wenigstens so auffasst, als ob es Etwas, ein Seiendes wäre. Würde er das nicht tun, so könnte er gar keine bestimmte geistige Vorstellung, keinen bestimmten Gedanken haben; denn jeder Begriff ist nur Stellvertreter für irgend etwas. Wenn wir daher den Gegensatz zum Sein erfassen, den wir als das Nichts ausdrücken, so müssen wir es in der Sprache und im Denken doch als etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen und es deshalb nur im Denken als ein Sein auffassen. Es muss also etwas geben, was wir Gedankending nennen; d.h. etwas, was zwar nicht in der wirklichen Außenwelt, aber doch in unserem Denken ein Sein hat.

2. Natur des Gedankendinges. Das Gedankending ist dasjenige Seiende, was nur objektiv, d. h. nur als Denkobject, welches dem Intellekt zum Erkennen vorgelegt ist, ein Sein hat, ohne dass ihm ein Sein in der wirklichen Außenwelt entspricht. Im erkannten Gegenstand muss man nämlich zweierlei betrachten: das Ding, welches erkannt wird, und ferner dasjenige, was der Intellekt diesem Dinge beilegt, insofern es von ihm erkannt worden ist. Dasjenige, was erkannt wird, das ist so, wie es in sich selbst und in der Außenwelt vorkommt, ein wirkliches Ding (res) oder etwas Reales. Aber dasjenige, was dem Dinge so, wie es erkannt worden ist, von unserem Intellekt erst durch sein Denken beigelegt wird, das ist im eigentlichen Sinne das Gedankending selbst, nämlich das Seiende, was der Intellekt im Denken macht, und was nur im Gedachtwordensein besteht. Wenn wir z.B. das Tier überhaupt erkennen als eine Natur, welche in vielen Arten (Säugetieren, Fischen, Vögeln u.s.w.) vorkommt; so ist das, was wir erkennen, die Natur des Tieres: und das ist etwas Reales; aber das, was wir der Tiernatur in ihrem Gedachtwerden, d.h. in unserem Denken beilegen, ist ein Gedankending: wir erkennen nämlich , dass die Tiernatur in vielen Tierarten vorkommt und nennen das ihr Gattungsverhältnis zu jenen Arten. In ähnlicher Weise wird etwas ein Gedankending genannt, was der Intellekt im Denken dadurch erdichtet, dass er ganz verschiedene Dinge (z.B. Körper und Freiheit) oder unvereinbare Teile von Dingen (z.B. Löwenkopf und Schlangenleib, oder Gewissheit und Zweifel) miteinander vereinigt. Das eigentümliche Sein des Gedankendinges kommt daher nur im denkenden Intellekt vor und besteht nur im Gedachtwerden. Die vollständige, ursächliche Erklärung dieses Seins ist Sache der Metaphysik, welche das Sein überhaupt zu ergründen hat. Die Psychologie zeigt, wie wir das Gedankending erkennen. Die Logik endlich betrachtet nur eine besondere Art von Gedankendingen, nämlich die logischen Gedankengebilde, so, wie sie in ihrer Weise, d.h. im Gedachtwordensein, fertig gebildet sind.

3. Einteilung der Gedankendinge. 1) Das Gedankending im weitesten Sinne ist zweifach: die Negation und die Relation; weil alles, wovon man absolut behaupten kann, dass es vorhanden sei, schon etwas sein muss, was in der realen Welt der Dinge da ist. Das eigentümliche Sein des Gedankendinges besteht nämlich nur im Gedachtsein durch den Intellekt, dem es als Gegenstand seiner Erkenntnis vorgehalten ist, so dass es im Gegensatz zum realen Sein der Naturdinge nicht fähig ist, in der wirklichen Welt außerhalb des denkenden Intellekts ein Dasein zu haben. Das Gedankending in diesem Sinne muss aber entweder positiv oder negativ sein: es muss nämlich entweder etwas, was nichts Reales ist, so vorstellen, als ob es etwas Reales wäre, oder so, als ob es etwas Reales wäre, was aber wieder hinweggedacht wird. In der Vorstellung von etwas Realem, was da ist, kann aber, wenn sie ein bloßes Gedankending vergegenwärtigen soll, nichts enthalten sein, was absolut so, als ob es in Wirklichkeit da wäre, aufgefasst würde, denn das wäre schon ein Naturding; sondern nur etwas, was bloß so erfasst wird, als ob es ein Naturding sei, obwohl es dieses nicht ist und das kann nur die Beziehung eines Dinges zu einem andern sein, weil nur eine solche Beziehung vom Intellekt allein gedacht werden kann. In der Vorstellung von etwas nicht Realem, was sachlich nicht vorhanden ist, aber dabei als etwas Reales vorgestellt wird, so nämlich, dass eben die Abwesenheit von einer bestimmten Form in einem Subjekt als ein Etwas aufgefasst wird, besteht die Negation, insofern sie begrifflich gedacht ist: und so ist sie nur ein Gedankending. Eine solche Negation kann entweder eine reine Negation sein, d.h. die reine Abwesenheit von etwas, oder eine Privation (Beraubung), d.h. die Abwesenheit oder das Fehlen von etwas, was in einem Subjekte wegen der natürlichen Beschaffenheit desselben eigentlich da sein müsste und nicht fehlen sollte. Diese erste Einteilung ist eine direkte und adäquate, weil sie aus der Natur des Gedankendinges entspringt.

2) Sieht man aber auf das dem Intellekt vorgestellte Ding, woraus er sich das Gedankending macht, so wird das letztere in ein solches, was eine sachliche Grundlage hat, und in ein solches, welches keine sachliche Grundlage hat, eingeteilt. Das erstere ist ein Seiendes, was nur objektiv im Intellekt ein Sein hat, dem aber in der wirklichen Außenwelt noch etwas Reales entspricht: z.B. Gattung und Art. Das Zweite ist ein Seiendes, was nur objektiv im Intellekt ein Sein hat, ohne dass ihm etwas in der Außenwelt entspricht: z.B. eine Chimäre, ein gläserner Berg, ein ausgedehnter Geist."

(Commer, Ernst. Logik. Paderborn: Schöningh, 1897. S. 45-9)



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Jörn Budesheim
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Fr 26. Jul 2024, 07:11

Die Beweislast ist drückend. Also eine Bildungslücke von mir. Ich hab auch in meinem Wörterbuch nachgeschlagen, dort gibt es auch einen Eintrag:
Wörterbuch der Philosophischen Begriffe hat geschrieben : Gedankending, Übers. im 18. Jh. für lat. ens rationis, das bloß Gedachte, Vorgestellte, nicht in Raum und Zeit wirkliche.
Ein Begriff aus dem 18. Jh, das erklärt vielleicht, warum er mir nicht präsent ist.




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Jörn Budesheim
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Fr 26. Jul 2024, 07:14

@consul: Was möchtest du in diesem Faden diskutieren? Ob es den Ausdruck gibt? Das scheint jetzt ausreichend belegt. Oder willst du diskutieren, ob er sinnvoll ist? Oder soll die Frage, inwiefern Wahrheit ein Gedankending ist, diskutiert werden?




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Quk
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Fr 26. Jul 2024, 08:47

Consul hat geschrieben :
Do 25. Jul 2024, 23:43
Grimm'sches Wörterbuch:
II. Ein Ding als aliquid ist (irgend)etwas (Seiendes oder Nichtseiendes).
Ich bin kein Lateiner, aber "liquide" kenne ich und die Vorsilbe "a-" ebenfalls. Warum wird "aliquid" nicht mit "unflüssig" übersetzt? Gase und Flüssigkeiten wären demnach keine Dinge, was wiederum die Vermutung nahelegte, dass Dinge Sachen seien, die greifbar sind. Gase und Flüssigkeiten flutschen durch die Finger. So bildhaft entstand vielleicht auch das Wort "Begriff": Der Begriff festigt das gedanklich Flutschende. Klingt lustig, ist aber ernst gemeint.




Wolfgang Endemann
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Fr 26. Jul 2024, 13:34

Quk hat geschrieben :
Fr 26. Jul 2024, 08:47
Gase und Flüssigkeiten wären demnach keine Dinge
Doch, aber was Du sagst, ist gar nicht so verkehrt. Wenn wir von Objekt reden, meinen wir 1., daß es im Kern in der Raumzeit mit sich identisch bleibt, wir es extensional gegen anderes abgrenzen können, 2., daß es sich mechanisch aufspalten und wieder zusammensetzen, umwandeln und rückwandeln läßt (daher ist auch ein Gas ein Objekt). Und auch ein Gedankenobjekt sollte diese Stabilität, basale Erhaltung besitzen. In dem Sinne sollte Ding und Nichtding feststehen, und es sollten Dingmannigfaltigkeiten ge- und bedacht werden können.
Aber es gibt keine absolute Ruheposition, schon physikalisch nicht, da wäre das der absolute Nullpunkt und die absolute Determination. Umso mehr haben wir es im Denken mit, wie Du sagst, fluiden Dingen zu tun, die dem Objektbegriff zuwiderlaufen, da kann man nur noch metaphorisch oder sprachtechnisch von Objekt reden. Der Begriff muß jedoch in diesem metaphorischen Sinn die Intention/Intension begreifen, festhalten.




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Consul
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Fr 26. Jul 2024, 19:41

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 26. Jul 2024, 07:14
@consul: Was möchtest du in diesem Faden diskutieren? Ob es den Ausdruck gibt? Das scheint jetzt ausreichend belegt. Oder willst du diskutieren, ob er sinnvoll ist? Oder soll die Frage, inwiefern Wahrheit ein Gedankending ist, diskutiert werden?
Es geht darum, was Gedankendinge (entia rationis) sind bzw. was Philosophen darunter verstehen.



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Fr 26. Jul 2024, 19:50

Quk hat geschrieben :
Fr 26. Jul 2024, 08:47
Consul hat geschrieben :
Do 25. Jul 2024, 23:43
Grimm'sches Wörterbuch:
II. Ein Ding als aliquid ist (irgend)etwas (Seiendes oder Nichtseiendes).
Ich bin kein Lateiner, aber "liquide" kenne ich und die Vorsilbe "a-" ebenfalls. Warum wird "aliquid" nicht mit "unflüssig" übersetzt? Gase und Flüssigkeiten wären demnach keine Dinge, was wiederum die Vermutung nahelegte, dass Dinge Sachen seien, die greifbar sind. Gase und Flüssigkeiten flutschen durch die Finger. So bildhaft entstand vielleicht auch das Wort "Begriff": Der Begriff festigt das gedanklich Flutschende. Klingt lustig, ist aber ernst gemeint.
Das (sächliche) Indefinitpronomen "aliquid" (männl. Form "aliquis", weibl. Form "aliqua") hat nichts mit dem Adjektiv "liquidus" ("flüssig", "fließend") zu tun: ali-quid, nicht a-liquid!



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Quk
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Fr 26. Jul 2024, 19:54

Ali, ach so. Danke. Was heißt dann "unflüssig" auf Latein?




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Fr 26. Jul 2024, 20:16

Quk hat geschrieben :
Fr 26. Jul 2024, 19:54
Ali, ach so. Danke. Was heißt dann "unflüssig" auf Latein?
Ich denke "non liquidus". "Fest", "hart" = "solidus".



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Fr 26. Jul 2024, 21:00

Quk hat geschrieben :
Fr 26. Jul 2024, 08:47
Gase und Flüssigkeiten wären demnach keine Dinge, was wiederum die Vermutung nahelegte, dass Dinge Sachen seien, die greifbar sind.
Wie sich (materielle) Dinge und Stoffe (Stoffmassen/-mengen) ontologisch zueinander verhalten, ist eine interessante Frage. Wenn ein mit Wasser gefülltes Glas vor uns steht, dann neigen wir "alltagsontologisch" dazu, die Wassermenge nicht wie das Glas als ein Ding zu bezeichnen. Das liegt wohl daran, dass wir feste, (relativ) formstabile Körper als die paradigmatischen (materiellen) Dinge betrachten. Ein Stein ist ein Musterbeispiel für solche Dinge. Eine forminstabile, formindifferente Flüssigkeits- oder Gasmasse erscheint dagegen "undinglich".

In der Ontologie gibt es eine Diskussion zwischen den "Dinge zuerst!"-Ontologen und den "Stoffe-zuerst!"-Ontologen:

The Metaphysics of Mass Expressions: https://plato.stanford.edu/entries/meta ... ssexpress/

The Logic of Mass Expressions: https://plato.stanford.edu/entries/logic-massexpress/

Die einen argumentieren, dass Elementarteilchen Dinge sind, und dass alle festen, flüssigen oder gasigen Stoffmassen aus solchen elementaren Dingen bestehen, und somit einfach Summen von Dingen sind. Und eine Summe von Dingen ist selbst ein Ding. Ein H2O-Molekül ist als Summe von Dingen selbst ein Ding, sodass eine Wassermenge als Summe von H2O-Molekülen ebenfalls ein Ding ist. Stoffe werden somit auf Dinge reduziert. Die Stoffbezeichnung "Wasser" steht dann für ein riesiges Ding (mit räumlich getrennten Teilen): die Gesamtsumme aller H2O-Moleküle, die Wassermassen bilden.

Es ist jedenfalls so, dass der philosophische Begriff eines materiellen Dinges als eines Körpers nicht auf feste Dinge beschränkt ist. Kant definiert "Körper" im physikalischen Sinn als "eine Materie zwischen bestimmten Grenzen", wobei es keine Rolle spielt, ob die Materie fest, flüssig oder gasig ist. Das flüssige Wasser in einem festen Glas ist demnach genauso ein Körper wie das Glas. Die Luft in einem Zimmer ist genauso ein Körper wie die Wände, die sie einschließen.



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Fr 26. Jul 2024, 22:10

Ja, und umso merklicher ein Körper sich verändert, desto stärker fühle ich mich verführt, dieses ein "Wesen" zu nennen. So ist der Regenschauer nicht nur ein Körper, sondern ein wasserlassendes Wesen mit kurzer Lebensdauer. Ein Donnerblitz mit seinen vielen Elektronen ist ebenfalls ein Wesen; dieses lebt noch kürzer. Blitze sind essentiell für die Entwicklung von Leben in unserer Atmosphäre. Im Prinzip sind sie außerdem die Vorläufer von Nervenbahnen; sie sind quasi Protogehirne.




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Jörn Budesheim
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Sa 27. Jul 2024, 06:52

Langenscheidt hat geschrieben : ēns (PHIL), das Seiende

Beispiele
das wirklich Existierende
ens reale (mlat.)

https://de.langenscheidt.com/latein-deutsch/ens
Ich habe auch andere Übersetzungen gefunden, die ebenfalls das Wort Ding erwähnt haben, aber (nach meinem Gefühl mehrheitlich*) wurde "ens" mit seiend oder ähnlich übersetzt. Es mag wohl sein, dass man Regen, Blitz und Donner nicht als Dinge betrachten möchte, aber als seiend allemal.

Aber "Ding" ist natürlich ein vielfältiger Begriff; "Wir müssen mal über ein paar Dinge reden" meint sicherlich etwas anderes als "Ding" im Sinne von "etwas, das auf der Straße liegt."

„Das wirklich Existierende“ kann je nach Gesprächssituation mehr oder weniger sinnvoll sein. Wenn ich wissen will, ob jemand seiner Fantasie freien Lauf gegeben hat oder ob eine Geschichte „wirklich“ geschehen ist, dann mag so eine Redeweise sinnvoll sein. Aber letztlich ist natürlich alles, was existiert, ein wirklich Existierendes; das, was auf der Straße liegt, ist nicht per se wirklicher als das, was in unseren Gedanken vorkommt.

* ich habe dazu allerdings keine Statistik angelegt, ich bin einfach mal so durchgebrowsed.




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Consul hat geschrieben :
Do 25. Jul 2024, 23:43
Einhörner, die nicht außergeistig in der raumzeitlichen Wirklichkeit vorkommen, kommen auch nicht innergeistig in der Vorstellung vor; denn die Vorstellung von Einhörnern enthält keine Einhörner, sondern nur Einhorn-Vorstellungen, die selbst keine Einhörner sind.
Damit kommen wir zu der Diskussion, die wir an anderer Stelle schon hatten und es wird sicherlich kein Weiterkommen geben.

Hier dennoch kurz meine Position: In der biologischen Welt, wenn man sich so ausdrücken darf, kommen Einhörner nicht vor neben Zebras, Pferden, Eseln oder ähnlichem. Aber in Geschichten, die es natürlich nur gibt, wenn es Lebewesen gibt, die sie sich vorstellen, kommen sie durchaus vor. Einhörner können also in Vorstellungen vorkommen.

Im Märchen kommen Einhörner vor, sie können eine handlungstragende Rolle spielen. In Blade Runner kommt - flapsig gesagt - kein Einhorn vor, sondern ein Einhorn in einem Traum, das Einhorn kommt also in dem Film nicht in Los Angeles, sondern nur in Rick Deckard Traum vor. Aber da kommt es vor.

Wenn man den Bereich angibt: Film, Geschichte, Erzählung, Schauspiel und so weiter und so fort, dann hat man bereits angegeben, dass Vorstellungen eine entscheidende Rolle spielen. Und in diesen Vorstellungen können eben Einhörner vorkommen. Ebenso natürlich in Träumen; wenn wir davon erzählen, sagen wir, dass wir von einem Einhorn geträumt haben und wir sagen nicht (außer es hat sich so zugetragen) dass wir von einem geträumten Einhorn geträumt haben. Es gibt weder einen sprachlichen noch einen ontologischen Sinn, dass der Bereich verdoppelt angegeben werden muss, im Gegenteil es verfälscht die Tatsachen.

Genau den Unterschied, den man stark machen will, darf man halt nicht unterschlagen, auch wenn man von Geschichten, Filmen und ähnlichen erzählt, die es nur gibt, wenn jemand sie sich vorstellt: es gibt einen Unterschied zwischen "vorgestellten Einhörnern" (um die verfehlte Sprechweise hier mal als Zitat zu verwenden) und Einhörnern; beide können (vereinfacht gesagt) nur in Vorstellungen vorkommen, sind aber verschieden, und zwar durch die Bereiche, in denen sie erscheinen. In den meisten Bereichen kommen Einhörner nicht vor, z. B. in der biologischen Wirklichkeit oder in der Reihe der natürlichen Zahlen, aber in manchen Bereichen schon, nämlich in Geschichten und ähnlichem.

Deine Position krankt meines Erachtens an mindestens zwei Dingen: Sie setzt voraus, was strittig ist, dass es Einhörner nämlich nur dann gibt, wenn sie neben Pferden, Zebras und Eseln existieren. Und zweitens zwingt sie uns, alle Märchen, Filme etc. falsch zu erzählen. Gemäß dieser verfehlten Ontologie kommen z. B. in Hänsel und Gretel nur vorgestellte Hänsel und Gretel vor, aber das ist falsch, die Geschichte lautet eben anders und nicht so: "Am Rande eines großen vorgestellten Waldes wohnte ein vorgestellter armer Holzhacker mit seiner vorgestellten Frau und seinen zwei vorgestellten Kindern, Hänsel und Gretel. Sie waren so arm, dass sie oft kein vorgestelltes Essen hatten..."




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Quk
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Sa 27. Jul 2024, 11:31

Ein Gedanke an alle Anwesenden: Im ersten Gedanken-Schritt unterscheide auch ich zwischen "realem" Einhorn und "vorgestelltem" Einhorn; auf der "Realitäts"-Ebene wurde das Einhorn noch nie beobachtet, auf der "Vorstellungs"-Ebene schon. Nun, im zweiten Gedanken-Schritt stehe ich vor einem Problem: Ich kann nie sicher sein, welche der beiden Ebenen die Realität und welche die Vorstellung ist. Daraus ziehe ich die Konsequenz: Beide Ebenen sind wirklich. Sie haben nur unterschiedliche Intensitäten. Die Eigenschaften in der sogenannten "Realität" sind meistens ein bisschen intensiver als jene in der sogenannten "Vorstellung". Meistens. Manchmal ist es auch umgekehrt. Meistens wirken die Eigenschaften eines Realdings intensiver als die eines Gedankendings. In Schlafträumen, beispielsweise, gibt es Gedankendinge. Etwa eine grüne Wiese. In der "Realität" ist sie noch grüner. Die unterschiedliche Intensität ist ein Indiz dafür, dass es zweierlei Ebenen gibt. Meistens ist die intensivere wohl die "Realität". Gewiss ist das aber nie.




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Consul
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Sa 27. Jul 2024, 21:47

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 27. Jul 2024, 06:52
Ich habe auch andere Übersetzungen gefunden, die ebenfalls das Wort Ding erwähnt haben, aber (nach meinem Gefühl mehrheitlich*) wurde "ens" mit seiend oder ähnlich übersetzt. Es mag wohl sein, dass man Regen, Blitz und Donner nicht als Dinge betrachten möchte, aber als seiend allemal.

Aber "Ding" ist natürlich ein vielfältiger Begriff; "Wir müssen mal über ein paar Dinge reden" meint sicherlich etwas anderes als "Ding" im Sinne von "etwas, das auf der Straße liegt."
Im Grimmschen Wörterbuch finden sich noch mehr lateinische Wörter für "Ding" als die bereits erwähnten:

"Ding = ens, res, substantia, aliquid, causa, judicium, forum, conventus, status, opes, persona"

Quelle: https://www.dwds.de/wb/dwb/ding#GD02497

Seltsamerweise fehlt "corpus" = "Körper"/"Leib".

"aliquid" = "(irgend)etwas" ist die weiteste Bedeutung: "ein Ding" = "ein (seiendes oder nichtseiendes) Etwas".
In diesem absolut allgemeinen Sinn stehen alle ontologischen Kategorien für Dinge: Ereignisse, Vorgänge, Zustände, Eigenschaften, Beziehungen.

Wenn jedoch in der ontologischen Kategorienlehre zwischen Dingen und Ereignissen, Dingen und Eigenschaften/Beziehungen unterschieden wird, dann wird "Ding" in einem erheblich engeren Sinn gebraucht, in dem es der Kategorie "Substanz" am Nächsten steht. Dieser Sinn kann allerdings ontologisch zu eng sein; denn wenn von abstrakten Objekten die Rede ist, dann gelten diese nicht als Substanzen, weil Letztere als konkrete Objekte gelten. Und 0D-, 1D- oder 2D-Objekte als Grenzen 3-dimensionaler materieller Substanzen kann man auch nicht als Substanzen bezeichnen.

Die Wörter "Substanz" und insbesondere "Objekt" sind leider selbst mehrdeutig, sodass weitere Klärung zur Bestimmung eines engen ontologischen Sinnes von "Ding" vonnöten wäre.

Wenn Objekte einfach irgendwelche Gegenstände des Denkens/Vorstellens sind, dann kann jede Art von Entität ein Objekt sein, z.B. ein Ereignis.

Jonathan Lowe definiert Objekte dagegen im engen nichtpsychologischen, ontologischen Sinn als "individuelle Eigenschaftsträger nullter Ordnung" ("individual property-bearers of order zero" [*), wobei mit "nullter Ordnung" gemeint ist, dass Objekte Eigenschafts oder Beziehungsträger sind, die nicht selbst als Eigenschaften oder Beziehungen von etwas anderem getragen (besessen) werden.
Wenn es Eigenschaften oder Beziehungen höherer Ordnung gibt, d.i. Eigenschaften von Eigenschaften oder Beziehungen zwischen Beziehungen, dann sind diese zwar auch Eigenschafts- oder Beziehungsträger, aber nicht nullter (oder erster) Ordnung, sodass sie keine Objekte in Lowe's Sinn sind.

[* Lowe, E. J. The Four-Category Ontology: A Metaphysical Foundation for Natural Science. Oxford: Oxford University Press, 2006. p. 85]

* Objekt: https://www.textlog.de/4757.html

* Object:
https://plato.stanford.edu/entries/object/

https://plato.stanford.edu/archives/fal ... es/object/

(Das sind zwei unterschiedliche Texte zum selben Thema von verschiedenen Autoren!)

* Substanz: https://www.textlog.de/5131.html

* Substance: https://plato.stanford.edu/entries/substance/



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Sa 27. Jul 2024, 22:44

Consul hat geschrieben :
Sa 27. Jul 2024, 21:47
Wenn jedoch in der ontologischen Kategorienlehre zwischen Dingen und Ereignissen, Dingen und Eigenschaften/Beziehungen unterschieden wird, dann wird "Ding" in einem erheblich engeren Sinn gebraucht, in dem es der Kategorie "Substanz" am Nächsten steht. Dieser Sinn kann allerdings ontologisch zu eng sein; denn wenn von abstrakten Objekten die Rede ist, dann gelten diese nicht als Substanzen, weil Letztere als konkrete Objekte gelten. Und 0D-, 1D- oder 2D-Objekte als Grenzen 3-dimensionaler materieller Substanzen kann man auch nicht als Substanzen bezeichnen.
Eine Pyramide ist eine materielle Substanz; und die Spitze einer mathematisch perfekten Pyramide (die es realiter nicht gibt) wäre ein nulldimensionales Objekt (Grenzpunkt), aber keine nulldimensionale Substanz. Dagegen werden immaterielle Seelen in der Philosophie als nulldimensionale Substanzen bezeichnet—wohl deshalb, weil sie im Gegensatz zu 0D-Grenzen ontologisch unabhängige Dinge sind. Eine 0-/1-/2-dimensionale Grenze kann nicht unabhängig von demjenigen 3-dimensionalen Objekt existieren, dessen Grenze sie ist. Eine 0-dimensionale Seele ist dagegen ein selbstständiges Ding.

Übrigens, die klassische deutsche Übersetzung von substantia ist Wesen, das allerdings auch als Synonym von Essenz (essentia) gebraucht wird. Diese Doppeldeutigkeit findet sich auch im Griechischen bei den Wörter hypokeimenon (ὑποκείμενον), hypostatis (ὑπόστασις), ousia (οὐσία), welche die Römer mit substantia ins Lateinische übersetzt haben, was im Deutschen wortwörtlich Unterstand bedeutet. Dieses deutsche Wort ist sogar von einigen mittelalterlichen Mystikern als Übersetzung von substantia, subsistentia, hypostasis verwendet worden.

In diesem philosophischen Kontext (und im sprachlichen Zusammenhang mit den oben erwähnten griechischen Wörtern) finden sich auch die Wörter Substrat (substratum–wörtl. Unterlage) und Subjekt (subiectum—wörtl. Unterwurf). Ein Objekt (obiectum) im wörtlichen etymologischen Sinn ist ein Gegenwurf.



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Sa 27. Jul 2024, 22:57

Consul hat geschrieben :
Sa 27. Jul 2024, 21:47
Wenn Objekte einfach irgendwelche Gegenstände des Denkens/Vorstellens sind, dann kann jede Art von Entität ein Objekt sein, z.B. ein Ereignis.
In diesem Sinn ist ein Gedankending ein x-beliebiger Gedankengegenstand (Vorstellungsgegenstand); und meiner Meinung nach folgt aus dem bloßen Gedachtsein (Vorgestelltsein) von etwas (aliquid) keinerlei Art von Sein—kein "intentionales Sein", kein "ideales Sein", kein "reales Sein", und auch kein "fiktionales Sein".
Ein Gedankending/-gegenstand kann eine Entität sein, aber auch eine Nonentität, sodass es falsch ist, es/ihn grundsätzlich mit einem ens rationis, einer "Entität der Vernunft" gleichzusetzen.



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