ENERGEIA oder: Sein als Gegenstand und als Vollzug

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
Antworten
Hermeneuticus
Beiträge: 811
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 19:20
Kontaktdaten:

Fr 3. Nov 2017, 07:26

Schon seit langem umkreisen meine Überlegungen immer wieder den Unterschied zwischen Sein als Gegenstand und Sein als Vollzug. In den unterschiedlichsten philosophischen Diskussionen der letzten 10-15 Jahre habe ich auch immer wieder Sein als Vollzug gegen das Sein als Gegenstand auszuspielen und in den Vordergrund zu rücken versucht. Aber einer breit angelegten, frontalen Thematisierung des besagten Unterschieds und der damit zusammenhängenden Probleme bin ich bisher aus dem Weg gegangen. Die Sache ist nämlich nicht eben einfach. Ich bin auch überhaupt nicht sicher, ob ich den Schwierigkeiten des Themas gewachsen bin. Aber letztlich ist diese Angelegenheit so bedeutsam und elementar, dass ich den Versuch nicht länger aufschieben will.

Als Einstieg sei der aristotelische Terminus "energeia" kurz erläutert. Er wird gewöhnlich übersetzt mit "Wirklichkeit" , und zwar im Unterschied zur "Möglichkeit" (aristotel. "dynamis"). In meinem altgriechischen Lexikon wird der Ausdruck erklärt als:

1) Wirksamkeit, Tätigkeit, wirkende, tätige Kraft, Betätigung
2) Verwirklichung, Wirklichkeit
3) Wirkung
4) (als grammatischer Terminus) das Aktivum

Der Wortstamm von energeia ist "ergon", also das Werk, die Tat, die Arbeit, die Beschäftigung usw. Buchstäblich lässt sich demnach "energeia" übersetzen als: das Im-Werk-Sein oder das Am-Werk-Sein. Im späteren und neutestamentarischen Altgriechisch kommt lt. meinem Lexikon auch das Verb "energeo" vor - mit der naheliegenden Bedeutung von: wirken, bewirken, ausführen, verrichten, sich betätigen und (medizinisch) sich als wirksam erweisen.

Dem möchte ich hier im Eröffnungsbeitrag nur noch die Wortfelder von "Vollzug" und von "Performanz" beigesellen. Ich zitiere aus "Wiktionary":

- vollziehen

Bedeutungen:
[1] umsetzen, ausführen, durchführen, verwirklichen, vollstrecken
[2] rückb. Schritt für Schritt ablaufen, geschehen

Synonyme:
[1] umsetzen, ausführen, durchführen, verwirklichen, vollstrecken, exekutieren
[2] sich umsetzen, stattfinden


- Performanz

Bedeutungen:
[1] Ausführung, Durchführung (einer Idee), Aufführung (eines Kunstwerks)
[2] Ökonomie, Informatik: Leistungsverhalten
[3] Soziologie: konkretes Verhalten eines Individuums
[4] Linguistik: das Sprechen und Sprachverhalten

Herkunft:
[1] aus dem lateinischen performare → la, dieses zusammengesetzt aus per → la (vergleiche auch per-) und formare → la, wörtlich für „völlig (aus-)bilden“
[2] aus dem englischen performance → en, für Ausführung, Verrichtung oder auch Leistung; zu to perform → en[1]
Synonyme:
[2] Performance
[4] Sprachverwendung, Sprachverhalten

Gegenwörter:
[4] Kompetenz


Das mag als erster Denkanstoß genügen...




Segler
Beiträge: 181
Registriert: Mi 26. Jul 2017, 20:34

Fr 3. Nov 2017, 09:35

Aristoteles benutzt "energeia" nur für Tätigkeiten. In seinen metaphysischen Schriften verwendet er den Ausdruck "Entelecheia". Das kann man mit "vollendete Wirklichkeit" übersetzen.




Hermeneuticus
Beiträge: 811
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 19:20
Kontaktdaten:

Fr 3. Nov 2017, 10:23

Segler hat geschrieben :
Fr 3. Nov 2017, 09:35
Aristoteles benutzt "energeia" nur für Tätigkeiten. In seinen metaphysischen Schriften verwendet er den Ausdruck "Entelecheia". Das kann man mit "vollendete Wirklichkeit" übersetzen.
Nope. Kann ich schon beim flüchtigen Blick in den Text nicht bestätigen. :)
Sowohl im Buch IX, wo das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit untersucht wird, als auch im Buch XII über den unbewegten Beweger verwendet Aristoteles durchgängig "energeia". Ich habe zwar auch einige Stellen gesehen, wo er "entelecheia" synonym verwendet. Aber der Befund ist ganz klar: Aristoteles' ontologischer Terminus für das Wirkliche (im Unterschied zum Möglichen) ist energeia.




Hermeneuticus
Beiträge: 811
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 19:20
Kontaktdaten:

Fr 3. Nov 2017, 10:56

Hier eine hilfreiche Erläuterung zum Begriff "energeia".
Sie stammt aus dem Kommentar zu: Aristoteles' Metaphysik, Bücher VII - XIV, hg. v. Horst Seidel, dritte, verbesserte Auflage Hamburg 1991, S. 461.
Aus dem Kommentar zu Met. IX von Horst Seidel.jpg
Aus dem Kommentar zu Met. IX von Horst Seidel.jpg (236.28 KiB) 7942 mal betrachtet




Segler
Beiträge: 181
Registriert: Mi 26. Jul 2017, 20:34

Fr 3. Nov 2017, 21:28

Ich habe mir das mal näher angesehen. Aristoteles benutzt tatsächlich wesentlich häufiger den Ausdruck energeia als den Ausdruck entelecheia.




Hermeneuticus
Beiträge: 811
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 19:20
Kontaktdaten:

Sa 4. Nov 2017, 02:55

Substantialismus

Eine beliebte Antwort auf die Frage, was "Wirklichkeit" bedeute, lautet: "alles, was es gibt" oder auch "die Summe dessen, was es gibt". Viele sind also unwillkürlich geneigt, "Wirklichkeit" als Bezeichnung für ein Gesamt von (Einzel-)Dingen oder Entitäten ("Seienden") oder "Etwassen" aufzufassen. Heidegger kritisierte sogar die gesamte abendländische Metaphysik-Tradition wegen ihrer Tendenz, "Sein" vom Seienden, also von den Dingen her zu verstehen.

Man kann lange darüber spekulieren, worin diese Tendenz begründet ist. Eine naheliegende Auskunft wäre der Hinweis auf unsere sinnliche Wahrnehmung und ganz besonders auf unseren Gesichtssinn. Denn unser Sehen bietet uns die Wirklichkeit primär als ein Nebeneinander von ruhenden, festen Einzeldingen dar. Wie sich diese Einzeldinge zueinander verhalten, wie sie auf einander bezogen sind, erscheint sich für unser Sehen als etwas Sekundäres. Auch Bewegung sehen wir - wenn sie denn kein unbestimmtes, chaotisches Flimmern, Oszillieren, Strudeln... ist - überwiegend als Ortsveränderungen von Einzeldingen, die in ihrer Bewegung als das, was sie sind, erhalten bleiben. Man könnte diesen Befund mithilfe eines philosophischen Terminus auch so formulieren: Für unseren Gesichtssinn ist das Wirkliche ein bewegtes Ensemble von "Substanzen". Mit "Substanz" ist eben genau das an einem Etwas gemeint, das in Ruhe, Bewegung und Wandel bleibt, was es ist.

Eine andere Auskunft, von Nietzsche populär gemacht, aber bereits von Hegel gegeben, wäre der Hinweis auf die Struktur unserer Sprache, genauer: auf den Bau unserer Aussagesätze. Zu einem Rumpfsatz, einer elementaren Prädikation, werden immer ein "Subjekt"-Ausdruck und ein "Prädikat"-Ausdruck verbunden: Sokrates geht; Sokrates ist sterblich; die Rose ist rot; die Rose blüht usw. Dabei ist der Subjektausdruck stets eine Bezeichnung für einen einzelnen Gegenstand oder eine Summe aus solchen. Und der Prädikatausdruck sagt dann etwas Bestimmtes und Allgemeines von diesem Gegenstand aus. Die Aussage hat also die Struktur des Sagens von etwas über etwas (oder mit Aristoteles "ti kata tinos"). Der Subjektausdruck, der für einen Gegenstand steht, ist dabei gewissermaßen der ruhende Pol des Satzes. Er ist wie ein Pflock, an den sich Verschiedenes und Veränderliches anbinden lässt. In vielen Fällen geschieht die Anbindung der inhaltlichen Bestimmung mithilfe der "Kopula", nämlich des "ist", also einer Flexion des Verbs "sein". - Von der Struktur unseres Sprechens her bietet sich demnach das Sein an als etwas, das von einem Gegenstand, einer Substanz ausgesagt wird. Die prinzipiell unendlich vielen Bestimmungen, die sich einer und derselben Substanz geben lassen, könnte man somit als vielfältige Auslegung ihres Seins, als Bestimmung der Art und Weise ihres Seins charakterisieren. In jedem Fall ist dieses Sein aber das Sein eines Etwas, das unterhalb der wechselnden Bestimmungen bleibt, was es ist - eben eine "Substanz" oder ein dauerhaft "Zugrundeliegendes"...

So arbeiten also unsere sinnliche Wahrnehmung und unsere Sprache einander zu. Sie vereinigen sich in der Tendenz, das Wirkliche - das, "was es gibt" - uns als ein Ensemble von Einzeldingen, von Substanzen vorzustellen und begreifbar zu machen. Der Grund dafür dürfte ganz einfach darin liegen, dass die Sprache, die ja selbst zum sinnlich Wahrnehmbaren gehört, sich in ihren Anfängen strukturell der sinnlichen Wahrnehmung anbequemte, indem sie sich am Naheliegenden "festmachte", nämlich an Einzeldingen, die sich aus irgendwelchen Gründen als bedeutsam aufdrängten und auf die sich zeigen ließ...

Wenn man will, kann man die hier skizzierte Tendenz des Seinsverständnisses mit Hegel als eine Eigenart des "vorstellenden Denkens" kennzeichnen, .d.h. als ein Denken, das ans Sinnliche angelehnt und daher in seinen Ressourcen limitiert bleibt. (Siehe dazu auch Beitrag 3259 im Diskussionsstrang "Was heißt Denken?") Ich werde dieses Seinsverständnis einfach als "substantialistisch" oder "gegenstandsgebunden" bezeichnen.




Benutzeravatar
iselilja
Beiträge: 1551
Registriert: Mi 26. Jul 2017, 19:53

So 7. Feb 2021, 14:04

Segler hat geschrieben :
Fr 3. Nov 2017, 09:35
Aristoteles benutzt "energeia" nur für Tätigkeiten. In seinen metaphysischen Schriften verwendet er den Ausdruck "Entelecheia". Das kann man mit "vollendete Wirklichkeit" übersetzen.
Mit Übersetzungen ist das immer so eine Sache..

entelecheia - was soviel heißt wie im Ziel angekommen sein - abgeschlossene und insofern auch vollendete Handlung bezieht sich aber dennoch sinngemaß auf energeia, denn es ist damit genau der (Zeit-)Punkt gemeint, in dem sich die Wirkung zeigt. Und in dieser abgeschlossen Wirkung liegt der Verweis auf das, was wir heute zumeist mit dem Wort Energie verbinden. Man sieht sie ja nicht als soclhe, aber in ihrer Wirkung - en erga - wird sie erkennbar.




Antworten