Backe, backe Kuchen: Wir basteln uns eine Theorie von allem

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Tosa Inu
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Der Naturalismus gilt vielen als angeknockt, aber eine echte Theorie, die ihn abzulösen vermag ist noch nicht in Sicht, trotz einiger Versuche.
Robert Brandoms Ansatz ist ein gelungener und beachteter, der davon ausgeht, dass wir primär sprachspielende und damit immer urteilende Wesen sind und der Verweis auf die Empirie nur eine Strategie der Rechtfertigung von Theorien und kein Fels in der Brandung ist.

Markus Gabriels pluralistischer Ansatz versucht (wie übrigens auch Brandom) den Begriff der Existenz breiter zu fassen, sein Ansatz wurde hier bereits diskutiert und ist vielen bekannt.

John McDowell steht philosophisch wohl irgendwie zwischen Brandom und Gabriel, aber seinen Ansatz kenne ich selbst nicht.

In der Regel wird der Naturalismus mit einer bottom up Strategie der Ontologie und der Erkenntnistheorie/Epistemologie identifiziert. Für die Ontologie heißt das, dass komplexere Einheiten stets aus einfacheren Vorläufern entstanden sind und das ist so gut wie immer mit einem grundlegenden Physikalismus assoziiert. Physikalismus nicht im alten Sinne als Materie-Klötzchen, die einander anstoßen, sondern als das verstanden, was die moderne Physik als Einheit von Materie und Energie und die vier Grundkräfte kennt und beahndelt.

Erkenntnistheoretisch bedeutet das für manche, dass man aus diesen Zutaten auch die Welt erklären könnte, allerdings ist mein Eindruck, dass da heute niemand mehr dran glaubt. Eine Neurose oder Theaterkritik wird niemals physikalisch fundiert sein, weil noch nicht mal im Ansatz klar ist, was das überhaupt heißen könnte.

So finden wir heute zig Fachdisziplinen: Gentechniker, Theaterkritiker, Hirnforscher, Historiker, Linguisten, Kosmologen, Mineralogen, Philosophen, Psychologen, die in mittlerweile sehr stark ausdifferenzierten Bereichen arbeiten, mit insgesamt nicht so großem, interdisziplinärem Austausch. Ich glaube, dass sehr viel, sehr Gutes schon erforscht (und oft vergessen) wurde und einfach herumliegt, so dass ich denke, dass der Versuch gar nicht so aussichtslos ist, wie man meinen könnte. Oft muss man nur sammeln, sich erinnern und intelligent in Beziehung setzen.

Meine persönliche Marotte sind ‚spirituelle‘ Erlebnisse. Mir ist es stets zu wenig gewesen, diese als eine Mischung aus Einbildung, Fehlwahrnehmung, Betrug und Zufall ad acta zu legen, dafür sind viele Phänomene zu hartnäckig und vor allem: von erheblicher subjektiver Auswirkung. Kaum etwas ist so geeignet ein Leben dramatisch zu verändern, wie spirituelle Gipfelerfahrungen.

Ich bin offen dafür, wenngleich nicht überzeugt davon, dass sie sich komplett naturalistisch erklären lassen, möchte sie aber nicht a priori als ‚no go‘ rauskicken, wie der Naturalismus es tut. Freilich kann es nicht darum gehen, fragwürdige Hilfshypothesen aus dem Geisterreich zu entlehnen, es geht mir schon um Erklärungen dessen, was wir erleben, sogar primär, denn die Lücke zwischen Ontologie und Erkenntnistheorie ist doch recht erheblich scheint (nicht nur) mir.

Nach meiner Einschätzung gibt es derzeit zwei heiße Bereiche, erstens die Kosmologie, wo von dem nicht zusammenpassen von Quantenphysik und Relativitätstheorie, bis über die Hilfshypothesen der dunklen Materie und dunklen Energie (die man beide noch nicht gefunden hat) wenig sicher scheint, es gibt hier kaum Konsens.

Der andere heiße Bereich ist die Schnittstelle zwischen Materie und Bewusstsein, Gehirn und Geist oder wie immer man es nennen will. Auf der praktische Ebene ist man da bereits weit vorgedrungen und hier tummeln sich eine Unzahl von Disziplinen: Psychopharmakologie, ‘Hirnforschung‘, Neurologie, Psychiatrie, Kognitionspsychologie, moderne Psychoanalyse, Meditationsforschung, Placebo- und Nocebo-Foschung, Philosophie des Geistes und der Emotionen, Psychoneuroimmunologie und -endokrinologie, Entwicklungspsychologie, Soziobiologie und Ethologie, KI-Forschung und Emergenzforschung, um nur einige zu nennen.

In diesen Bereichen wird glücklicherweise immer offener und kühner geforscht, aus der Erfahrung, dass man in einigen Bereichen fürchterlich auf der Stelle tritt, z.B. was chronische Schmerzen angeht, ein Bereich in den ich mich selbst etwas eingearbeitet habe und an dem viele der genannten Bereiche und Schnittstellen aufeinander treffen. Ich finde die praktischen Bereiche auch für unsere Theoriebildungen interessant, weil die Praxis ja implizit einige Theorien präferiert oder ausschließt und über die praktischen Erfolge von Ansätzen die an sich nicht so vorgesehen sind. Eine Ironie liegt darin, dass niemand mehr an Freud glaubt, er aber unsere Einstellung über das was psychologisch geht und sein darf noch immer maßgeblich prägt – was nicht schlecht ist, da Freud ein Genie war – aber mitunter auch beschränkt, da therapeutische Fortschritte unter Umgehung des Bewusstseins, des Verstehens, an sich nicht vorgesehen sind; sie klappen aber mitunter gut und das wirft natürlich neue theoretische Fragen auf.

Vielleicht also der lohnendere und weniger spekulative Bereich, aber wer gute Ideen zum erstgenannten Bereich hat oder wem noch weitere einfallen, nur zu. Neben den spirituellen Phänomenen, ist es m.E. wichtig, den Alltag zu verstehen, also das zu erklären, was wir längst können und tun. Sprechen, Interessengruppen bilden, Weltbilder annehmen und wieder ablegen, soziale Konten führen. Was passiert da? Wie wirkt sich das Innen aufs Außen aus und umgekehrt? Ist die Welt tatsächlich eine große Nützlichkeitsmaschine, in der das Wahre, Gute und Schöne im Dienst eines Funktionalismus steht?

Ich werde das Thema immer mal wieder füttern und versuchen etwas zusammenzufassen, es können hier und da Aktivitätslücken entstehen, die sind in aller Regel berufsbedingt.

Ansonsten, viel Spaß und Feuer frei.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Tarvoc
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Mo 9. Okt 2017, 16:48

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 11:54
Robert Brandoms Ansatz ist ein gelungener und beachteter, der davon ausgeht, dass wir primär sprachspielende und damit immer urteilende Wesen sind und der Verweis auf die Empirie nur eine Strategie der Rechtfertigung von Theorien und kein Fels in der Brandung ist.
Die Empirie ist aber eben nicht nur Rechtfertigung, sondern auch Prüfstein von Theorien. Insofern die Theorien etwas über die Realität sagen und nicht nur logisch konsistente ästhetische Konstrukte auf der selben Stufe wie religiöse Doktrinen sein sollen, hätte man anzugeben, welche Prüfsteine außer der Empirie denn sonst überhaupt noch in Frage kämen. (Die Empirie ist ja keine Methode, auch wenn sie gerne so verkauft wird, sondern gerade der Prozess, mit dem und in dem sich die Methode am Gegenstand orientiert anstatt umgekehrt.)



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Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 16:48
(Die Empirie ist ja keine Methode, auch wenn sie gerne so verkauft wird, sondern gerade der Prozess, mit dem und in dem sich die Methode am Gegenstand orientiert anstatt umgekehrt.)
Genau. Brandom geht es auch um die Zurückweisung einer Beobachtungssprache.
Behauptungen über emprisches Sosein und ihre Verifikation/Falsifiaktion sind eingebunden in normative oder diskursive Spiele.

Im Nachtrag könnte das short & sweet heißen: Wieviel Konstruktivismus muss und wieviel darf?



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Mo 9. Okt 2017, 17:07

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 16:57
Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 16:48
(Die Empirie ist ja keine Methode, auch wenn sie gerne so verkauft wird, sondern gerade der Prozess, mit dem und in dem sich die Methode am Gegenstand orientiert anstatt umgekehrt.)
Genau. Brandom geht es auch um die Zurückweisung einer Beobachtungssprache.
Wissenschaftliche Empirie war ja noch nie bloßes Beobachten. Marx würde vielleicht sagen, der Fehler am Paradigma des bloßen Beobachtens liegt daran, dass es die Tätigkeit der Empirie nur als sinnlichen Gegenstand und nicht als sinnliche Tätigkeit auffasst. Allerdings kann es hier ja vernünftigerweise nur darum gehen, die Empirie von der Hegemonie des Gedankens des bloßen Beobachtens zu befreien. Damit vollzieht sich in der Theorie, was in der Praxis sowieso schon Realität ist: Wissenschaft war de Fakto noch nie bloßes Beobachten - was aber eben nicht heißt, dass Beobachtungen keine Rolle spielen. Die Beobachtunssprache als solche abschaffen zu wollen wäre ein Schritt zu weit. (Es ist ja nicht so, dass die Tätigkeit des Beobachtens nicht auch Erkenntnisse liefern würde.)



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Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 17:07
Allerdings kann es hier ja vernünftigerweise nur darum gehen, die Empirie von der Hegemonie des Gedankens des bloßen Beobachtens zu befreien. Damit vollzieht sich in der Theorie, was in der Praxis sowieso schon Realität ist: Wissenschaft war de Fakto noch nie bloßes Beobachten - was aber eben nicht heißt, dass Beobachtungen keine Rolle spielen. Die Beobachtunssprache als solche abschaffen zu wollen wäre ein Schritt zu weit. (Es ist ja nicht so, dass die Tätigkeit des Beobachtens nicht auch Erkenntnisse liefern würde.)
Brandom geht es um den Kontrast zwischen Beobachten und Verstehen.
Die Amsel sieht den Apfel sicher auch dann und wann mal vom Baum fallen.



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Mo 9. Okt 2017, 17:34

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 17:28
Brandom geht es um den Kontrast zwischen Beobachten und Verstehen.
Das hilft aber nicht weiter. Die Frage ist ja genau die, wie man zum Verstehen überhaupt kommt.



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Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 17:34
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 17:28
Brandom geht es um den Kontrast zwischen Beobachten und Verstehen.
Das hilft aber nicht weiter. Die Frage ist ja genau die, wie man zum Verstehen überhaupt kommt.
Indem man z.B. weiß, was man tut und sagt, im Unterschied dazu, es einfach nur zu tun oder zu sagen.



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Tarvoc
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Mo 9. Okt 2017, 17:42

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 17:37
Indem man z.B. weiß, was man tut und sagt, im Unterschied dazu, es einfach nur zu tun oder zu sagen.
Das ersetzt nur einen Begriff durch einen synonymen anderen, aber es löst das Problem nicht. Die Frage hier ist genau die, wie man überhaupt erst dazu kommt, es zu wissen.



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Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 17:42
Das ersetzt nur einen Begriff durch einen synonymen anderen, aber es löst das Problem nicht. Die Frage hier ist genau die, wie man überhaupt erst dazu kommt, es zu wissen.
Wenn man sich auf allgemein akzeptierte Begründungspraktiken berufen kann und sich in eine normative Begründungspraxis eingebunden weiß.
Z.B.: Steht so bei Wikipedia. Habe ich schon gemacht. Ich war schon mal da. Mein Nachbar hat es mir erzählt. Ich kann es Dir vorrechnen.

Etwas umfassender führt das dazu, dass man Berechtigungen etwas zu behaupten erben kann, wenn diese zum allgemein akzeptierten Weltwissen gehören, ohne, dass man das selbst nachgeprüft hat.



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Alethos
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Mo 9. Okt 2017, 18:04

Ich habe grosse Sympathie für das Projekt.

Ob es uns gelingen wird, mit ein paar philosophischen Theorieingredienzen als Zutaten einen Kuchen zu backen, der erstens aufgeht und später auch schmeckt, dass muss sich zeigen. Ich bin keine Betty Bossy, bestimmt nicht, darum kann ich nichts dazu sagen. Meine Erfahrungen im Entwickeln epochaler Theorien sind gelinde gesagt extrem bescheiden :)

Ich habe nur die Vermutung, dass uns das Vorgehen wie immer mit den Überlegungen von immer nicht zu etwas Neuem, Dauerhaftem führen wird. Ich bin zu optimistisch, ich weiss, aber weniger als eine Megatheorie, das können wir doch nicht wollen :)



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Alethos
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Mo 9. Okt 2017, 18:13

Vielleicht gibt es kreativere Wege: Mit bestehenden Theoremen auf eine andere Art umgehen: z.B. Brainstorming, kreatives Schreiben, die 1-Wort-Methode, Synektik etc.

Oder mit klassischer Diskussion einen Gedanken entwickeln, der sich ganz neu aufbaut. Beginnend mit einem Wort, daraus sich ein Satz entwickelt. Bei unserer kritischen Art brauchen wir für diesen Satz vielleicht einen Monat. Aber hey, dieser Satz hätte es in sich, nicht?! :)



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Tosa Inu
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Mo 9. Okt 2017, 18:20

Alethos hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 18:04
Ich habe grosse Sympathie für das Projekt.
Das freut mich.
Alethos hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 18:04
Meine Erfahrungen im Entwickeln epochaler Theorien sind gelinde gesagt extrem bescheiden :)
Es ist nie zu spät. ;)
Alethos hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 18:04
Ich habe nur die Vermutung, dass uns das Vorgehen wie immer mit den Überlegungen von immer nicht zu etwas Neuem, Dauerhaftem führen wird. Ich bin zu optimistisch, ich weiss, aber weniger wollen als eine Megatheorie, das können wir doch nicht anstreben :)
Wir müssen das Althergebrachte schon aufknacken, aber nur bilderstürmerisch zu sein, reicht nicht.
Schauen wir mal was an den heißen Stellen so geht, ich kämpfe da auch gerne um jeden einzelnen Begriff.

Diese "Wissen" und "Verstehen" Geschichte ist schon gut, weil hinreichend kontrovers. Es gibt den Begriff des expliziten Wissens, z.B., dass die CDU bei der letzten Wahl die meisten Stimmen bekam und des impliziten Wissens, z.B. wenn man ein Organ operieren will und sich die Situation nach dem ersten Schnitt anders darstellt, als im Lehrbuch, man aber andererseits von 1000 Operationen hinter sich hat und irgendwie weiß, dass es weiter geht.

Ob man etwas verstanden hat, dafür hat man ein inneres Gefühl. Aber es gibt glaube ich verschiedene Grade von Verstehen, mit unterschiedlicher Reichweite.
Man kann z.B. irgendwie sitzen und die Anweisung bekommen: "Wenn Sie sehen, dass diese rote Lampe leuchtet, greifen Sie unvezüglich zum Hörer und wählen Sie die 931 und melden, dass das rote Licht leuchtet." Klare Ansage, leicht zu verstehen, aber wenn man das zuverlässig tut, weiß man dann eigentlich was und warum man das macht?



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Tarvoc
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Mo 9. Okt 2017, 19:22

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 17:54
Wenn man sich auf allgemein akzeptierte Begründungspraktiken berufen kann und sich in eine normative Begründungspraxis eingebunden weiß.
Nach dem Kriterium wissen Katholiken, dass Gott existiert und Masturbation Sünde ist - und gleichzeitig wissen säkulare Atheisten, dass das Kappes ist. Muslime wissen, dass es Allah erzürnt, wenn man eine Ehebrecherin nicht steinigt. Mit dem Kriterium kannst du kurz gesagt alles als Wissen verkaufen, was von irgendeiner Gruppe, Gesellschaft oder geschichtlichen Epoche "allgemein akzeptiert" wird.

Oder du meinst eine buchstäblich von allen Menschen uneingeschränkt akzeptierte Begründungspraxis - dann viel Glück dabei, eine zu finden. Sag mir bescheid, wenn du eine gefunden hast.

Es geht hier u.A. gerade um ein Abgrenzungskriterium zwischen wirklichem Wissen und bloßem Dafürhalten.

Über Wahrheit wird nicht demokratisch entschieden. Das wäre absurd. Eine pseudo-demokratische Variante von Ingsoc.



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Tosa Inu
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Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 19:22
Nach dem Kriterium wissen Katholiken, dass Gott existiert und Masturbation Sünde ist - und gleichzeitig wissen säkulare Atheisten, dass das Kappes ist. Muslime wissen, dass es Allah erzürnt, wenn man eine Ehebrecherin nicht steinigt. Mit dem Kriterium kannst du kurz gesagt alles als Wissen verkaufen, was von irgendeiner Gruppe, Gesellschaft oder geschichtlichen Epoche "allgemein akzeptiert" wird.
Ich glaube, dass genau das der Fall ist.
Einige glaube inniglich an Gott, andere halten das für Kappes, meinen aber zugleich dass ihre Sicht vollkommen richtig ist. Dadurch dass sie sich stundenlang ... ach Quatsch, jahrelang an den Mythen der anderen abarbeiten, brauchen sie sich nicht um ihre eigenen zu kümmern.
Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 19:22
Oder du meinst eine buchstäblich von allen Menschen uneingeschränkt akzeptierte Begründungspraxis - dann viel Glück dabei, eine zu finden. Sag mir bescheid, wenn du eine gefunden hast.
M.E. orientiert man sich ohnehin überwiegend an der eigenen Filterblase/Echokammer, will sich bestätigen lassen, was man zu wissen glaubt und vom großen Rest wenig bis nichts hören, außer dem immer gleichen durchcheoreographierter Ringelpitz von links vs. rechts, gläubig vs. atheistisch, um das Blut in Wallung zu bringen.
Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 19:22
Es geht hier u.A. gerade um ein Abgrenzungskriterium zwischen wirklichem Wissen und bloßem Dafürhalten.
Hmmm. Ja?
Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 19:22
Über Wahrheit wird nicht demokratisch entschieden. Das wäre absurd. Eine pseudo-demokratische Variante von Ingsoc.
Das hätte ein Papst vor 200 Jahren auch so formulieren können. Die eher guten Wahrheitskriterien haben Defizite in der Reichweite ihrer Gültigkeit, was unsere Erkenntnisfähigkeit angeht. Es ist natürlich genau dann wahr, dass es ein Paralleluniversum gibt, in dem ich gerade 6 Richtige im Lotto gewonnen habe, wenn das tatsächlich der Fall ist. Nur weiß ich das nicht, nicht mal, wie ich es testen soll.
Und an welcher Wahrheitstheorie gäbe es nichts zu mäkeln?

Nicht, dass man das nicht pragmatisch durchwinken und vieles im Alltag sinnvoll als Wahrheit behandeln kann. Aber so unter die Lupe gelegt finde ich, dass das immer schwieriger wird.
Und was ist die Wahrheit eigentlich wert, wenn uns ihre Kenntnis manchmal gar nichts bringt? Und ich finde, dass das eine weiter reichende ethische Komponente hat, als die Frage, ob man Opa (89) sagen soll, dass er Krebs hat.
Auf was außer einer Ethik könnte man sich berufen, um jemandem eine 'Wahrheit' mitzuteilen, die schmerzlich ist? Wenn die Illusion aber gar nicht groß stört und das Leben gar nicht groß behindert, sondern vielleicht sogar erleichtert? Klar, es hat was Bevormundendes Wahrheit exklusiv zu behandeln, aber wer wo hört die Wahrheit auf und wo beginnt die sich selbsterfüllende Prophezeiung? Und so ein Recht auf Nichtwissen?



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Tarvoc
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Di 10. Okt 2017, 01:13

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 23:23
Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 19:22
Nach dem Kriterium wissen [...]
Ich glaube, dass genau das der Fall ist. Einige glauben [...]
Bist du sicher, dass wir über das selbe reden?
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 23:23
M.E. orientiert man sich ohnehin überwiegend an der eigenen Filterblase/Echokammer, will sich bestätigen lassen, was man zu wissen glaubt und vom großen Rest wenig bis nichts hören, außer dem immer gleichen durchcheoreographierter Ringelpitz von links vs. rechts, gläubig vs. atheistisch, um das Blut in Wallung zu bringen.
Kannst du ja gerne so machen, wenn's dir Spaß macht. Ich ziehe es vor, meine Ansichten regelmäßig auf die Probe zu stellen.
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 23:23
Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 19:22
Über Wahrheit wird nicht demokratisch entschieden. Das wäre absurd. Eine pseudo-demokratische Variante von Ingsoc.
Das hätte ein Papst vor 200 Jahren auch so formulieren können.
Keine Ahnung, mir egal. Auch ein Papst kann ja zufälligerweise auch mal was richtiges sagen. Heißt ja z.B. auch nicht, dass er sich nicht über alles mögliche andere irrt.
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 23:23
Die eher guten Wahrheitskriterien haben Defizite in der Reichweite ihrer Gültigkeit, was unsere Erkenntnisfähigkeit angeht. Es ist natürlich genau dann wahr, dass es ein Paralleluniversum gibt, in dem ich gerade 6 Richtige im Lotto gewonnen habe, wenn das tatsächlich der Fall ist.
Hä? Aha. Wenn du das sagst.
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 23:23
Nur weiß ich das nicht, nicht mal, wie ich es testen soll.
Dann überleg's dir halt.
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 23:23
Auf was außer einer Ethik könnte man sich berufen, um jemandem eine 'Wahrheit' mitzuteilen, die schmerzlich ist? Wenn die Illusion aber gar nicht groß stört und das Leben gar nicht groß behindert, sondern vielleicht sogar erleichtert?
Was hat das mit irgendwas von dem zu tun, was ich geschrieben habe? Kann das sein, dass du einfach nur vom Wort "Wahrheit" getriggert bist?



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Alethos
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Di 10. Okt 2017, 10:05

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 18:20
Ob man etwas verstanden hat, dafür hat man ein inneres Gefühl. Aber es gibt glaube ich verschiedene Grade von Verstehen, mit unterschiedlicher Reichweite.
Allen diesen Praktiken des Verstehens und Missverstehens gemein ist jedoch ein gemeinsamer Verstehenshorizont, ein Begriffsrahmen, der durch eine soziale Praxis gefestigt ist. Durch diese Bedeutungsvergewisserung unserer Begriffe können wir überhaupt miteinander reden und einander verstehen. In diesem pragmatischen Sinne heisst Verstehen, eine gute Begründungspraxis explizit zu machen, d.h. die Struktur sichtbar werden zu lassen, in denen Begriffe zu ihrer Bedeutung kommen.

Nun müssen wir für unser Backprojekt zunächst einmal verständlich machen, was es eigentlich will. Wollen wir McDowells Pragmatismus und Brandoms inferentielle Semantik studieren oder einen Naturalismus kritisieren. Wollen wir lieber eine neue Empirie oder einen Neuen Realismus das Wort reden oder doch lieber einen neuen Konstruktivismus erdenken? Oder wollen wir ganz verwegen nach einer Möglichkeit suchen, diese aspektischen Theorien in einem holistischen Theoriekonstrukt kompatibel zu machen?

Wenn wir nämlich am Anfang bereits an der Tatsache scheitern (wie das hier offensichtlich gerade geschieht), dass sich unsere je individuellen Weltkonzepte in ihrer anscheindenen Inkompatibilität gegenseitig auflösen, dann wird es überhaupt sehr schwierig werden, unserem Projekt hier zum Erfolg zu verhelfen.



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Di 10. Okt 2017, 10:44

Tarvoc hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 01:13
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 23:23
Tarvoc hat geschrieben :
Mo 9. Okt 2017, 19:22
Nach dem Kriterium wissen [...]
Ich glaube, dass genau das der Fall ist. Einige glauben [...]
Bist du sicher, dass wir über das selbe reden?
...
Tarvoc hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 01:13
Was hat das mit irgendwas von dem zu tun, was ich geschrieben habe? Kann das sein, dass du einfach nur vom Wort "Wahrheit" getriggert bist?
Es ging ja um den Komplex von Wissen, Glauben, Verstehen, Wahrheit.
Deine Kritik bezog sich auf meinen Wissensbegriff, den ich aus einer (meinetwegen zeitlich und regional begrnezten) allgemein akzeptierten Rechtfertigungspraxis ableitete.

Ich habe Dich nun so verstanden, dass Du sagen willst, dass, wer sich auf eine Rechtfertigungspraxis beruft zwar möglicherweise in seiner Zeit und seinem Umfeld als jemand anerkannt wird, der die Wahrheit spricht, dies aber nicht die Wahrheit sein muss, sondern nur das, was dafür gehalten wird.

Du sagst nun, Du würdest lieber auf Nummer sicher gehen, klar, wer nicht, aber wie machst Du das?

Es gibt viele alltägliche Bereiche, in denen das kein Problem ist. Ich vermute, dass es regnet, schaue raus: tatsächlich.
Ich habe ein logisches System, mit endlichen Schlussregeln, daraus lässt sich prinzipiell eine endliche Zahl gültiger Schlüsse ableiten, die wahr sind.
Und dann? Es könnte noch eine Wahrheit der besonders Befähigten geben. "Wenn du auch so weit bist, wirst du erkennen, dass ... ."

Das deckt gewisse ne Menge ab, aber alles? Und überleg mal, ob es das abdeckt, worüber allgemein gestritten wird oder auch nur das, worüber Du gerne streitest. Zum Beispiel Politik. Wer kann denn wirklich sagen, welches System überlegen ist, wer meint denn hier nicht die Fakten auf seiner Seite zu haben und wen kann man nicht irgendwie doch auch verstehen, gleich wie provinziell oder utopisch da jemand gestrickt ist?
Ich glaube nur nicht, dass irgendwer, der hier agiert groß an der Wahrheit interessiert ist. Vielleicht nebenbei auch, aber doch eher nicht, wenn er sich auf eine solche Diskussion einlässt.

Ich kann akzeptieren, dass jemand wahrhaftig ist oder aufrichtig, glaubt, die Wahrheit zu verkünden und im Besitz derselben zu sein. Aber die Beweisführung dessen, was unweigerlich passieren wird, wenn ..., beruht ja selten auf mehr als Vermutungen und den Echos der eigenen Kammern.

Vielleicht ist die Wahrheit von heute nicht in allen Fällen der Irrtum von morgen, Gold wird nicht irgendwann 75 Protonen haben, wennn a > b und b > c ist, wird es vermutlich keine Welt gebe, außer wenn man festlegt, dass aus Schlüssen Beliebiges folgen soll, wo c > a ist. Man kann der Amsel, neben der der Apfel vom Baum landet nicht erklären, was es mit der Gravitation auf sich hat (so ganz genau wissen wir das ja auch nicht) und analog mag es Weise geben, die Wahrheiten sprechen, die wir vielleicht wiederholen können, aber dann wären wir wie Papageien, die sagen, dass Frau Merkel die Bundeskanzlerin ist. Was sie sagen, ist richtig, ein wahrer Satz, dennoch wird uns mulmig dabei dem Papagei in dieser Weise Wahrheitsfähigkeit zuzusprechen.
Warum? Weil wir ahnen, dass er nicht versteht, was er da korrekt sagt. Der Vogel fühlt sich nicht in eine Begründungspraxis eingebunden und auf weitere Aussagen festgelegt.
Vielleicht ist ja alles eins, wie manche Weise sagen, aber, gesetzt dies sei richtig, was bringt es uns den wahren Satz zu plappern, wenn er in uns nichts auslöst. Oder wenn man so nebenbei bemerkt, als sei das die größte Selbstverständlichkeit: "Wie Einstein in seiner bahnbrechenden allgemeinen Relativitätstheorie sagt ..." und eigentlich gar nicht so genau weiß, was Einstein da sagt. Im Reich der Blender ist der ein Künstler, der en passent fallen lässt, dass bereits Pufendorf völlig klar war, dass ... Die erste Reihe kennt noch jeder, aber wenn man so beiläufig erwähnt, dass schon Umberto Eco Hermann Lotze, als einen der vollkommen zu Unrecht unterschätzten Philosophen titulierte, so in dem Tonfall, dass es etwas ist, was man wissen muss, wenn man nicht nur RTL II guckt, dann schuckt der andere und denkt ... in desem Fall hoffentlich nichts, es war nur erfunden (aber Lotze soll trotzdem gut sein ;) ).

Überleg mal was alles so als wahr galt in den letzten Jahrzehnten. Der Eisengehalt von Spinat ist so ein Klassiker, die Reichweite der Gene (dann kam die Epigenetik), das Universum galt als relativ leer, dann kamen dunkle Energie und Materie, Psychopharmaka sollten Psychosen heilen, dann habe ich gestern Abend dieses Feature gehört (mit zeitlich begrenztem Download). Viele Pharmariesen ziehen sich aus der Forschung komplett zurück, wegen anhaltender Erfolglosigkeit. Das hat auch Konsequenzen für unser Thema, weil einige knackige und oft viel schlechter belegte, als allgemein und auch unter Psychiatern gedacht, Thesen hinterfragt werden müssen. Die Dopamin macht Psychosen und Serotoninmangel macht Depressionen Thesen werden beide immer fragwürdiger.

Wissen und Verstehen möchtest Du genauer besprechen (völlig okay), aber Wahrheit so locker durchwinken? Warum?



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Tarvoc
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Di 10. Okt 2017, 11:10

Tosa Inu hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 10:44
Du sagst nun, Du würdest lieber auf Nummer sicher gehen, klar, wer nicht, aber wie machst Du das?
Nein. Um "Sicherheit" bzw. "Gewissheit" im klassischen philosophischen (etwa cartesischen) Sinne geht es dabei gerade nicht. Du fragst nach einem allgemeinen Wahrheitskriterium, an dem allein sich die wissenschaftlichen Theorien bewähren können müssen. Der Witz am wissenschaftlichen Denken ist gerade, dass man idealerweise buchstäblich alle kritischen Ressourcen aufwendet, die man überhaupt zur Verfügung hat, bzw. zumindest so viele wie möglich, um die Theorie zu attackieren, um dann zu sehen, wie gut sie den Attacken standhält. Ein einziges Geltungskriterum, an dem allein sich alle Theorien, Ideen und Erkenntnisse messen lassen müssten, gibt es dabei nicht nur nicht, sondern es wäre diesem Prozess geradezu abträglich.

Beispiel: Das wissenschaftliche Verständnis vom Klimawandel hält der Kritik einfach ungleich viel besser stand als die Idee, die Hurrikane der letzten Jahre wären den USA von Gott als Strafe für die vielen Schwulen geschickt worden. Man muss noch klären, wie genau der Klimawandel verursacht wird, welche Faktoren eine Rolle spielen, wie er sich vollzieht, etc. - aber die Schwulen sind als mögliche Ursache raus.

Deswegen ist emotionales Attachment einer Theorie gegenüber der ganzen Sache auch so abträglich. Wem es um Erkenntnis geht, der verliebt sich nicht in seine Theorien und Begriffe. Das "innere Gefühl von Richtigkeit" ist buchstäblich das Gegenteil von Erkenntnis. Sowas führt man überhaupt nur dann als Begründung an, wenn die eigenen Ideen der Kritik nicht standhalten und einem die Argumente ausgehen.



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Tosa Inu
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Alethos hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 10:05
Allen diesen Praktiken des Verstehens und Missverstehens gemein ist jedoch ein gemeinsamer Verstehenshorizont, ein Begriffsrahmen, der durch eine soziale Praxis gefestigt ist. Durch diese Bedeutungsvergewisserung unserer Begriffe können wir überhaupt miteinander reden und einander verstehen. In diesem pragmatischen Sinne heisst Verstehen, eine gute Begründungspraxis explizit zu machen, d.h. die Struktur sichtbar werden zu lassen, in denen Begriffe zu ihrer Bedeutung kommen.
Teile davon sind gemeinsam, andere aber nicht.
[Angela Merkel] wird automatisch als [die erste deutsche Kanzlerin] gesehen, tatsächlich kann man beide Begriffe austauschen. Und ein Begriff ist nicht ein zwingend ein Wort, denn der Begriff [die erste deutsche Kanzlerin] beinhaltet vier Worte. Ansonsten aber gehen die Assoziationsketten ja weit auseinander.
Für die einen diese schreckliche Frau, die Unglück über unser Land brachte, für andere die Frau, die in Krisen besonnen bleibt und eine weiter als schwarz oder weiß gehende Interpretation wird noch 12 oder mehr andere Attribute zuordnen, diese je nach eigener Präferenz gewichten, usw. usf.

Ein gemeinsamer Horizont ist einerseits fraglos da, sonst wüsste man nicht, über wen überhaupt geredet wird, andererseits ist er mitunter so verschieden, dass ich schon fast zur These neige, dass die unterschiedlichen Weltbilder die man so haben kann, mit deren Prämissen ja weitere Festlegungen verbunden sind (die nicht selten die grundlegenen Prämissen sichern), manche auch praktischer Art, so verschieden sind, dass man schon von anderen Welten sprechen kann. Und dann stürzt der Meteor auf die Erde und wir sind doch wieder alle eins. Der Verweis auf Einheiten, allegmeingültige Verbindlichkeiten, sind oft sehr grober Natur, nicht selten destruktiv. Gibt es auch positiv formulierbare Gemeinsamkeiten, die über Zellteilung und zum Klo müssen hinausgehen?
Alethos hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 10:05
Nun müssen wir für unser Backprojekt zunächst einmal verständlich machen, was es eigentlich will. Wollen wir McDowells Pragmatismus und Brandoms inferentielle Semantik studieren oder einen Naturalismus kritisieren. Wollen wir lieber eine neue Empirie oder einen Neuen Realismus das Wort reden oder doch lieber einen neuen Konstruktivismus erdenken? Oder wollen wir ganz verwegen nach einer Möglichkeit suchen, diese aspektischen Theorien in einem holistischen Theoriekonstrukt kompatibel zu machen?
Ich bin ja zu Glück nicht allein und könnte ja nur hinschreiben, was ich bereits weiß. Ich will aber am Ende mehr wissen und habe ja eigentlich schon genügend vorgegeben. Insofern lasse ich mich da gerne überraschen, ich versuche das irgendwie zu verstehen, zu sortieren und mitzukommen und hoffe kritisiert zu werden, an den Stellen, wo ich Fehler mache.
Alethos hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 10:05
Wenn wir nämlich am Anfang bereits an der Tatsache scheitern (wie das hier offensichtlich gerade geschieht), dass sich unsere je individuellen Weltkonzepte in ihrer anscheindenen Inkompatibilität gegenseitig auflösen, dann wird es überhaupt sehr schwierig werden, unserem Projekt hier zum Erfolg zu verhelfen.
Finde ich gar nicht. Das ist ja gerade der spannende und lebensnahe Punkt. Wir sind tatsächlich verschieden, aber was heißt das?
Für den Ideoologen ist das einfach: Ich hab halt Recht, die anderen irren sich. Aber der Philosoph hinterfragt das hoffentlich. Aber auch das andere Extrem, dass stur aus der Perspektive des anderen, ja irgendwie jeder Recht hat, ist ja wahr.
Man kann sich in den Nazi, den Kleinkriminelllen, den Opportunisten, den Psychopathen schon hineinversetzen, aber was heißt das darüber hinaus, dass man es eben mal mehr, mal weniger gut kann? Heißt jemanden zu verstehen automatisch sein Verhalten und Denken tolerieren oder gutheißen zu müssen?

Wenn Überzeugungen sich zu Weltbildern verdichten und Weltbilder an andere stoßen, stellt sich ja automatisch die Frage, ob diese nur anders sind - z.B. gemäß der Idee, dass wir uns alle immer nur aktuellen Gegebenheiten anpassen - oder gibt es qualitative Unterschiede, was bedeuten würde, dass tatsächlich ein Weltiild besser as das andere wäre. Aber was heißt dieses besser?
Wer sagt, dass Köpfen und Steinigen gar nicht geht, behauptet automatisch Qualitätsunterschiede, aber nicht selten werden diese impliziten Behauptungen dan explizit geleugnet (und als faschistisch tituliert).

Doch auch im individuellen Bereich haben Weltbilder eine große Bedeutung, meine ich zumindest. Gibt es hinter all dem dennoch Metaorientierungen? Angeborene oder tief tradierte Wertvorstellungen? Setzt uns unser Hirn, unsere Neurotransmitter da Grenzen? Gibt es philosophische Begründungsstrategien die uns sagen, wann welche Prämissen oder Strategien okay sind und wann das Pferd gewechselt werden muss? Müssen wir einfach weiser werden und begreifen, dass wir alle Eins sind?

Wie ist die überraschende Sprachlosigkeit zwischen den Weltbildern zu erklären? Nicht die zwischen links und rechts, Atheisten und Gläubigen, die wissen wenigstens noch worum und worüber sie (oft mit großer Lust) streiten. Frappierender ist die Sprachlosigkeit, das wirklich nicht wissen, wovon der andere redet, zwischen den einzelnen Weltbildern.

Insofern sind die anfänglichen Hemmungen gleich etwas, was man nutzen kann.
Zuletzt geändert von Tosa Inu am Di 10. Okt 2017, 12:42, insgesamt 3-mal geändert.



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Di 10. Okt 2017, 12:36

Tarvoc hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 11:10
Das "innere Gefühl von Richtigkeit" ist buchstäblich das Gegenteil von Erkenntnis.
Vielleicht ist das falsch angekommen.

Es geht um zwei Dinge. Einmal steht man im Fokus seiner Umgebung, wie Du es als Beispiel für den Klimawandel darstellst.
In einem bestimmten Kontext erscheint der Verweis auf Gottes Strafe absurd, in anderen allerdings nicht.
Spannend ist nicht dieser Punkt, sondern was sich daran anschließt.

Dass nämlich die allgemein zugeschriebene Überlegenheit der Erklärungen, die, wenn man einmal damit anfängt in der Lesart ihrer Anhänger nicht mehr aufhört, sich gar nicht so sehr im realen Leben widerspiegelt, wenn vielleicht auch erst in den letzten Jahren. Seit man meint uns erklären und nachweisen zu müssen, dass wir viel besser dran sind, als wir fühlen, meine ich, dass da was nicht stimmt.

Der andere Punkt. Man hat m.E. ein klares Empfinden dafür, wann man z.B. eine Idee wirklich verstanden hat oder noch einigermaßen hilflos darin herum experimentiert und sich eher noch versucht zurecht zu finden. Jeder, der sich eine komplexere Ideenwet einarbeitet hat so das eine oder andere Aha-Erlebnis, bei dem sich ihm plötzliche Zusammenhänge offenbaren, bei denen er vorher wie der Ochs vorm Berg stand.



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