Wahrheitskriterium/Wahrheitsdefintion

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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Ein Wahrheitskriterium ist laut Lexikon ein Kennzeichen, das wahre Urteile kennzeichnet und durch das deren Wahrheit festgestellt werden kann. Gibt es so etwas wie ein allgemeines Wahrheitskriterium (oder vielleicht ein kleines handliches Set allgemeiner Wahrheitskriterien)? Kant weißt das zurück und zwar mit folgendem Argument.
Kant hat geschrieben : “Ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit ist nicht möglich, es ist sogar in sich selbst widersprechend. Denn als ein allgemeines, für alle Objekte überhaupt gültiges, müsste es von allem Unterschiede derselben völlig abstrahieren und doch auch zugleich als ein materiales Kriterium eben auf diesen Unterschied gehen, um bestimmen zu können, ob ein Erkenntnis mit demjenigen Objekte, worauf es bezogen wird, und nicht mit irgendeinem Objekte überein überhaupt - womit eigentlich gar nichts gesagt wäre - übereinstimme.”

Quelle = Google Books
Falls es dennoch ein allgemeines Wahrheitskriterium geben sollte, dürften wir es nicht kennen, denn unsere Wissen ist ziemlich endlich. Wir sind also, wenn ich mich nicht irre, damit konfrontiert, dass es entweder ein allgemeines Wahrheitskriterium nicht gibt, nicht geben kann oder es nicht vorliegt. Was folgt daraus für unsere Bemühungen die Wahrheit herauszufinden? Sind sie aus diesem Grund (aus diesem Grund - also dem Fehlen des Wahrheitskriteriums) zum Scheitern verurteilt? Gibt es also einen logischen Zusammenhang zwischen unseren Wahrheitsbemühungen und dem Fehlen des Kriteriums? Oder sind diese beiden Punkte logisch unabhängig voneinander?

Meine Ansicht ist, dass wir offensichtlich eine ganze Menge von wahren Überzeugungen haben können, ohne ein allgemeines Wahrheitskriterium zu besitzen.




Segler
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Di 26. Sep 2017, 09:45

Das allgemeine Wahrheitskriterium der Scholastiker lautet:

Veritas est adaequatio intellectus et rei.

Wahr ist eine Überzeugung, die mit Ihrem Gegenstand übereinstimmt. Das Wahrheitskriterium ist also die Übereinstimmung.




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Jörn Budesheim
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Di 26. Sep 2017, 09:54

Das ist nach meiner Einschätzung kein Wahrheitskriterium, sondern eine Wahrheitsdefinition. Zur Erinnerung - oben aus dem Lexikon: Ein Wahrheitskriterium ist ein Kennzeichen durch das Wahrheit von Urteilen festgestellt werden kann. Ich verstehe das so: Ein Kriterium sagt mir, dass etwas wahr ist.




Tosa Inu
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 09:54
Das ist kein Wahrheitskriterium, sondern eine Wahrheitsdefinition. Zur Erinnerung - oben aus dem Lexikon: Ein Wahrheitskriterium ist ein Kennzeichen durch das Wahrheit von Urteilen festgestellt werden kann. Ich verstehe das so: Ein Kriterium sagt mir, dass etwas wahr ist.
Das ist aber auch ein Kriterium.
Wahr (oder falsch) können m.E. nur innere oder explizit geäußerte Annahmen sein, z.B. die, dass die Geschäfte hier bis 20.00 Uhr geöffnet haben.
Gehe ich davon aus und sehe ich, dass die Läden um 19.37 Uhr noch geöffnet sind, ist meine These experimentell bestätig worden (es könnte höchstens sein, dass sie bis 22.00 auf haben und ich mich insofern doch irre). Meine Annahme stimmt also mit der Wirklichkeit überein, das Kriterium ist gemäß dieser Defintion erfüllt worden.

Es gibt andere Definitionen, bei denen man sich darüber streiten kann, ob hier überhaupt irgendein Kritierium vorliegt, die z.B. bei der Konsenstheorie oder der Kohärenztheorie der Wahrheit.

M.E. haben alle Wahrheitstheorien an einer gewissen Stelle Schwierigkeiten, was wir dadurch ausgleichen, dass wir sie gemixt verwenden.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Di 26. Sep 2017, 12:08

Ein Kriterium ist in diesem Zusammenhang grob gesagt etwas, was uns ganz "konkret hilft", herauszufinden, ob unsere Ansichten wahr sind, meine ich.

Die Definition sagt uns aber nie etwas für die konkrete Situation, sondern nur etwas allgemeines, nämlich was wir (implizit oder explizit) unter Wahrheit verstehen, die Definition kann daher kein materiales Kriterium sein, wie Kant sich ausdrückt, wenn überhaupt ist sie bloß ein formales Kriterium (was ich auch nicht glaube).

Wenn ich der Ansicht bin, dass der Hamster unter dem Teppich ist und ich will wissen, ob das wahr ist, dann hilft mir "korrespondenztheoretische Wahrheitsdefinition" keinen Schritt weiter. Wenn ich aber sehe, dass der Teppich eine sich bewegende Beule aufweist, dann ist mir geholfen :-)




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Di 26. Sep 2017, 12:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 12:08
Ein Kriterium ist in diesem Zusammenhang etwas, was uns ganz konkret hilft, herauszufinden, ob unsere Ansichten wahr sind, meine ich.
Ja, hingegen und nachschauen, zum Beispiel. Oder nachrechnen. Oder eine Umfrage starten.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 12:08
Die Definition sagt uns aber nie etwas für die konkrete Situation, sondern nur etwas allgemeines, nämlich was wir (implizit oder explizit) unter Wahrheit verstehen, die Definition kann daher kein materiales Kriterium sein, wie Kant sich ausdrückt, wenn überhaupt ist sie bloß ein formales Kriterium (was ich auch nicht glaube).
Das materiale Kriterium richtet sich ja nach der Wahrheitstheorie, der man anhängt. Wenn Übereinstimmung das Kriterium sein soll und das was ich vorfinde mit dem, was ich annehme übereinstimmt, dann bingo.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 12:08
Wenn ich der Ansicht bin, dass der Hamster unter dem Teppich ist und ich will wissen, ob das wahr ist, dann hilft mir "korrespondenztheoretische Wahrheitsdefinition" keinen Schritt weiter.
Klar, Du musst schon nachgucken.

Problematisch wird es m.E. wenn gar nicht klar wird, wonach man schauen soll, weil die Klarheit der Definition wann etwas so ist, nicht gegeben ist.
Dass ein Turm 37 Meter hoch sei, kann man überprüfen, ebenso ob ein RIng 67% Goldanteil hat.
Aber wann hat jemand Ahnung von Kunst, wann ist er ein guter Vater, wann hat jemand Ehrgeiz oder ist zuverlässig, ein Lebenskünstler, gepflegt oder gebildet?
Wo beginnt eigentlich körperliche oder psychische Pathologie, wann und warum ist jemand ein Narr oder hübsch?



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Alethos
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Di 26. Sep 2017, 12:56

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 12:08
Ein Kriterium ist in diesem Zusammenhang etwas, was uns ganz konkret hilft, herauszufinden, ob unsere Ansichten wahr sind, meine ich.

Die Definition sagt uns aber nie etwas für die konkrete Situation, sondern nur etwas allgemeines, nämlich was wir (implizit oder explizit) unter Wahrheit verstehen, die Definition kann daher kein materiales Kriterium sein, wie Kant sich ausdrückt, wenn überhaupt ist sie bloß ein formales Kriterium (was ich auch nicht glaube).

Wenn ich der Ansicht bin, dass der Hamster unter dem Teppich ist und ich will wissen, ob das wahr ist, dann hilft mir "korrespondenztheoretische Wahrheitsdefinition" keinen Schritt weiter. Wenn ich aber sehe, dass der Teppich eine sich bewegende Beule aufweist, dann ist mir geholfen :-)
Ich wollte auf denselben Punkt hinaus: ein materiales Kriterium kann es im Allgemeinen nicht geben, da ein Kriterium sich stets auf das Konkrete beziehen muss. Im Allgemeinen wird vom Konkreten ja abstahiert. Wenn es ein allgemeines Kriterium gibt, dann ein formales.

Die Konsenstheorie wurde hier angesprochen, ich denke, sie könnte eine Kandidatin sein, die Kriterien für Wahrheit liefert. Das Kriterium kommt dann als Konsens der Vielen daher. Aber hier sieht man schon die Armee der Gegenargumente am Horizont aufmarschieren :)



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Di 26. Sep 2017, 13:19

Alethos hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 12:56
Die Konsenstheorie wurde hier angesprochen, ich denke, sie könnte eine Kandidatin sein, die Kriterien für Wahrheit liefert. Das Kriterium kommt dann als Konsens der Vielen daher. Aber hier sieht man schon die Armee der Gegenargumente am Horizont aufmarschieren :)
Ja.
Der Einwand ist, dass der Konsenstheorie das Kriterium vollständig fehlt.
Es könnte ja gelingen eine Mehrheit von einer vollkommen falschen Idiotie zu überzeugen. Gemäß der Konsenstheorie wäre das dann wahr.

Allerdings habe ich es auch immer so empfunden, dass man der Konsenstheorie damit etwas unrecht tut. Gemeint ist oft der Konsens der scientific communitiy und da ist die Überzeugung, dass man nicht einfach aus der hohlen Hand etwas behauptet m.E. schon eingepreist.



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Jörn Budesheim
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Di 26. Sep 2017, 13:25

Alethos hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 12:56
Die Konsenstheorie wurde hier angesprochen, ich denke, sie könnte eine Kandidatin sein, die Kriterien für Wahrheit liefert. Das Kriterium kommt dann als Konsens der Vielen daher. Aber hier sieht man schon die Armee der Gegenargumente am Horizont aufmarschieren :)
Das sehe ich genau so. Und dein Beitrag erspart mir meinen :-) Der Konsens ist kein schlechtes Kriterium, auch wenn er die Wahrheit natürlich nicht verbürgt. Aber als Definition ist der Konsens natürlich unbrauchbar, da völlig verfehlt wird, dass Wahrheit uns "transzendiert" ... wie sicher wir uns auch sind, wie vernünftig der Konsens auch Zustande gekommen sein mag, die Wahrheit könnte dennoch anders aussehen.




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Alethos
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 13:25
Alethos hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 12:56
Die Konsenstheorie wurde hier angesprochen, ich denke, sie könnte eine Kandidatin sein, die Kriterien für Wahrheit liefert. Das Kriterium kommt dann als Konsens der Vielen daher. Aber hier sieht man schon die Armee der Gegenargumente am Horizont aufmarschieren :)
Das sehe ich genau so. Und dein Beitrag erspart mir meinen :-) Der Konsens ist kein schlechtes Kriterium, auch wenn er die Wahrheit natürlich nicht verbürgt. Aber als Definition ist der Konsens natürlich unbrauchbar, da völlig verfehlt wird, dass Wahrheit uns "transzendiert" ... wie sicher wir uns auch sind, wie vernünftig der Konsens auch Zustande gekommen sein mag, die Wahrheit könnte dennoch anders aussehen.
Ja. Die Kontingenztheorie der Wahrheit, wenn man es so sagen kann, beinhaltet sich selbst. Ich denke, dass wir dennoch nicht resignieren, wenn wir sagen: Es kann sich jenseits unserer Fähigkeit, Wahrheit zu erkennen, auch anders verhalten. Die uns transzendierende Wahrheit (die es an sich hat, für uns nicht einmal gewiss zu sein :)), hinterlässt uns ja nicht in einer Welt ohne Bezüge und Rückbezüglichkeiten, wir sind ja deshalb nicht ohne Begriffe und Intuitionen. Irgendwie, wenn auch nicht irgendwo :), gibt es Wahrheit eine Wahrheit hier und jetzt, die ganz unsere ist. Wenn auch keine eindeutige, gar eine umstrittene.



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Jörn Budesheim
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Di 26. Sep 2017, 14:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 06:19
Falls es dennoch ein allgemeines Wahrheitskriterium geben sollte, dürften wir es nicht kennen, denn unsere Wissen ist ziemlich endlich. Wir sind also, wenn ich mich nicht irre, damit konfrontiert, dass es entweder ein allgemeines Wahrheitskriterium nicht gibt, nicht geben kann oder es nicht vorliegt. Was folgt daraus für unsere Bemühungen die Wahrheit herauszufinden? Sind sie aus diesem Grund (aus diesem Grund - also dem Fehlen des Wahrheitskriteriums) zum Scheitern verurteilt? Gibt es also einen logischen Zusammenhang zwischen unseren Wahrheitsbemühungen und dem Fehlen des Kriteriums? Oder sind diese beiden Punkte logisch unabhängig voneinander?
Die Diskussion um Wahrheits-Kriterium/Definition ist natürlich sehr spannend. Aber dabei (wenn Lust und Laune besteht) meine Frage nicht vergessen :-)




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Jörn Budesheim
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Sa 14. Okt 2017, 11:43

Während die diversen Einzel-Wissenschaften herauszufinden versuchen, was in ihrem jeweiligen Feld wahr ist, fragen die Philosophen oftmals grundlegender: sie fragen nach der Wahrheit über die Wahrheit selbst. Herausgekommen ist dabei in den letzten zwei Jahrtausenden ein bunter Strauß von Wahrheitstheorien. Die folgende Zusammenstellung ist vielfältig, beansprucht allerdings keine Vollständigkeit. Bei den vorgelegten Wahrheitstheorien dürfte es hier und da Überschneidungen und Ähnlichkeiten geben, manche der Theorien unterscheiden sich nur in Details, manche vielleicht sogar nur vom Namen her.

Wichtig: Die Erläuterungen beanspruchen natürlich keine letzte Präzision. Ziel ist, den jeweiligen Begriff knapp anzudeuten und fürs erste greifbar zu machen. Sie sollen und können keine eingehende Beschäftigung mit dem jeweiligen Begriff ersetzen.

Das Thema des Threads ist, die diversen Wahrheitstheorien zu beleuchten. Welche ist/sind wahr? Mehrere oder gar keine? Eine, die nicht gelistet wurde? Oder kann/braucht es gar keine Wahrheitstheorie geben?
  • Abbildtheorie der Wahrheit: Wahr ist ein Bild/Modell, wenn es mit der Wirklichkeit übereinstimmt
  • Aletheia-Theorie der Wahrheit: Wahr ist das Sein insofern es sich lichtet und entbirgt
  • Ästhetische-Theorie der Wahrheit: Wahr ist das Schöne und Stimmige
  • Autoritäts-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was eine Autorität sagt bzw. festsetzt (auctoritas, non veritas facit legem, Hobbes)
  • Charisma-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was charismatische Personen verkünden
  • Dezisions-Theorie der Wahrheit: Wahr ist (als wahr gilt) wofür wir uns entscheiden, bzw. einer, der das Sagen hat
  • Disquotationstheorie -Theorie der Wahrheit: "Wahr ist" ist eine Form der "Disquotation": "Schnee ist weiß" ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist
  • Evidenz-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was evident und offensichtlich ist
  • Falsifikations-Theorie der Wahrheit: Wahr ist (als wahr gilt) eine plausible Ansicht bis sie widerlegt wurde
  • Fundamentalitäts-Theorie der Wahrheit: "Wahr" ist undefinierbar, Der Begriff "Wahrheit" ist fundamental und lässt sich nicht auf andere Begriffe zurückführen
  • Identitäts-Theorie der Wahrheit: Wahr ist eine Aussage, die mit einer Tatsache identisch ist
  • Inkarnations-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was die Person sagt, in der das Wort Fleisch wurde
  • Intensitäts-Theorie der Wahrheit: Wahr(haftig) ist das Leben, das sich selbst spürt - ich glühe, also bin ich
  • Kalokagathie-Theorie der Wahrheit: Wahr ist was zugleich schön und gut und wahr ist
  • Kohärenz-Theorie der Wahrheit: Wahr ist (als wahr gilt), was in sich stimmig ist
  • Komplexitätsreduktions-Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was die Überkomplexität der Welt reduziert und somit Überblick und Orientierung verspricht
  • Konsens-Theorie der Wahrheit: Wahr ist (als wahr gilt), worauf wir uns nach gründlicher Abwägung einigen
  • Konstruktions-Theorie der Wahrheit: Wahr ist eine viable Wirklichkeits-Konstruktion
  • Korrespondenz-Theorie der Wahrheit: Wahr ist eine Ansicht und/oder eine Satz, dem eine Tatsache entspricht
  • Logische Theorie der Wahrheits: Wahr ist, was aus wahren Aussagen widerspruchsfrei folgt bzw. zu folgern ist
  • Metaphorologische Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was sich in einer absoluten Metapher zeigt
  • Moralische Theorie der Wahrheit: Wahr ist das Gute
  • Offenbarungs-Theorie der Wahrheit: Wahr ist das Wort Gottes
  • Ontische Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was der Fall ist (Wahrheit ist "da draußen")
  • Pragmatische Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was nützlich ist, was uns weiter bringt
  • Redundanz-Theorie der Wahrheit: "Wahr ist" ist redundant und lässt sich stets ohne Verlust eliminieren
  • Widerspiegelungstheorie der Wahrheit: Wahr ist ein Bewusstseinszustand, wenn eine Übereinstimmung mit dem bewussten Objekt vorliegt
Quellen: Jochen Hörisch (Theorie-Apotheke), www.gavagai.de, Wikipedia, eigene Recherchen




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Dia_Logos
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Sa 14. Okt 2017, 11:44



Hier ein unterhaltsamer Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Wahrheitstheorien - wie sie sich 3sat vorstellt.




Tosa Inu
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Sa 14. Okt 2017, 21:03

Dia_Logos hat geschrieben :
Sa 14. Okt 2017, 11:44
Pragmatische Theorie der Wahrheit: Wahr ist, was nützlich ist, was uns weiter bringt
Es kann nützlich sein, zu lügen. Die Lüge ist aber sicher nicht wahr.
Damit ist die schon mal jeplatzt.
Dia_Logos hat geschrieben :
Sa 14. Okt 2017, 11:44
Abbildtheorie der Wahrheit: Wahr ist ein Bild/Modell, wenn es mit der Wirklichkeit übereinstimmt
Würde das Abbild immer perfekter, wäre es schließlich eine Kopie der Wirklichkeit.
Was kann daran überhaupt wahr sein?
Dia_Logos hat geschrieben :
Sa 14. Okt 2017, 11:44
Aletheia-Theorie der Wahrheit: Wahr ist das Sein insofern es sich lichtet und entbirgt
Wäre dann aber keine Eigenschaft einer Aussage mehr, was ein völlig anderer Ansatz ist.
Das Problem ist aus meiner Sicht, dass auch die Lüge ja "ist".



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Jörn Budesheim
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So 15. Okt 2017, 06:37

Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 14. Okt 2017, 21:03
Wäre dann aber keine Eigenschaft einer Aussage mehr, was ein völlig anderer Ansatz ist.
So ist es. Markus Gabriel erläutert in Sinn und Existenz seine Verwendung der Begriffe folgendermaßen:

"Stellen wir uns vor, es gebe genau drei Gegenstände: x, y, z. Unter einer Tatsache verstehe man etwas, das über etwas wahr ist, und unter Wahrheit den Umstand, dass etwas in einem bestimmten Zusammenhang auf etwas zutrifft (ontische Wahrheit) und deswegen auch zutreffend ausgesagt werden kann (Aussagenwahrheit). So könnte es beispielsweise über x wahr sein, dass es ein Bär, und über y, dass es ein Hase ist, während es über z wahr sein könnte, dass es sich um einen Wald handelt. Natürlich wird dies weitere Tatsachen nach sich ziehen, wie etwa diejenigen, dass Bär und Hase im Wald leben oder dass der Bär regelmäßig versucht, den Hasen zu töten." (Seite 45)




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Jörn Budesheim
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So 15. Okt 2017, 06:51

Dazu eine kleine Anekdote, die vielleicht ein ganz klein wenig off-topic ist:

Der Philosoph Peter Bieri war zu Gast im philosophischen Quartett, vielleicht vor einem Jahrzehnt. In den folgenden Tagen wurde das Gesprächsgegenstand seinerzeit im Philosophie Raum. In einer kurzen Sequenz sprach Bieri auch über Wahrheit. Im Philosophie-Raum konnte man sich selbstverständlich nicht einigen, was Bieri denn eigentlich gesagt hat :) daher hat ein User kurzerhand eine E-Mail geschrieben und um Klärung eines Streites gebeten und ihn dabei eingeladen im Forum zu schreiben :) Bieri hat sogar geantwortet:

"Die Behauptung ist: Sätze, die vom Thema, den ästhetischen Qualitäten, dem finanziellen Wert eines Gemäldes handeln, sind in genau demselben Sinne des Wortes "wahr" wahr wie Sätze, die von den physikalischen und chemischen Eigenschaften handeln. (Und in der Tat: NUR Sätze/Aussagen/Behauptungen/Propositionen sind mögliche logische Subjekte des Prädikats "wahr"). Etwas anderes zu behaupten, sagte ich, ist "Metaphysik" im Sinne der These, daß es ein ausgezeichnetes Beschreibungssystem gibt, das die EIGENTLICHE Welt beschreibt. Im Kopf habe ich dabei Nelson Goodman, Ways of Worldmaking - aber auch Rorty.

Viele Grüße und danke fürs Interesse. Zeit für einen Beitrag habe ich leider nicht."


Und in der Tat: NUR Sätze/Aussagen/Behauptungen/Propositionen sind mögliche logische Subjekte des Prädikats "wahr" - das war seinerzeit der StreitPunkt. Ich hatte Bieri diese Ansicht "zugeschrieben", der andere User hielt dagegen und schrieb Bieri die Mail.

Witzig, dass Bieri Rorty erwähnt, ist dieser doch grob vereinfacht gesagt, tatsächlich der Ansicht, dass dasjenige wahr ist, was uns voran bringt :) (ich habe ein paar Bücher von Rocky im Regal, wenn Bedarf besteht, könnte ich mal eine Originalpassage heraussuchen.)

In Bezug auf Aussagen-Wahrheit sind meines Erachtens alle Theorien fragwürdig, die ein epistemisches Element enthalten, die also Wahrheit in irgendeinem Sinn von dem abhängig machen, was wir wissen oder wissen können. Streicht man die epistemischen Wahrheitstheorien raus, dürfte die obige Liste ist um einiges kürzer werden :)




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So 15. Okt 2017, 09:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 15. Okt 2017, 06:51
In Bezug auf Aussagen-Wahrheit sind meines Erachtens alle Theorien fragwürdig, die ein epistemisches Element enthalten, die also Wahrheit in irgendeinem Sinn von dem abhängig machen, was wir wissen oder wissen können
Das wären Konsenstheorie usw., nicht?
Ich sehe die Korrespondenztheorie eher (oder: auch) kritisch, weil ein allgemeines Sosein m.E. schwer zu fassen ist, außer bei rein physikalischen Größen.



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So 15. Okt 2017, 10:25

Tosa Inu hat geschrieben :
So 15. Okt 2017, 09:31
Ich sehe die Korrespondenztheorie eher (oder: auch) kritisch, weil ein allgemeines Sosein m.E. schwer zu fassen ist,
Ist das nicht eher eine Ansicht, die die "Korrespondenztheorie" voraussetzt, um einzuwenden, dass die "Korrespondenz" ggf schwer zu fassen ist? (Anführungszeichen setze ich, weil ich unsicher bin, wie glücklich der Begriff Korrespondenz ist.)
Tosa Inu hat geschrieben :
So 15. Okt 2017, 09:31
Das wären Konsenstheorie usw., nicht?
Schätze: Ja. Zum Beispiel die Ansicht, dass wahr ist, was die Wissenschaften in goldenen Zeitalter verkünden :-) Oder die Idee, dass es zwischen guter Begründetheit und Wahrheit keinen wirklichen Unterschied gibt (obwohl gerade Rorty hier noch einen "warnenden Gebrauch" des Wahrheitsprädikates sieht. In etwa so: Ansicht A mag perfekt begründet sein, aber dennoch nicht wahr.)




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So 15. Okt 2017, 11:18

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 15. Okt 2017, 10:25
Ist das nicht eher eine Ansicht, die die "Korrespondenztheorie" voraussetzt, um einzuwenden, dass die "Korrespondenz" ggf schwer zu fassen ist? (Anführungszeichen setze ich, weil ich unsicher bin, wie glücklich der Begriff Korrespondenz ist.)
Voraussetzt, ja, aber auch limitiert.
Ich finde die Korrespondeztheorie auch nicht falsch, nur begrenzt.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 15. Okt 2017, 10:25
Schätze: Ja. Zum Beispiel die Ansicht, dass wahr ist, was die Wissenschaften in goldenen Zeitalter verkünden
Ich bin immer im Zweifel, ob diese an sich simplen Einwände wirklich von Habermas übersehen werden konnten.
Man darf m.E. schon davon ausgehen, dass den Konsens der scientific communtiy bereits Begründungen impliziert, zum Teil korrespondenz-, zum Teil kohärenztheoretischer Art. Also sind Emprie plus Logik bereits eingepreist.

Mit treten immer die Tränen in die Augen, wenn ich den "Einwand" höre, dass ein Berg auch nicht höher wird, wenn die Mehrheit "beschließt", dass er größer sei, als er ist. Als ob es darum ginge. Habermas schreibt ja nicht vom Faschingsballl der Grenzdebilen sondern der scientific communtiy und bei aller Kritik, die ich ja auch äußere, als blöd würde ich die ja nun nicht bezeichnen.

Was er m.E. sagen will, ist, dass wir nicht mehr wissen können und daher genau das als Wahrheit behandeln müssen (was auch sonst?), was die besten Forscher im Konsens als aktuell bestes Wissen zur Verfügung stellen. Alles Gerede über eine andere Wahrheit, die natürlich immer hübsch unbezweifelbar wahr ist, die aber leider niemand kennt, ist für die Katz. Ein Kriterium dafür zu haben, dass ich in einem Paralleluniversum gerade den 6er im Lotto geknackt habe, ist nett, schade nur, dass man nicht kontrollieren kann, ob es so ist. Meinetwegen kann man mir auch unterstellen, diese Unzufriedenheit sei infantil, aber glücklich macht mich das nicht, das ist kein "Wissen" auf dem ich mich ausruhen möchte.



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So 15. Okt 2017, 11:21

Vielleicht haben wir ja hier Habermas Kenner im Forum? Ich meine mal gelesen zu haben, er habe die consensus Theorie längst wieder eingezogen.




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