"Das objektive Selbst", Thomas Nagel

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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So 22. Apr 2018, 16:13

Den Ausdruck "Diskursive Methode" habe ich ja deinem Text entnommen. Wie kriegt man raus, was moralisch der Fall ist? So: man nutzt die diskursive Methode: man spricht darüber, tauscht Gründe und Gegengründe aus. War das so ungefähr dein Gedanke?

(Wer ernsthaft - und nicht bloß philosophisch/strategisch - fragt, wie kriege ich raus, was moralisch geboten ist, hat mit der Frage auch schon eine Antwort geliefert!)

Die Richtigkeit eines Grundes muss jeder einsehen können, der mir beim Denken über die Schulter schaut, haben wir bei Nagel gelernt. Ich kann mir jedoch auch selbst über die Schulter schauen. Diese Fähigkeit zum "Selbstabstand" und zur "Selbstreflexion" sowie die Fähigkeit zur diskursiven Methode, die die Gleichheit der Rede (und den zwanglosen Zwang des besseren Argumente) als ethisches Prinzip ja schon enthält, das hängt meines Erachtens alles "irgendwie" zusammen. Und ich frage mich, ob das auch mit dieser Form aus dem Eingangstext zu tun hat: Was sollte ich tun?, kann ich übersetzen in: Was sollte diese Person tun? (die ggf. ich bin.) Diese Fähigkeit müssen wir ja mitbringen, wenn wir die diskursive Methode nutzen, da ja alle, die mitmachen eine andere Person "besetzen".

Die diskursive Methode verlangt den Gesprächsteilnehmern ab, die verschiedenen logischen Formen verständig zu nutzen: Also die "Perspektive der ersten Person" sowie die "Perspektive der dritten Person" (die "Perspektive der zweiten Person, also das Antlitz des Anderen gelten zu lassen und die Perspektive der ersten "Person Plural" also "Wir-Intentionalität" lass ich Mal beiseite). Und das ist doch ein formale Ähnlichkeit zu unserem Aufsatz. Ich weiß nicht, ob man das fruchtbar machen kann.

Irgendwie ist das jetzt zu kompliziert geworden, das merke ich auch - vielleicht kriege ich es bald besser und einfacher bin :-)




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Alethos
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So 22. Apr 2018, 17:09

Nein, das war quasi genial :) Ich muss das noch ein bisschen wirken lassen!



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Jörn Budesheim
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So 22. Apr 2018, 17:10

Ich meine, ich hab den Aufsatz (in Der Blick von nirgendwo) vor vielen, vielen Jahren gelesen. Jetzt habe ich vielleicht ein Drittel des Textes noch Mal gelesen und muss sagen, dass der Ausschnitt aus der Klausur den Text wirklich sehr unzureichend wieder gibt :-(




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Jörn Budesheim
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So 22. Apr 2018, 18:42

Tommy hat geschrieben :
So 22. Apr 2018, 18:33
Der Lehrer hat da mehrere Dinge zu beachten.
Das stimmt natürlich. Die Frage ist aber natürlich auch, wie wir das werten für diese Diskussion.




Enno
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Mi 25. Apr 2018, 23:07

Extrem gut gefallen haben mir Jörns Statements betreffend Metaphysik. Meine volle Zustimmung. In bin auch der Meinung, dass Seele, Geist, Gott für Nagel keine Option sind.
Was mir nicht klar ist, weshalb in der vollständigen Weltbeschreibung etwas fehlen soll? Wenn man die Welt als eine Ansammlung von Individuen betrachtet, von denen eines TN ist, dann kann dieses TN-Individuum doch alles mögliche tun, sprechen, denken, philosophieren... Es kann für sich auch paradoxe Situationen konstruieren, indem es annimmt, dass das Ich, als Resultat des vom TN-Individuum geleisteten 'Ich betrachte die Welt'-Eindrucks, in der Lage wäre, einer vollständigen Weltbeschreibung (die nicht vom TN-Individuum kommt) weitere Tatsachen hinzuzufügen.
Wenn man den vom Individuum geleisteten 'Ich betrachte die Welt'-Eindruck als das Primäre nimmt, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man versucht, das Ich in der Welt unterzubringen. Das erzeugt Paradoxien, wie von TN gezeigt. Oder man betrachtet das Ich im Sinne von Seele o.ä., was zumindest ein geschlossenes Weltbild ergibt.
Ich denke für TN sind beide Optionen nicht akzeptabel.




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Jörn Budesheim
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Do 26. Apr 2018, 08:41

Enno hat geschrieben :
Mi 25. Apr 2018, 23:07
Wenn man die Welt als eine Ansammlung von Individuen betrachtet, von denen eines TN ist, dann kann dieses TN-Individuum doch alles mögliche tun, sprechen, denken, philosophieren
Das ist richtig. TN ist nach meinem (bisherigen und vorläufigen) Verständnis auch nicht der Kern des Problems. Ich kann aus der "Perspektive" der 3. Person sehr viele Wahrheiten formulieren über TN, die gar kein Problem für den Naturalismus darstellen. TN ist 1,85 m, er ist 4. Juli 1937 geboren, etc. ... Das Kern-Problem ergibt sich bei Aussagen, die nur dann wahr sind, wenn TN sie über sich selbst aussagt. Zum Beispiel: "Ich bin TN". Das ist nur wahr, wenn es TN selbst sagt. Diese Wahrheit kommt sozusagen zur "vollständigen Beschreibung" noch hinzu. Nagel sieht dies jedoch (anders als Tetens, wenn ich recht sehe) als ein Problem an, das es zu lösen gilt. Dazu macht er einige Vorschläge ... die ich aber noch nicht kenne :-)

Hier ist Tetens Rekonstruktion des Arguments:
Holm Tetens hat geschrieben : Sollte sich die Wirklichkeit vollständig durch die Erfahrungswissenschaften beschreiben und erklären lassen, müsste sie aus der objektiven Beobachterperspektive vollständig beschreibbar sein. Der Leser möge sich vorstellen, er wäre mit einer solchen Beschreibung konfrontiert. Dem Anspruch nach würde darin auch alles über ihn gesagt, was über ihn zu sagen wäre. Oder würde doch noch etwas fehlen?

Für jeden von uns würde sogar das Entscheidende in dieser angeblich vollständigen Beschreibung fehlen. Jeder von uns müsste noch erkennen: »Übrigens, die Person, von der da unter der Bezeichnung N.N. so ausführlich die Rede ist, das bin ich selber.« Und diese Feststellung, obwohl für jeden das A und O, um überhaupt ein Teil der objektiv beschriebenen Welt sein zu können, käme schon deshalb in der erfahrungswissenschaftlichen Beschreibung nicht vor, weil dort über Personen intersubjektiv mit Eigennamen oder Kennzeichnungen geredet werden muss, während wir unsere Selbstidentifizierung mit einer objektiv beschriebenen Person nur mit dem indexikalischen Ausdruck »Ich« vollziehen können. Bereits diese einfache Beobachtung belegt die Schwierigkeit, erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte und ihre besondere Erste-Person-Perspektive verständlich in einer objektiven, rein materiellen Welt zu plazieren.

1. Prämisse: Für jede in der Beobachterperspektive vollzogene Beschreibung von Tatsachen, die eine bestimmte Person betreffen, muss diese Person noch den Gedanken in der Erste-Person-Perspektive in Ich-Sätzen vollziehen, dass sie es ist, von der die Beschreibung handelt.
2. Prämisse: Diese Ich-Sätze, in der eine Person sich selbst identifiziert, sind nicht Teil einer erfahrungswissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit.
3. Prämisse: Ohne diese Selbstidentifizierung von Personen ist aber jede erfahrungswissenschaftliche Beschreibung von Personen unvollständig (und für die betreffende Person selber nutzlos).
————————————————————————————
4. Konklusion: Also sind erfahrungswissenschaftliche Beschreibungen von Personen unvollständig.




Enno
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Do 26. Apr 2018, 10:18

Wenn TN die Aussage macht "Ich bin TN", dann gibt es das Produzieren der Aussage und die Aussage selbst, als Resultat des erzeugenden Prozesses. Wenn man behauptet, dass die von TN gemachte Aussage wahr sei, dann müsste das in der Aussage vorkommende Ich auch das Erzeugen der Aussage einschliessen, was nicht geht, denn wer hätte dann die Aussage gemacht? Offensichtlich verletzt das handelnde Individuum das Indentitätsprinzip. Logische Widerprüche sind nur das Symptom.
Der Naturalismus, der letzendlich Identitätsmetaphysik ist, also annimmt, dass die Logik uneingeschränkt anwendbar sei, muss folgerichtig Probleme damit haben, das handelnde Individuum in sein angenommenes logisches Kontinuum zu integrieren.




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Jörn Budesheim
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Do 26. Apr 2018, 19:52

Enno hat geschrieben :
Do 26. Apr 2018, 10:18
Wenn man behauptet, dass die von TN gemachte Aussage wahr sei, dann müsste das in der Aussage vorkommende Ich auch das Erzeugen der Aussage einschliessen, was nicht geht, denn wer hätte dann die Aussage gemacht?
Kannst du das etwas ausführen? Mir ist nicht wirklich klar, was du damit meinst.




Enno
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Do 26. Apr 2018, 21:15

Ich wollte nur zeigen, dass eine Aussage von TN über TN (im logischen Sinne) keine wahre Aussage ist, da die beiden TNs nicht identisch sind. Die Aussage selbst fehlt in dem TN, über das etwas ausgesagt wird. Das Phänomen ist vom Lügner-Paradoxon bekannt, nur ist dort die Aussage so konstruiert, dass ein Zirkelbezug entsteht. Daher kann man auch ich nicht sagen, dass zur vollständigen Beschreibung noch eine Wahrheit hinzukommt.
Genau genommen zeigt das, dass zur Vollständigkeit auch der Prozess des Erzeugens einer Aussage dazugehört. Sonst wäre die vollständige Beschreibung nur eine auf Aussagen (die Prozessresultate) reduzierte Vollständigkeit.




Tosa Inu
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Fr 27. Apr 2018, 11:10

@'Enno'

Hallo und danke, für die Erklärung.
Erweiternd gefragt: Gilt das nicht eigentlich für jeden beleibigen Gegenstand, über den man etwas aussagt, und falls nein, warum nicht?

Beispiel: Wenn ich etwas über meine Kaffeetasse aussage, würde es dann nicht zur Wahrheit aller Tatsachen über diese Tasse gehören, dass ich etwas über sie aussage, analog Deiner TN Erklärung? Müsste dann nicht zu Korrektur eine abermalige Aussage hinzugefügt werden usw., ad infinitum?

Müsste das nicht zu der etwas pessimistischen Aussage führen, dass wahre Aussagen über die Welt und irgendwas in ihr prinzipiell unmöglich sind und wie würde man sich da behelfen?



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Fr 27. Apr 2018, 12:14

Enno hat geschrieben :
Do 26. Apr 2018, 21:15
Genau genommen zeigt das, dass zur Vollständigkeit auch der Prozess des Erzeugens einer Aussage dazugehört. Sonst wäre die vollständige Beschreibung nur eine auf Aussagen (die Prozessresultate) reduzierte Vollständigkeit.
Bei Nagels Rede von der vollständigen Beschreibung der Welt, musste ich natürlich an Markus Gabriels Listen Argument denken und dein Einwand - insofern ich ihn verstehe - scheint mir recht ähnlich zu klingen.

In Sinn und Existenz erläutert er es so: "Eine erste Variante der These, dass es die Welt im Sinn einer absoluten Totalität nicht geben kann, ergibt sich aus dem Listenargument. Dieses Argument ist letztlich zwar ungenauer als die Ar​gumente, die in § 6 diskutiert werden, dennoch kann es in dieser Einleitung als erste Annäherung an den Grundgedanken der Keine-Welt-Anschauung dienen. Stellen wir uns vor, es gebe genau drei Gegenstände: x, y, z. Unter einer Tatsache verstehe man etwas, das über etwas wahr ist, und unter Wahrheit den Umstand, dass etwas in einem bestimmten Zusammenhang auf etwas zutrifft (ontische Wahrheit) und deswegen auch zutreffend ausgesagt werden kann (Aussagenwahrheit). So könnte es beispielsweise über x wahr sein, dass es ein Bär, und über y, dass es ein Hase ist, während es über z wahr sein könnte, dass es sich um einen Wald handelt. Natürlich wird dies weitere Tatsachen nach sich ziehen, wie etwa diejenigen, dass Bär und Hase im Wald leben oder dass der Bär regelmäßig versucht, den Hasen zu töten.

Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, es gebe endlich viele Wahrheiten über die x-y-z-Welt, das heißt endlich viele Tatsachen: T1, T2, …, Tn. Als Nächstes beschließen wir, eine Liste anzufertigen, die alle Tatsachen dieser Welt erfasst, in welche die Gegenstände jeweils eingebettet sind. Diese Liste wäre eine Darstellung der Totalität der Tatsachen, ein Weltbild.

Wenn es sich bei der Welt um die Totalität, um absolut und überhaupt alles, und nicht bloß um eine Region (mit lokalen, kontextsensitiv restringierten Quantoren) handelt, müssen wir umgehend anerkennen, dass das Weltbild Teil der Welt sein muss. In diesem Fall verändert die Tatsache, dass es nun eine Liste (ein Weltbild) gibt, die Welt auf drastische Weise. Wir sehen uns genötigt, unser Weltbild dadurch zu vervollständigen, dass wir zu x, y und z weitere Gegenstände hinzufügen (den Autor der Liste zum Beispiel), was neue Tatsachen hervorbringt, die damit zusammenhängen, dass es nun eben eine Tatsache ist, dass es eine Liste der Totalität der Tatsachen gibt. Man sieht leicht, dass es damit immer noch eine weitere Liste geben wird, die wir nun zu erstellen haben, um ein Weltbild zu erstellen, das sich selbst enthält, und jede der unendlich vielen Ergänzungen der Liste wird dabei die Welt (vielleicht nur ausgesprochen geringfügig) ändern, indem sie Gegenstände und Tatsachen hinzufügt. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Welt lässt sich nicht »überlisten« – kein »Listenreichtum« wird hinreichen, um sie zu erfassen." (Markus Gabriel, Sinn und Existenz)




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Jörn Budesheim
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Fr 27. Apr 2018, 14:05

Enno hat geschrieben :
Do 26. Apr 2018, 10:18
Der Naturalismus, der letzendlich Identitätsmetaphysik ist, also annimmt, dass die Logik uneingeschränkt anwendbar sei, muss folgerichtig Probleme damit haben, das handelnde Individuum in sein angenommenes logisches Kontinuum zu integrieren.
Das verstehe ich folgendermaßen: Der Naturalismus ist eine Form der Metaphysik. Im Kern jeder Metaphysik steht eine umfassende Allaussage der Form "Alles ist x". Beim objektiven Idealismus ist das fragliche x der Geist, beim Naturalismus die Natur oder eins der Letztelemente, welches uns die Naturwissenschaften liefern. Diese Architektur erlaubt es der jeweiligen Metaphysik ein logisches Kontinuum zu bilden, in dass sie alles integrieren kann. Doch dem Naturalismus kann es nicht gelingen, das handelnde Individuum zu integrieren. Er kann sozusagen nicht über es hinweg quantifizieren, ohne es dabei zu verlieren.

Falls das gemeint sein sollte, bin ich einverstanden. Jedoch habe ich mit der Ein- und Herleitung immer noch Verständnisprobleme.




Enno
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Fr 27. Apr 2018, 21:55

@Tosa Inu
Genau das hatte ich mich nach meinem Statement auch gefragt, ob das nicht für alle Aussagen gilt. Das könnte ja durchaus sein, und die spezielle Form der Ich-Aussage, macht das aufgrund der erzeugten Paradoxie einfach nur besonders deutlich (ich benutze auch gern das Kaffetassenbeispiel).
Ich denke, dass die einzelnen Individuen zunächst die Welt, also auch die Kaffeetasse, erfahren/erlernen/begreifen. Man bewegt sich in der Welt und das was man Wahrnehmung nennt, ist der erlernte Zusammenhang von aktiver Handlung und sensorischer Rückmeldung. Bei kleinen Kinder ist das besonders gut zu sehen. Ich vermute, dass genau das erlernt wird, was bei gleicher Handlung zu gleicher Rückmeldung führt. Wahrnehmung ist also zunächst einmal etwas aktives. Der Eindruck des passiven Aufnehmens und Verarbeiten von Informationen aus der Außenwelt kommt vermutlich daher, weil das Gedächtnis bei der Wahrnehmung eine so große Rolle spielt.
Aber das nur als Hintergrund. In diesem Sinne ist Wahrheit erstmal individuell, aber die anderen Individuen kommen, beispielsweise bei der Kaffeetasse, zu den gleichen Ergebnissen und die Individuen können sich auch darüber verständigen.
Nun kann man das Individuum als einen komplexen, Aussagen produzierenden, Prozess betrachten, und wenn das Individuum eine Aussage über die Kaffeetasse produziert, dann ist das erstmal nur ein Prozessresultat, das für das Individuum Sinn macht, sonst hätte es das Resultat nicht produziert.
Aus dieser Sicht ist es natürlich schwierig von Wahrheit aller Tatsachen oder wahren Aussagen über die Welt zu sprechen.
Die Aussage über die Kaffeetasse ist unproblematischer, weil die Tasse mit sich selbst identisch ist, sie ist rein funktional, logisch beschreibbar. Es gab einen erzeugenden Prozess, von dem sie nun abgetrennt existiert.
Bei Aussagen/Resultate produzierenden Individuuen ist das nicht der Fall. Der aktive Prozess kommt in den Aussagen nicht vor. Ich denke, dass das bei der Ich-Aussage einfach nur besonders deutlich wird, am stärksten beim Lügner-Paradoxon.

@Jörn
Ich hatte mir vor einiger Zeit ein paar Vorträge von MG angesehen und erinnere mich auch an das Listen-Argument.
Vielleicht kann man einfach sagen, dass eine auf Aussagen/Tatsachen/Resultaten/Funktionen/Ergebnissen.. reduzierte Weltsicht zu Paradoxien führt?
Falls das auch die Weltsicht oder Metaphysik des Naturalismus ist, dann läßt sich auf derselben Grundlage nicht dagegen argumentieren. Ist auch erstmal schwierig, da die Form dieser Weltsicht, der Form des Wahrgenommenen oder der Gedanken entspricht. Und das sind Prozessresultate. Wie man mit den Widersprüchen umgeht, scheint mir eher individuell zu sein. Nur lassen lassen sich diese Widersprüche oder Paradoxien nicht lösen. Es sind keine Rätsel. Sie zeigen nur die Grenzen dieses Weltverständnisses. Innerhalb dieser Grenzen funktionieren die empirischen Wissenschaften, die Technik.
Die uneingeschränkte Kausalität ist der Riesenvorteil des logischen Kontinuums. Da haben es die Humanities nicht ganz so leicht.




Tosa Inu
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Sa 28. Apr 2018, 10:28

Enno hat geschrieben :
Fr 27. Apr 2018, 21:55
@Tosa Inu
Genau das hatte ich mich nach meinem Statement auch gefragt, ob das nicht für alle Aussagen gilt. Das könnte ja durchaus sein, und die spezielle Form der Ich-Aussage, macht das aufgrund der erzeugten Paradoxie einfach nur besonders deutlich (ich benutze auch gern das Kaffetassenbeispiel).
...
Aus dieser Sicht ist es natürlich schwierig von Wahrheit aller Tatsachen oder wahren Aussagen über die Welt zu sprechen.
Die Aussage über die Kaffeetasse ist unproblematischer, weil die Tasse mit sich selbst identisch ist, sie ist rein funktional, logisch beschreibbar. Es gab einen erzeugenden Prozess, von dem sie nun abgetrennt existiert.
Bei Aussagen/Resultate produzierenden Individuuen ist das nicht der Fall. Der aktive Prozess kommt in den Aussagen nicht vor. Ich denke, dass das bei der Ich-Aussage einfach nur besonders deutlich wird, am stärksten beim Lügner-Paradoxon.
Ich sehe hier noch einen Bruch.
Dein Argument, wenn ich es richtig verstanden habe, lautet, dass die Tasse (ihr Produktionsprozess) irgendwann mal 'fertig' ist und dadurch (mehr oder weniger) selbstidentisch ist und bleibt: Eine Tasse, ist eine Tasse, ist eine Tasse ... . Habe ich Dich so richtig verstanden?

Nun kann man in zwei Richtungen weiter gehen:

1. Man kann sagen, dass die Tasse im Großen und Ganzen fertig ist und bleibt, wie sie ist, weshalb man über sie sagen kann, dass sie 380 Gramm wiegt, grün ist, aus Keramik, bis in die feineren Analysen, auf Spitzfindigkeiten sei mal verzichtet.
Anders hingegen die Aussage dessen, der sie über sich selbst oder analog, die man über Welt tätigt. Denn das Objekt der Betrachtung und Bechreibung ist hier nie fertig beschrieben, weil allein die Aussage von ihm/über es, ihm etwas hinzufügt.

Dies erscheint mir etwas inkonsistent, weil die Objekte Tasse, Ich und Welt hier m.E. ungleich behandelt werden, ohne, dass das begründet wird.
Daher als Alterative die andere Variante.

2. Man kann die erste Version verschärfen und sie so konsistenter fassen, wie ich finde.
Dann ist auch die Tasse nicht 'fertig', sondern das eigentliche Argument, was sowohl Nagels Ich- oder Selbstbeschreibung, als auch Gabriels Listenargument verbindet, ist doch, dass prinzipiell jede Art der Beschreibung oder Benutzung dem Objekt etwas hinzufügt. Nämlich genau diese Beschreibung.
Über die simple Tasse ist es dann aber genau so wahr, wie über das Ich und die Welt, dass sie nie abschließend beschrieben ist. Denn es ist über sie wahr, dass sie jetzt halb voll mit 70° C warmem Kaffee ist, etwas später, dass sie 1/3 voll mit 58° C wamem Kaffee ist, ihre Position auf dem Tisch hat sich leicht verändert, zwischendurch ist es wahr, dass aus ihr getrunken wird, bis sie leer ist ... Spüle, Schrank, wieder raus, wieder gefüllt ... ein Tassenleben lang immer wieder was anderes. Und wenn es heute wahr ist das aus der Tasse 7946 mal getrunken wurde, dann bald, dass das 8000 mal der Fall war, usw.
Ein Kosmos um eine einzige Tasse. Oder anders ausgedrückt: Es besteht zwischen Ich, Welt und Tasse überhaupt kein prinzipieller Unterschied.

Wenn also gilt, dass es ein Ich nicht gibt, aus logischen Gründen, die Welt nicht gibt, aus logischen Gründen, dann gibt es auch eine Tasse aus den gleichen Gründen nicht und folgerichtig müsste man schließen, dass es überhaupt nichts gibt. Denn ob die Gesellschaft, das Elektron, der Baum oder das Bergmassiv, nie ist irgendein Objekt fertig zu beschreiben.

Was folgt daraus? Im Grunde nur ein Erkenntnis- oder Seinspessimismus, der allerdinsgs in bekannte Selbstwidersprüche führt.
Zuletzt geändert von Tosa Inu am Sa 28. Apr 2018, 11:11, insgesamt 2-mal geändert.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Sa 28. Apr 2018, 10:49

Tommy hat geschrieben :
Sa 28. Apr 2018, 01:37
1.4
Der wichtigste analytische Fehler liegt jedoch ganz einfach darin, daß - auch wenn Nagel verschiedentlich andeutet, es ginge ihm nicht darum, ein nicht-physisches Individuum einzuführen - in der „philosophischen“ Lesart der TN-Sätze „Ich“ stillschweigend immer wie ein Designator eingesetzt wird. Für das fragliche Einzelding werden jedoch niemals Identitätskriterien angeboten. Unter Nagels Kritikern ist es wieder Norman Malcolm, der diesen Punkt besonders deutlich macht (Vgl. Malcolm 1988, 154 & 159).

"Ergibt das irgendeinen Sinn?" Es würde [einen Sinn ergeben], wenn es Kriterien der Identität für ein "Ich" [Hervorhebung TM] gäbe.... Wenn wir über die Identität einer Person unsicher sind, gelingt es uns manchmal, ihre Identität zu bestimmen, manchmal machen wir Fehler. Aber in Bezug auf die Identität eines Ichs, das angeblich den Standpunkt einer Person einnimmt, könnten wir weder richtig noch falsch liegen. Nach einer schweren Amnesie kann Nagel sich vielleicht als TN identifizieren - aber nicht als ich. `Ich bin TN' könnte eine Entdeckung verkünden - aber nicht `Ich bin ich'.
Eine wichtige Quelle der Verwirrung in Nagels Denken ist seine Annahme, dass das Wort "Ich" von jedem Redner verwendet wird, um sich auf etwas zu beziehen, etwas zu bezeichnen. Aber so wird 'Ich' nicht verwendet. Wenn es so wäre, dann wäre "Ich bin ich" vielleicht falsch, weil "Ich" in diesen beiden Fällen benutzt würde, um auf verschiedene Dinge zu verweisen. Nagels Aussage "Ich bin TN" könnte auch falsch sein, nicht weil der Sprecher nicht TN wäre, sondern weil Nagel irrtümlich "Ich" benutzt hätte, um auf das Falsche zu verweisen. Hätte Nagel nicht angenommen, dass'Ich' wie ein Name benutzt wird, um etwas zu bezeichnen, hätte er nicht die Vorstellung gehabt, dass in jeder Person ein Ich oder Selbst oder Subjekt wohnt - das diese Person als Blickpunkt benutzt."
(Vgl. Malcolm 1988, 159f)

http://www.philosophie.uni-mainz.de/met ... 1995y.html
Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum die Ich- oder Selbstbildung Philosophen so verwirrt.
Als müsse man sich entscheiden, ob das Ich sich nun in angeblicher Benennung eines metaphysischen Ichkerns selbst aus der Taufe gehoben hat oder ob ihm dieses Ichsein plus Zutaten, wie man denn nun individuell ist nun gänzlich durch öffentliche Sprache plus sozialer Zuschreibungen zufällt.
Es ist doch erkennbar beides richtig, so dass, wenn man ein Ich besitzt und mit Fremdzuschreibungen konfrontiert ist, beide Prozesse parallel laufen, wie sie es bei uns allen immer tun. Man prüft die Aussage des anderen, dass man x sei im Rahmen seines eigenen Empfindens, was wiederum aus früheren Fremdzuschreibungen gewonnen wurde, die man aber auch in ihrem Insgesamt kritisch, reflexiv und idealerweise selbstreflexiv einordnen kann.

Dass es hier momentane Meinungsverschiedenheiten, Borniertheiten oder grundsätzlichere pathologische Verzerrungen gibt, die von der Ich-Schwäche oder Identitätsdiffusion bis zum Ichverlust/zur Ichinflation gehen, ist wohl wahr, aber nicht ohne Grund haben wir für den Normalfall dem Ich die prima facie Berechtigung zur Aussage über sein Selbstempfinden zugeschrieben, eine konsistente Linie, die Philosophie und Psychologie verbindet.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Tosa Inu
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Tommy hat geschrieben :
Sa 28. Apr 2018, 11:40
Warst Du nicht neulich noch derjenige der darauf gepocht hat, dass Philosophen sich klar und verständlich ausdrücken, ihre Prämissen explizit benennen und ihre Begriffe sauber definieren? Warum sollte das mit dem "Ich"-Begriff anders sein?
Wieso sollte das anders sein?
Es ist eine Sache zu fragen, wer oder was das Ich ist.
Wenn Psychologen nach dem Ich fragen, sagen sie sowas wie: "Können Sie mir beschreiben, was Sie als Mensch auszeichnet und von anderen unterscheidet?"
Idealerweise redet man dann ganz praktisch über sich selbst oder abstrakter, sein Ich.
Bei begrifflichen Unklarheiten oder Inkonsistenzen bittet man, taktvoll, um Klärung.

Die Frage, ob ich, wenn ich rede tatsächlich mit mir identisch ist, ist da irgendwie unangebracht. Wäre ich Therapeut und mir würde jemand erklären, dass er darunter leidet, würde ich fragen, inwiefern ihm das wichtig ist.



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Enno
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Sa 28. Apr 2018, 22:22

@Tosa Inu

Zur Ungleichbehandlung von Tasse und Ich:
Meine Auffassung ist, dass die Tasse mit sich selbst identisch ist, das Individuum jedoch nicht, denn das Individuum ist ein Prozess, der, wenn man beispielsweise das Individuum TN nimmt, die Aussage „Ich bin TN.“ produzieren kann.
Der Unterschied ist, dass die Tasse nichts produzieren kann.

Warum es weder Ich, noch Tasse geben soll habe ich nicht verstanden. Nur weil das Aussagen produzierende Individuum in der Lage ist, immer mehr Aussagen zur Tasse zu produzieren? Das ist doch der Tasse egal. Wahrscheinlich ein Missverständnis.

Dass es für das TN Individuum problemlos möglich ist, die Aussage „Ich bin TN.“ zu produzieren (so wie auch für Epimenides die Aussage „Alle Kreter lügen.“), es aber bei der Anwendung der Logik auf diese Aussage zum Paradoxon kommt, bedeutet nur, dass die Logik hier nicht anwendbar ist. Die Anwendung der Logik setzt Identität voraus, die ist beim Individuum nicht gegeben, jedoch bei der Tasse.




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Jörn Budesheim
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So 29. Apr 2018, 07:16

Dass etwas mit sich selbst identisch ist, ist meines Erachtens eine analytische Wahrheit und gilt für alles. Warum du der Ansicht bist, dass Personen nicht mit sich selbst identisch sind, habe ich leider nach wie vor nicht Recht begriffen.

Die meisten Identitäts-Aussagen sind daher auch uninformativ, trivial wahr. Es gibt jedoch berühmt/berüchtigte Ausnahmen, zum Beispiel Freges Hesperus and Phosphorus. Nagel selbst bringt in dem fraglichen Aufsatz den Satz "Ich bin Thomas Nagel" damit in einen Zusammenhang. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich Nagel an dieser Stelle verstehe, aber vielleicht ist das ein interessanter Ansatz, das "ich" und das "Thomas Nagel" als verschiedene Arten des Gegebenseins des Selben zu deuten.




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So 29. Apr 2018, 09:00

Stellen wir uns vielleicht Mal ein paar Szenen vor, in denen der Satz "Ich bin Thomas Nagel" vorkommen könnte.

Fünf Männer sitzen im Wartezimmer, der zuständige Beamte tritt ein und fragt: "Wer ist Thomas Nagel?"
"Ich bin Thomas Nagel"

Thomas Nagel hat nach einem Unfall sein Gedächtnis verloren. Doch nach und nach, erinnert er sich wieder, bis er an den Punkt kommt, wo er begreift:
"Ich bin Thomas Nagel"

(Tosa Inu hat weiter oben geschrieben:) Wenn Psychologen nach dem Ich fragen, sagen sie sowas wie: "Können Sie mir beschreiben, was Sie als Mensch auszeichnet und von anderen unterscheidet?"
"Ich bin Thomas Nagel"

Irgendjemand hält das Buch der Welt in den Händen, das alle Tatsachen enthält. Nachdem er das Buch gelesen hat, fragt sich dieser Irgendjemand, wer er selbst ist unter den vielen beschriebenen Personen. Nach einigem Nachdenken, sagt er zu selbst:
"Ich bin Thomas Nagel"

Ein materialistisch eingestellter Zeitgenosse erklärt Thomas Nagel, dass es nichts gibt außer "Atomen und Leere" und dieser antwortet:
"Ich bin Thomas Nagel"




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So 29. Apr 2018, 09:23

Wenn wir nach unserer Identität Fragen, dann können wir doch ebenso ganz Verschiedenes damit im Sinn haben.

Ich kann mich - sagen wir in einem existenziellen Sinn - fragen, was mich ausmacht, wie ich mich selbst verstehe, wie ich mich sehe, wer ich sein möchte, wer ich nicht sein möchte, welche Geschichte ich habe etc. Das könnte man die Frage nach der personalen Identität nennen.

Ich kann mich auch fragen, ob ich mehr oder anderes bin als die subatomaren Partikel, aus denen ich bestehe, bzw. ob ich "bloß" dieses autopetische System bin und nicht vielleicht so etwas besitze wie eine "immaterielle" Seele. Das könnte man die Frage nach der spirituellen, religiösen (o.ä.) Identität nennen.

Wir können versuchen, wie Nagel und auffordert, uns eine komplette Weltbeschreibung aus dem Blick von nirgendwo heraus geschrieben vorzustellen. Darin haben Tassen eine Identität, die womöglich mit der Identität vieler anderer Dinge verknüpft ist.

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