Gedankendinge

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25498
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Do 1. Aug 2024, 11:47

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Do 1. Aug 2024, 10:29
Die Fiktion entwickelt ein Eigenleben.
Ja, so ist es. Das gilt sicher für viele Formen der Kunst. Die Kunst entwickelt ein Eigenleben, das ist ihre Autonomie. Etwas, was ein Eigenleben hat, existiert auch. Kunstwerke existieren zwar nicht ohne geeignete "Rezipienten", aber sie existieren.

(Vieles davon ist noch dem alten Dogma verhaftet, dass nur das wirklich wirklich ist, was zur sogenannten bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit gehört.)




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25498
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Sa 3. Aug 2024, 16:32

Thomas Jahn, Die Eigenarten der Farben hat geschrieben : In der Welt vor dem 17. Jahrhundert war die Welt ein Ort, bei dem die von uns wahrgenommenen Qualitäten der Gegenstände auch als Eigenschaften dieser Gegenstände gesehen wurden. War eine Kiste 5kg schwer, dann war es die Kiste, die über diese Masse verfügte. Und war die Kiste rot, dann war es die Kiste selbst, die diese Eigenschaft besaß. Alle übrigen Eigenschaften wie Schmerzen oder Verliebtheitsgefühle waren dagegen Eigenschaften, die sich als intrinsische Eigenschaften von Bewusstseinszuständen erwiesen und ihre Existenz einem empfindungsfähigem Subjekt verdankten. Durch einen genia­len Schachzug gelang es Erkenntnistheoretikern und Naturwissenschaftlern im 17. Jahrhundert allerdings, die Welt der Naturwissenschaften von der Gruppe sinnlicher Merkmale wie Farbe und Geruch zu bereinigen.Dazu bedienten sie sich eines mentalen Innenreichs, das den christlich geprägten Weltbildern des Nachmittelalters nachempfunden war und durch ein „Denken in optischen Metaphern nahegelegt wurde". Die sinnlichen Merkmale wurden aus der physischen Welt ausgelagert, indem man sie zu „Dingen im Geiste“ erklärte.
Das ist zwar keine absolute Entsprechung zu den Gedankendingen, liegt aber ziemlich offensichtlich auf derselben Linie, finde ich.




Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 506
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Mo 5. Aug 2024, 01:12

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 1. Aug 2024, 10:58
Consul hat geschrieben :
Do 1. Aug 2024, 00:58
Ich glaube nicht an die Unabhängigkeit des Soseins von etwas von dessen Dasein.
Ich glaube auch nicht, dass die Eigenschaften eines Dinges unabhängig von dessen Existenz sind. Daher gilt: Was Eigenschaften hat, existiert. Wie sollte etwas nicht existieren, was Eigenschaften hat? Die 3 hat die Eigenschaft, größer als 2 zu sein, also existiert sie. Gretel hält der Hexe einen Knochen hin, also existiert sie. Biden ist Präsident der Vereinigten Staaten, also existiert er. Jedoch existieren sie alle in verschiedenen Kontexten: Die 3 existiert (z.B.) in der Reihe der natürlichen Zahlen, Gretel im Märchen und Präsident Biden als Teil der repräsentativen Demokratie Amerikas. Dies zeigt, dass das "Sosein" eines Objekts, also seine Eigenschaften, eng mit seinem "Dasein", seiner Existenz, verbunden ist. Was Eigenschaft hat, muss auch existieren und, was existiert, hat auch Eigenschaften.
1. "3 > 2" – Für Formalisten, die die reine Mathematik als ein formales (syntaktisches) Zeichenspiel betrachten, stehen die Zeichenformen "3" und "2" nicht für irgendwelche abstrakten Gegenständen, sondern für gar nichts. Sie sind im fregeschen Sinne des Wortes bedeutungslos, und ihr Sinn erschöpft sich in ihrem regelgeleiteten Gebrauch im syntaktischen Spiel der reinen Mathematik.
"3 > 2" bedeutet dann "Die Formel '3 > 2' ist regelkonform"; und damit wird keinem abstrakten Ding irgendeine Eigenschaft zugesprochen, sofern man diesen Satz nicht als "Der abstrakte Formeltyp '3 > 2' ist regelkonform" liest, sondern als "Alle konkreten Formelexemplare, die dem konkreten Formelexemplar '3 > 2' entsprechen, sind regelkonform" liest.

2. "Gretel hält der Hexe einen Knochen hin." – Dieser Satz ist für mich einfach falsch, und für Frege ist er weder wahr noch falsch, eben weil er ein fiktives Ereignis zwischen fiktiven Personen beschreibt. Hier gibt es weder Dasein noch Sosein!
Wahr ist dagegen ein Satz wie "Dem Märchen nach hält Gretel der Hexe einen Knochen hin".

"Kontextuelle Existenz" ist nichts weiter als Nonexistenz, wenn der Kontext selbst nicht existiert (wie fiktive Welten).

Rudolf Carnap unterscheidet relativistisch zwischen internen Existenzfragen innerhalb eines bestimmten Kontextes (wie der Mathematik) und externen, kontextunabhängigen Existenzfragen, die er für sinnlos hält. Ich halte Letztere ganz und gar nicht für sinnlos, da wir über einen widerspruchsfreien absoluten Existenzbegriff verfügen, der es uns erlaubt, interne Existenzbejahungen extern zu verneinen. Im Rahmen der Mathematik mag es Zahlen geben, aber gibt es sie wirklich (im absoluten ontologischen Sinn)?
Wenn es Zahlen nicht wirklich gibt, dann sind die mathematikinternen/-relativen Existenzbehauptungen aus der letztlich entscheidenden externen, absoluten ontologischen Perspektive schlichtweg falsch.
Aus dieser Perspektive geht es immer um die Frage, ob eine angebliche Entität X wirklich/tatsächlich Teil des Seins als der absoluten Totalität aller Entitäten ist.
(Diese absolute Totalität besteht, gleichgültig ob sie selbst eine unitäre Entität oder eine nichtunitäre Pluralität von Entitäten ist.)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25498
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 5. Aug 2024, 09:48

Consul hat geschrieben :
Mo 5. Aug 2024, 01:12
der Kontext selbst nicht existiert
Der Kontext existiert aber, denn schließlich gibt es das Märchen!




Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 506
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Mo 5. Aug 2024, 22:36

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 5. Aug 2024, 09:48
Consul hat geschrieben :
Mo 5. Aug 2024, 01:12
der Kontext selbst nicht existiert
Der Kontext existiert aber, denn schließlich gibt es das Märchen!
Es besteht ein relevanter Unterschied zwischen einem Märchen als einem existenten sprachlichen Text und einem Märchen als einem nonexistenten Sujet eines existenten fiktionalen Textes. ("Sujet = Gegenstand, Motiv, Thema einer künstlerischen Darstellung" – DWDS)
Im Fall eines fiktiven Sujets gibt es nur einen existierenden Kontext, nämlich den fiktionalen Text selbst.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25498
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 6. Aug 2024, 15:28

Consul hat geschrieben :
Mo 5. Aug 2024, 22:36
Unterschied
Die Ontologie, die ich plausibel finde, ist eine Ontologie der Unterschiede! Natürlich sind Märchen etwas ganz anderes als Nachbarschaftsgeschichten, wenn auch nicht immer :-) verschiedene Bereiche unterscheiden sich zum Teil erheblich. Zahlen sind etwas anderes als Qualen. Parlamentswahlen sind etwas anderes als Quantenfluktuationen. Diese Ontologie ist nicht darauf fixiert, dass das alles am Ende nur MERZ ist. Existenz ist in dieser Ontologie eigentlich ein formaler statt ein materialer Begriff, etwas existiert, wenn es in einem Kontext vorkommt und nicht nur dann, wenn es MERZ ist. Die Unterschiede und die Vielfalt der Kontexte bleiben dabei erhalten. Sie werde eben gerade NICHT kassiert, sondern stark gemacht! Es gibt große Unterschiede zwischen Märchen, schwarzen Löchern oder meinem Kühlschrank. Es gibt nicht nur das MERZ-Maß. Es lebe der Unterschied!




Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 506
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Di 6. Aug 2024, 22:57

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 6. Aug 2024, 15:28
Die Ontologie, die ich plausibel finde, ist eine Ontologie der Unterschiede! Natürlich sind Märchen etwas ganz anderes als Nachbarschaftsgeschichten, wenn auch nicht immer :-) verschiedene Bereiche unterscheiden sich zum Teil erheblich. Zahlen sind etwas anderes als Qualen. Parlamentswahlen sind etwas anderes als Quantenfluktuationen. Diese Ontologie ist nicht darauf fixiert, dass das alles am Ende nur MERZ ist. Existenz ist in dieser Ontologie eigentlich ein formaler statt ein materialer Begriff, etwas existiert, wenn es in einem Kontext vorkommt und nicht nur dann, wenn es MERZ ist. Die Unterschiede und die Vielfalt der Kontexte bleiben dabei erhalten. Sie werde eben gerade NICHT kassiert, sondern stark gemacht! Es gibt große Unterschiede zwischen Märchen, schwarzen Löchern oder meinem Kühlschrank. Es gibt nicht nur das MERZ-Maß. Es lebe der Unterschied!
Es versteht sich von selbst, dass das Sujet oder die Thematik der Physik oder der Naturwissenschaft nicht das einzige Sujet oder die einzige Thematik ist. Aus der Vielfalt der nichtphysikalischen oder nichtnaturwissenschaftlichen Themenbereiche/-felder ergibt sich aber nicht zwangsläufig ein antimaterialistischer und antireduktionistischer ontologischer Pluralismus & Relativismus.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Antworten