Ontologie der Sachverhalte und Tatsachen

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn P Budesheim
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So 12. Okt 2025, 15:29

Schnee ist weiß.
La neige est blanche.
La neve è bianca.
Snow is white.
Xuě shì bái de.

Wenn diese fünf Sätze dasselbe bedeuten, dann muss es etwas geben, das als dasselbe fungiert. Meines Erachtens ist dies — falls die Tatsache besteht — ein und dasselbe: die Proposition, der Gedanke, die Tatsache das ist jeweils ein und dieselbe abstrakte Struktur, die in diesem Fall geistunabhängig existiert und von uns erfasst werden kann.




Pommesbude
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So 12. Okt 2025, 16:27

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 12. Okt 2025, 15:29
Schnee ist weiß.
La neige est blanche.
La neve è bianca.
Snow is white.
Xuě shì bái de.

Wenn diese fünf Sätze dasselbe bedeuten, dann muss es etwas geben, das als dasselbe fungiert.
Ja, es die Erscheinungswelt, in der Schnee erscheint und weiß aussieht.
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 12. Okt 2025, 11:22
Der Gedanke, dass 7 + 5 = 12, vollzieht sich nicht in der Zeit ...
Aber er vollzieht sich in der Welt, oder?




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Jörn P Budesheim
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Er vollzieht sich gar nicht.




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So 12. Okt 2025, 18:39

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 12. Okt 2025, 16:58
Er vollzieht sich gar nicht.
Wenn Wahrheit völlig unabhängig existiert und sich niemals vollzieht, dann ist sie ein Phantom: isoliert, wirkungslos und ohne jeden Bezug zur Welt — ein toter Block, der für uns keinerlei Bedeutung hat.




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Jörn P Budesheim
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So 12. Okt 2025, 18:59

Pommesbude hat geschrieben :
So 12. Okt 2025, 18:39
Wenn Wahrheit völlig unabhängig existiert ...
Das habe ich nicht gesagt. Gesagt habe ich, dass 7 + 5 = 12 sich nicht in der Zeit vollzieht. Nicht alles, was es gibt, befindet sich in Raum und Zeit, die Zahlen z.B. nicht. Daraus folgt keineswegs, dass sie ohne jeden Bezug zur "Welt" sind. Zahlen sind selbst ein Teil der "Welt". Sie sind so sehr ein Teil der "Welt", dass sie von Mathematiker:innen untersucht werden. Und ohne die Mathematik wäre die Untersuchung der physikalischen Welt, so wie sie heute betrieben wird, unmöglich.




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So 12. Okt 2025, 19:21

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 12. Okt 2025, 18:59
Zahlen sind selbst ein Teil der "Welt". Sie sind so sehr ein Teil der "Welt", dass sie von Mathematiker:innen untersucht werden.
Sprachen wie auch Mathematik sind Werkzeuge, die Strukturen sichtbar machen können. Mathematik gibt der Erkenntnis Gestalt – nicht ihren Ursprung.
Ohne Welt gibt es keine Wahrheit; die Welt passiert kontinuierlich, und jede sagbare Wahrheit — logisch, mathematisch, empirisch oder lebensweltlich — beschreibt Strukturen, Muster und Beziehungen innerhalb dieses fortlaufenden Weltprozesses.

5+7=12 ist in der Erscheinungswelt unausweichlich, alles andere liegt jenseits der Vorstellbarkeit.
Wir können 5+7=13 zwar formulieren, aber nur als Transformation und Fortsetzung.
Das Denken ist an die Logik der Erscheinungswelt gebunden, weil wir aus eben jener Welt hervorgegangen sind.




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Jörn P Budesheim
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So 12. Okt 2025, 19:54

Jörg Neunhäuserer, ein Mathematiker, der eine Einführung in die Philosophie der Mathematik geschrieben hat, gibt zu bedenken: „Eine große Mehrheit der Mathematiker ist davon überzeugt, dass die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen, unabhängig von mentaler Aktivität existieren und abstrakt sind.“

Ich hatte es schon an anderer Stelle heute erwähnt: Es gibt wahre Sätze der Mathematik. Wie sollten Gegenstände, die wissenschaftlich nachweisbare Eigenschaften haben, nicht existieren? Die Sätze der Mathematik sind mustergültig objektiv. Wie sollten sie also von unseren subjektiven Vorstellungen abhängen? Es gibt eine mathematische Forschung, die immer wieder neue Gesetze entdeckt, die zuvor nicht bekannt waren. Wie soll das möglich sein, wenn die Mathematik geistabhängig wäre? Die Mathematik ist für die Naturwissenschaft, so wie sie heute betrieben wird, unverzichtbar.

Das sind fünf – knapp formulierte – Argumente für die Objektivität der Mathematik. Welches Argument gibt es dagegen? Meines Erachtens nur ein einziges, nämlich das unbegründete und unbeweisbare metaphysische Vorurteil, dass es nur Materielles gibt.




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So 12. Okt 2025, 20:14

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 12. Okt 2025, 19:54
Welches Argument gibt es dagegen? Meines Erachtens nur ein einziges, nämlich das unbegründete und unbeweisbare metaphysische Vorurteil, dass es nur Materielles gibt.
Geist trägt Materie,
und Materie trägt Geist.
Verschieden und Ununterscheidbar,
wie Welle und Meer.




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Jörn P Budesheim
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Mo 13. Okt 2025, 08:13

Pommesbude hat geschrieben :
So 12. Okt 2025, 20:14
Geist trägt Materie
Ich sprach ja von Zahlen. Zahlen sind (Überraschung!) Zahlen und nicht Geist oder Materie.




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Consul
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Di 14. Okt 2025, 13:22

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
So 12. Okt 2025, 15:29
Schnee ist weiß.
La neige est blanche.
La neve è bianca.
Snow is white.
Xuě shì bái de.

Wenn diese fünf Sätze dasselbe bedeuten, dann muss es etwas geben, das als dasselbe fungiert. Meines Erachtens ist dies — falls die Tatsache besteht — ein und dasselbe: die Proposition, der Gedanke, die Tatsache das ist jeweils ein und dieselbe abstrakte Struktur, die in diesem Fall geistunabhängig existiert und von uns erfasst werden kann.
Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie wir solche mysteriösen abstrakten "Gedanken" geistig erfassen oder wahrnehmen könnten.

"Schnee ist weiß" bedeutet "Schnee ist weiß".
"La neige est blanche" bedeutet "Schnee ist weiß".
"La neve è bianca" bedeutet "Schnee ist weiß".
"Snow is white" bedeutet "Schnee ist weiß".
"Xuě shì bái de" bedeutet "Schnee ist weiß".

Statt "…bedeutet "Schnee ist weiß"" könnte man auch "…bedeutet "La neige est blanche"" usw. schreiben, weil diese fünf Sätze ineinander übersetzbar sind.

Hier ist die (nichtfregesche) Bedeutung eines Aussagesatzes selbst ein Aussagesatz, und zwar ein und derselbe in allen fünf Fällen, ohne dass fregesche Propositionen ins Spiel kommen.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

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Di 14. Okt 2025, 13:57

Aber woher kommt diese mysteriöse Übersetzbarkeit? :-)




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Consul
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Di 14. Okt 2025, 17:44

Consul hat geschrieben :
Di 14. Okt 2025, 13:22
Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie wir solche mysteriösen abstrakten "Gedanken" geistig erfassen oder wahrnehmen könnten.
Es handelt sich bei fregeschen Gedanken ja nicht um konkrete, mentale Gedanken in meinem Kopf, zu denen ich introspektiven Zugang habe.



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Di 14. Okt 2025, 17:51

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Di 14. Okt 2025, 13:57
Aber woher kommt diese mysteriöse Übersetzbarkeit? :-)
Sie gründet in den semantischen Regeln ("Codes") unseres Sprachgebrauchs, die nicht von der Existenz abstrakter Propositionen abhängig sind.



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Jörn P Budesheim
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Di 14. Okt 2025, 18:17

Findest du selbst, dass das eine ausreichende Erklärung ist?




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Di 14. Okt 2025, 18:22

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Di 14. Okt 2025, 18:17
Findest du selbst, dass das eine ausreichende Erklärung ist?
Nein, aber es ist zumindest eine erste Antwort.



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Consul
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Sa 18. Okt 2025, 17:33

Consul hat geschrieben :
Do 25. Sep 2025, 09:25
Alexius Meinong unterscheidet zwischen Existenz und Bestand als verschiedenen Seinsarten:
"Sein (im engeren Sinne) kann…Existenz sein, aber auch Bestand: die Sonne existiert, Gleichheit und ebenso jeder andere ideale Gegenstand kann nicht existieren, sondern nur bestehen; auch Existenz selbst (ebenso jedes andere Objektiv) existiert nicht, sondern kann bloß bestehen. Existierendes besteht auch, nicht Bestehendes existiert auch nicht."

(Meinong, Alexius. "Selbstdarstellung." [1921.] Nachdr. in Über Gegenstandstheorie & Selbstdarstellung, hrsg. v. Josef M. Werle, 53-121. Hamburg: Meiner, 1988. S. 74)
Ein Beispiel in Meinongs Sinn: Die Erde und der Mond existieren beide, aber der Abstand zwischen ihnen existiert nicht, sondern besteht nur.
"…So sagen wir lieber, es bestehe eine Möglichkeit, als sie existiere, obwohl »bestehen« doch die genaueste deutsche Wiedergabe von »existieren« ist."

(Brentano, Franz. Kategorienlehre. 1933. Hrsg. v. Alfred Kastil. Nachdr., Hamburg: Meiner, 1985. S. 30)
Die Unterscheidung von Bestand und Existenz als angeblich verschiedenen Arten zu sein, ist für Brentano und mich eine rein verbale Unterscheidung ohne zugrunde liegenden realen Unterschied. Dies gilt insbesondere für die Rede von Sachverhalten, die angeblich zwar existieren, aber nicht bestehen.
(Anders verhält es sich bei Sätzen oder nichtsachverhaltlichen Propositionen, die existieren/bestehen können, ohne wahr zu sein.)



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So 26. Okt 2025, 15:52

Consul hat geschrieben :
Sa 25. Okt 2025, 18:15
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 25. Okt 2025, 14:43
Dass dort drei Bäume stehen und zusammen ein Dreieck bilden, ist wahr. Das ist wahr, ob es nun jemand wahrnimmt, in Worte fast oder auch nicht. Auch als es noch keine Lebewesen gab, war bereits alles mögliche über alle Gegenstände wahr. Das X so und so ist, ist in dieser Sicht eine Wahrheit. Und alles, was es gibt ist so und so. Und zwar egal, ob es Sätze gibt, Gedanken, Wahrnehmungen, Modelle, Theorien oder was auch immer.

Bedenke: die Wörter Frege, Bolzano, Propositionen, etc kommen in dieser Beschreibung überhaupt nicht vor.
"Dass dort drei Bäume stehen und zusammen ein Dreieck bilden, ist wahr." – Was (für eine Art von Etwas) ist dasjenige, dem du das Prädikat "wahr" zusprichst? Angenommen, der Ausdruck "Dass dort drei Bäume stehen und zusammen ein Dreieck bilden" ist ein Name, der etwas bezeichnet: Was (für eine Art von Etwas) bezeichnet er?

Was genau ist für dich eine Wahrheit? Ein wahrer Satz (an sich)? Ein wirklicher Sachverhalt (der nicht dasselbe ist wie eine wahre Proposition als repräsentationale Entität, sondern eine weltliche Situation als nichtrepräsentationale Entität)?
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Do 25. Sep 2025, 10:25
  • Abstract/Abstrakt: Sachverhalte beinhalten ein nicht-physisches Element. Ja
  • Distinct from Propositions/von Propositionen verschieden: Sachverhalte sind nicht identisch mit Propositionen." Nein
Du denkst also, dass Sachverhalte und Propositionen dasselbe sind. Da du auch ihre Abstraktheit bejahst, gehe ich davon aus, dass du unter Propositionen bolzanosche/fregesche Propositionen ("Sätze an sich"/"Gedanken") als repräsentationale Entitäten mit einem Wahrheitswert verstehst und nicht russellsche "Propositionen" als nichtrepräsentationale Entitäten ohne Wahrheitswert.

Die (auch von Kamlah/Lorenzen vorgenommene [siehe Zitat!]) Gleichsetzung von Sachverhalten und Propositionen als abstrakten "Sätzen an sich" ("Ursätzen") oder "Gedanken" führt leider sowohl zu terminologischem als auch zu ontologischem Chaos, weil damit die semiotische Ebene der Zeichengebilde/Zeichenverhalte (Repräsentationen) – die "Bedeutungskategorien" (Husserl) wie Wort, Satz, Begriff, Begriffsverhalt, Sinnverhalt, Bedeutung/Sinn, Bezug (Referenz), Wahrheit(swert) – und die ontische Ebene der Seinsgebilde/Seinsverhalte – die "Gegenstandskategorien" (Husserl) wie Gegenstandsverhalt, Sachverhalt (Sachlage/Sachstand), Zustand, Ereignis, Vorgang, Eigenschaft, Beziehung – in unstimmiger Weise vermischt werden.
"Nun sind wir immerfort, auch außerhalb der Wissenschaft, darauf angewiesen, danach zu fragen, ob verschiedene Texte "inhaltlich" oder "sachlich" übereinstimmen. Wir erhalten Informationen aus verschiedenen Quellen, die wir hinsichtlich ihres "Sachgehalts" (wie man ja auch sagt) vergleichen müssen. Z. B. der Richter muß herausfinden, ob Aussagen verschiedener Zeugen "sachlich übereinstimmen" oder nicht. Oder wir versuchen, mit "eigenen Worten", nämlich in unserer eigenen Sprache, Sätze zu formulieren, die inhaltsgleich sind mit Sätzen eines überlieferten Textes. Die Frage nach der Inhaltsgleichheit von Aussagen ist also keine Luxusfrage, die wir auch auf sich beruhen lassen könnten.

Gleichfalls in Anlehnung an den Sprachgebrauch sagen wir nunmehr von sprachlich verschiedenen, aber inhaltsgleichen Aussagen: sie "stellen den gleichen Sachverhalt dar". Diese Gleichheit ist wieder eine Äquivalenzrelation, und ein Sachverhalt ist somit ein abstrakter Gegenstand ähnlich wie eine Zahl oder ein Begriff. Machen wir über Aussagen wiederum Aussagen, die invariant sind hinsichtlich des etwa wechselnden Wortverlaufs der besprochenen Aussagen, so machen wir Aussagen über Sachverhalte, wir sprechen von Sachverhalten. Der Terminus "Sachverhalt" ist also ein Abstraktor.

Es wurde schon daran erinnert, daß Frege hier den Terminus "Gedanke" verwendete. Diese Sprechweise wollen wir deshalb vermeiden, weil sie wieder den traditionellen Irrtum heraufbeschwört, wir hätten Sachverhalte zunächst einmal als "Gedanken" im Kopf, die dadurch, daß wir sie sprachlich "ausdrücken", zu "Aussagen" werden. Dagegen dürfte es unverfänglich sein, auch zu sagen, daß jede Aussage einen Sachverhalt vergegenwärtigt (den man auch mit anderen Worten vergegenwärtigen könnte).

Die traditionelle Logik gebrauchte an dieser Stelle den Terminus "Urteil" (judicium). Im Englischen ist es üblich, "sentence" (Satz) und "proposition" zu unterscheiden. Auf die Lautgestalt der Termini kommt es nicht an, man sollte aber festhalten, daß "judicium", "proposition", "Sachverhalt" als synonyme Termini aufzufassen sind. Da wir in der deutschen Umgangssprache das Wort "Urteil" anders gebrauchen, dagegen das Wort "Sachverhalt" in der hier erörterten Weise verwenden können, dürfte sich für das Deutsche heute der Terminus "Sachverhalt" anbieten."

(Kamlah, Wilhelm, & Paul Lorenzen. Logische Propädeutik: Vorschule des vernünftigen Redens. 3. Aufl. Stuttgart: Metzler, 1996. S. 132)



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Consul
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So 26. Okt 2025, 16:55

Ich habe bei Husserl eine Textstelle gefunden, worin er die Wörter "Sachverhalt" und "Seinsverhalt" synonym verwendet. Genau in diesem Sinn sollte das Wort "Sachverhalt" in der Ontologie gebraucht werden: zur Bezeichnung von Seinsverhalten, die keine Sinnverhalte als abstrakte Sinne/Bedeutungen oder Informationsgehalte von Aussagesätzen sind (= bolzanosche/fregesche Propositionen).
Nichtpropositionale Sachverhalte oder Seinsverhalte sind ontische/nichtsemiotische Komplexe, die man auch als weltliche Situationen oder (Attributs-)Possessionen (Besitzungen/Besessenwerdungen von Eigenschaften/Beziehungen von Sachen) bezeichnen kann.
"…Hier könnte man sagen: Korrelativ, was das Geurteilte, den Seinsverhalt anbelangt, tritt uns derselbe Seinsverhalt oder Sachverhalt gewissermaßen näher, er wird deutlicher und andererseits verworrener."

(Husserl, Edmund. Studien zur Struktur des Bewusstseins. Teilbd. I: Verstand und Gegenstand – Texte aus dem Nachlass (1909–1927). Hrsg. v. Ullrich Melle & Thomas Vongehr. Cham: Springer, 2020. S. 69)
"A state of affairs is defined as a particular's possessing a property or two or more particulars' being related."

(Armstrong, D. M. Nominalism & Realism. Vol. 1 of Universals & Scientific Realism. Cambridge: Cambridge University Press, 1978. p. 114)

"…states of affairs, that is, things having properties and things standing in relations to each other."

(Armstrong, D. M. "Reply to Bigelow." In Ontology, Causality and Mind: Essays in Honour of D. M. Armstrong, ed. by John Bacon, Keith Campbell, & Lloyd Reinhardt, 96-100. Cambridge: Cambridge University Press, 1993. p. 98)



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Consul
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So 26. Okt 2025, 21:56

Consul hat geschrieben :
Mi 24. Sep 2025, 08:58
Consul hat geschrieben :
Mi 24. Sep 2025, 01:40
Dass wir nicht nur Objekte, sondern auch Sachverhalte oder Tatsachen direkt sehen, bezweifle ich allerdings – es sei denn, man geht von Russells Tatsachenbegriff aus, dem nach auch ein Ding wie die Sonne eine Tatsache ist.
"Alles, was es in der Welt gibt, nenne ich eine ‚Tatsache‘ [‚fact‘]. Die Sonne ist eine Tatsache; Caesars Überquerung des Rubikon war eine Tatsache; wenn ich Zahnschmerzen habe, sind meine Zahnschmerzen eine Tatsache." [Google Translate]

(Russell, Bertrand. Human Knowledge: Its Scope and Limits. 1948. Reprint, Abingdon: Routledge, 2009. p. 130)
Dreißig Jahre früher war Russell anderer Meinung:
"Ich möchte, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass ich, wenn ich von einer Tatsache spreche, nicht eine bestimmte existierende Sache meine, wie etwa Sokrates oder den Regen oder die Sonne. …Was ich eine Tatsache nenne, ist die Art von Sache, die durch einen ganzen Satz ausgedrückt wird, nicht durch einen einzelnen Namen wie „Sokrates“. …Wir drücken eine Tatsache beispielsweise aus, wenn wir sagen, dass eine bestimmte Sache eine bestimmte Eigenschaft hat oder dass sie in einer bestimmten Beziehung zu einer anderen Sache steht; aber die Sache, die die Eigenschaft oder die Beziehung hat, ist nicht das, was ich eine „Tatsache“ nenne." [Google Translate]

(Russell, Bertrand. The Philosophy of Logical Atomism. 1918. Repr., Abingdon: Routledge, 2010. p. 7)



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Timberlake
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So 26. Okt 2025, 22:36

Consul hat geschrieben :
So 26. Okt 2025, 15:52


Du denkst also, dass Sachverhalte und Propositionen dasselbe sind. Da du auch ihre Abstraktheit bejahst, gehe ich davon aus, dass du unter Propositionen bolzanosche/fregesche Propositionen ("Sätze an sich"/"Gedanken") als repräsentationale Entitäten mit einem Wahrheitswert verstehst und nicht russellsche "Propositionen" als nichtrepräsentationale Entitäten ohne Wahrheitswert.

Die (auch von Kamlah/Lorenzen vorgenommene [siehe Zitat!]) Gleichsetzung von Sachverhalten und Propositionen als abstrakten "Sätzen an sich" ("Ursätzen") oder "Gedanken" führt leider sowohl zu terminologischem als auch zu ontologischem Chaos, weil damit die semiotische Ebene der Zeichengebilde/Zeichenverhalte (Repräsentationen) – die "Bedeutungskategorien" (Husserl) wie Wort, Satz, Begriff, Begriffsverhalt, Sinnverhalt, Bedeutung/Sinn, Bezug (Referenz), Wahrheit(swert) – und die ontische Ebene der Seinsgebilde/Seinsverhalte – die "Gegenstandskategorien" (Husserl) wie Gegenstandsverhalt, Sachverhalt (Sachlage/Sachstand), Zustand, Ereignis, Vorgang, Eigenschaft, Beziehung – in unstimmiger Weise vermischt werden.

Respekt .. weil weder dazu in der Lage, solche Sätze zu verstehen, geschweige denn davon sie selbst zu formulieren, zeigt sich doch mal wieder, wie weit du mir darin voraus bist. Deshalb muss ich leider bei solchen Diskussionen passen. Nur um mal an dieser Stelle zu erklären, warum ich mich bisher hier nicht zu Wort gemeldet habe und wohl auch in Zukunft nicht zu Wort melden werde.
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Mi 24. Sep 2025, 08:57

Im Alltag gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Tatsachen: Etwas, das wirklich wahr ist, gilt uns als Tatsache – und nicht (zum Beispiel) als bloßes Gerücht. Ein weiteres Beispiel: Donald Trump behauptete, bei seiner Amtseinführung seien mehr Menschen anwesend gewesen als bei der von Barack Obama. Als sich zeigte, dass dies nicht den Tatsachen entsprach, prägte seine Beraterin Kellyanne Conway den Ausdruck „alternative Fakten“. Doch weil Tatsachen per definitionem wahre Sachverhalte sind, ist das begrifflicher Unsinn. Philipp Hübl schreibt: „Die Wörter ‚Fakt‘ oder ‚Tatsache‘ bedeuten ‚wahrer Sachverhalt‘, daher gibt es ‚alternative Fakten‘ so wenig wie eckige Kreise. Es handelt sich um einen begrifflichen Widerspruch.“ Mebenbei: auch Hübl macht den Zusammenhang zwischen Tatsache und Wahrheit deutlich.


Wo hier schon mal von ihm hier die Rede , also Philipp Hübl . Es sei denn man betreibt Philosophie als Therapie ..
Dia_Logos hat geschrieben :
Di 30. Sep 2025, 11:25
Wittgenstein für Eilige von Philipp Hübl > https://philipphuebl.com/wp-content/upl ... bseite.pdf

Philosophie als Therapie
– «Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.›» (PU § 255)
– «Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beu-
len, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.» (PU § 119)
– «Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unse-
rer Sprache.» (PU § 109)
– «Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken nur
mit einer Art von Beispielen.» (§ 593)
– «Warum ist Philosophie so kompliziert? Sie sollte doch ganz einfach sein. – Die Philosophie
löst Knoten in unserem Denken auf, die wir unsinnigerweise hineingemacht haben; dazu muss
sie aber ebenso komplizierte Bewegungen machen, wie diese Knoten sind. Obwohl also das
Resultat der Philosophie einfach ist, kann es nicht ihre Methode sein, dazu zu gelangen.» (Phi-
losophische Bemerkungen, § 2




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