Sinnfelder etc.

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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Mo 19. Aug 2019, 07:45

Ja, warum gibt es etwas und nicht nichts? Ich glaube aber nicht, dass die SFO angetreten ist, um das zu erklären :)




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Alethos
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Mo 19. Aug 2019, 09:01

Ich schaue jeden Tag in die Welt hinaus und sehe da z.B. Schachbretter, Tische, Menschen und denke über Gesetze nach oder rechne mit Zahlen. Bei keinem dieser Dinge muss ich mir eine Unendlichkeit einkaufen. Sinnfeld-Erscheinung ist einfach nicht wirklich ein praktisches Modell :), obwohl der ontologische Pluralismus überzeugend ist.



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Jörn Budesheim
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Mo 19. Aug 2019, 16:48

Mein Lebensgefühl ist ganz anders. Ich hab oft das Gefühl, mich durch Unendlichkeiten zu bewegen. Natürlich nicht immer, weil man in Alltagssituationen viele praktische und bewährte Wegmarken in petto hat, ohne die man schnell den Kopf verlieren würde. Aber wenn ich in künstlerischer oder philosophischer Stimmung bin oder einfach Muße habe und Tagträume, dann liegen die Dinge anders. Dann schaut mich die Unendlichkeit der Welt oft direkt an.

Oder: Wenn ich eine Zeichnung mache, selbst wenn erst wenige Striche passiert sind, ist die Zahl der Möglichkeiten, wie es weiter gehen kann, unendlich, ich kann alles tun - ich muss es jedoch runterbrechen auf die eine einzige Möglichkeit, die ich ja nur realisieren kann. Betrachte ich meine Umgebung, sagen wir bei der Mittagspause auf dem Feld in der Nähe, dann sehe ich (wenn ich bewusst die Augen öffne) eine unüberschaubare Fülle von Tatsachen vor mir - in jeder Situation. Nicht mal zwei Leben würden reichen, um sie alle zu beschreiben. Man kann natürlich pauschal sehen: eine Landschaft und beim Begriff einhaken. Das ist oft der Weg, den man wählt. Superkomplexitätsreduktion, wenn man so will. Das muss oft so sein. Aber wenn man ins Detail geht, sieht man sofort die Unendlichkeit, bzw. sie sieht einen an. Wenn man zusätzlich über die Dinge phantasiert, die den Sinnen noch verborgen sind ... wird man schnell ziemlich wuschig :-)

In vertrauten Umgebungen (in Sicherheit zusagen) ist das oft sehr schön. In fremden Umgebungen kann es jedoch auch bedrohlich werden, eine Überforderung.




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Alethos
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Mo 19. Aug 2019, 19:11

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 19. Aug 2019, 16:48
Mein Lebensgefühl
Das könnte mit dem Umstand zusammenhängen, dass du als Künstler, als Kreativer, ständig mit solchen Situationen umgehst. Anschaulich auch das Beispiel mit der Zeichnung und den 'Superkomplexitäts reduzierenden' :) Vorgängen beim Zeichnen. Sowas kenne ich natürlich auch, aber weniger ausgeprägt.

Wenn wir alle Möglichkeiten z.B. beim Zeichnen oder bei Schachzügen ausbreiten würden, sagen wir einmal horizontal auf einem gigantischen Tisch, dann hätten wir lauter möglicher Striche, Linien, Formen etc, die sich zu zeichnen anbieten. Beim Schach wären es entsprechend Züge. Aber ist das nicht etwas anderes, diese homogenen Möglichkeiten zu sehen als in der 'Seinshierarchie' hochzusteigen? Angenommen, wir picken uns ein Sinnfeld raus, z.B. das Schachbrett, dann gibt es eine materielle Ebene (die hölzernen Figuren), sie kommen auf dem materiellen Brett vor. Überlappend gibt es auch Spielregeln, denn wo ein Schachbrett ist, da müssen auch die Handlungsoptionen des Schachspiels in Form der Regeln sein. Etwas merkwürdig ausgedrückt, gibt es oberhalb dieser Regeln wieder eine Ebene, z.B. die Kombinatorik etc. Es scheint doch dann irgendwie so zu sein, also ob es ein noch 'höheres', umfassenderes Feld geben müsste, in dessen Sphäre die Regeln des Schachs erscheinen können. Und darüber eine noch höhere. Das, sagen wir dem einmal Hierarchie oder vertikale Seinsabhängigkeit, das denkt sich dann nicht so leicht. Es ist so wie bei einer Babuschka, Ebene über Ebene gelagert, wobei die Ebenen nicht homogene sind, sondern Ebenen eines anderen Sinns? Ich bin nicht ganz sicher, ob du weisst, was ich meine. Es ist schwierig das auszuformulieren.



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Jörn Budesheim
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Mo 19. Aug 2019, 19:48

Niklas Luhmann hat einmal gesagt, dass man sich Systeme nicht wie Fettaugen auf der Suppe vorstellen soll. Ich habe mir sie immer vorgestellt wie die Gesellschaft selbst - soweit ich das konnte. Daran musste ich denken. Und dann dachte ich bei mir, dass Alethos sie sich sicherlich wie Matroschka Puppen vorstellt. Und schwupps, schon stand das Wort da! Ich hatte es also gelesen, bevor ich an der Stelle überhaupt war :) was für ein verrücktes Sinnfeld :)

Ich stelle mir Sinnfelder so vor, wie das, was ich um mich herum "wahrnehme". All das, was ich wahrnehme ist irgendwo - und nicht nirgendwo, es zeigt sich vor einem Hintergrund, ist in einem Zusammenhang eingebettet und bildet mit anderen eine Einheit, die ihrerseits vor etwas herausstechen und irgendeine Ordnung haben, so vage sie auch sei. Einiges ist klar konturiert und abgegrenzt vor dem Hintergrund, anderes wirkt ineinander. Manches ist wie eine Schmitzsche ortlos ergossene Atmosphäre. Anders bildet einen Zusammenhang mit Dingen, die Kilometer weit entfernt sind (in einer Galerie in Marburg) und gehört zugleich zu etwas, was sich über Jahrhunderte erstreckt, nennen wir es Kunst-Geschichte, die ich mir vor dem Hintergrund anderer geschichtlicher Zusammenhänge ausmale. Dort liegt ein Foto, was zum Bereich meiner Familiengeschichte gehört. Wenn ich jetzt einrn Stift in die Hand nehme, gehört es in 10 Minuten zum Bereich der Kunstgeschichte, auch wenn es nur ein ganz winziger Teil ist. Kleiner als ein Atom vielleicht. Das meiste auf diesem Familienfoto gehört zur Vergangenheit und nimmt nicht viel Platz weg, anderes gehört zu einer ungewissen Zukunft. Aber alles davon hat irgendein Ort und irgendeine Art, wie schillernd sie auch sein mag.

Ich glaube nicht, dass man sich Sinn-Felder wie konzentrische Kreise vorstellen sollte, so als seien sie Fettaugen in Fettaugen in Fettaugen in einer Suppe.

Gabriel sagt, glaube ich, dass sie sich überlappen, durchdringen und überschneiden können. Außerdem müssen wir uns klar machen, dass sie - obwohl wir eine räumlichen Metapher vor uns haben - natürlich nicht immer räumliche Phänomene sind.

Zudem ist das Feld ja nicht "größer", wie das, was in ihm vorkommt. Bestünde die Kunstgeschichte genau aus zwei Bildern und ihrer Abfolge, würden wir um die Bilder "herum" ja nicht noch etwas Geschichtliches, wie die Geschichtsmatroschka, die die beiden Bilder enthält, finden. Deswegen ist das Matroschka Bild auch irreführend.




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Alethos
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Mo 19. Aug 2019, 20:18

Ok, wow. Schöner Beitrag. Ich werde ganz bestimmt gerne noch ein wenig darüber nachdenken.


...in einem gewissen Sinn ist dein Familienfoto dort viel grösser als ein Atom, mit oder ohne künstlerische Anreicherung. Es ist doch beeindruckend, wie viel einem etwas bedeuten kann, das für andere vielleicht nur ein Stück Materie ist. Es kommt oft auf die Näheverhältnisse an und die Fähigkeit, sich einzulassen...



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Sa 14. Dez 2019, 17:52



ab ca Minute12 gibt es eine kurze Einführung in Markus Gabriels These, dass es die Welt nicht gibt.




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Sa 18. Jan 2020, 18:12

Markus Gabriel im Interview mit Matthias Eckoldt hat geschrieben : ... Richtig ist jedenfalls, dass die Quantenmechanik letztlich keine Schwierigkeiten mit dem Neuen Realismus hat – ganz im Gegenteil. Ich habe so viele Zuschriften bekommen aus der Quantenphysik, dass ich das inzwischen sehr ernst nehme. Wir haben ein neues Forschungszentrum gegründet, das Zentrum für Wissenschaft und Denken. Das leite ich gemeinsam mit einem Quantenphysiker. Das ist an der Universität Bonn zustande gekommen, weil mich viele Quantenphysiker ansprechen und mir sagen, das, was ich mache, sei im Grunde eine Form von Physik. Ich habe jüngst bei den Physikern an der Universität Tokio einen Vortrag über meine Sinnfeldontologie gehalten, da meldete sich ein Stringtheoretiker und sagte: »Das ist doch ganz konservative Quantenmechanik, was Sie da machen!« Dem habe ich gesagt, ich hätte damit nichts zu tun, ich sei ja kein Physiker. »Doch, das ist reine Quantenmechanik«, sagte der daraufhin! Er konnte keinen Unterschied sehen zwischen dem, was ich anbiete, und der sogenannten relationalen Interpretation der Quantenmechanik. Die wird in der Philosophie wenig diskutiert. Am ehesten noch von Carlo Rovelli, einem im Moment sehr populären Physiker, der, nebenbei gesagt, auch ein durchaus guter Philosoph ist. Carlo hat mir als Erster beibringen wollen, der Neue Realismus sei im Grunde eine Form von Quantenmechanik. ...




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Interessant, dass du dich gerade auch so für Quantenphänomene interessierst. Man könnte dies 'Überlagerung' nennen. Was für ein Nerd-Joke.



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Di 31. Mär 2020, 20:15

Markus Gabriel hat geschrieben : Richtig ist jedenfalls, dass die Quantenmechanik letztlich keine Schwierigkeiten mit dem Neuen Realismus hat – ganz im Gegenteil. Ich habe so viele Zuschriften bekommen aus der Quantenphysik, dass ich das inzwischen sehr ernst nehme. Wir haben ein neues Forschungszentrum gegründet, das Zentrum für Wissenschaft und Denken. Das leite ich gemeinsam mit einem Quantenphysiker. Das ist an der Universität Bonn zustande gekommen, weil mich viele Quantenphysiker ansprechen und mir sagen, das, was ich mache, sei im Grunde eine Form von Physik. Ich habe jüngst bei den Physikern an der Universität Tokio einen Vortrag über meine Sinnfeldontologie gehalten, da meldete sich ein Stringtheoretiker und sagte: »Das ist doch ganz konservative Quantenmechanik, was Sie da machen!« Dem habe ich gesagt, ich hätte damit nichts zu tun, ich sei ja kein Physiker. »Doch, das ist reine Quantenmechanik«, sagte der daraufhin! Er konnte keinen Unterschied sehen zwischen dem, was ich anbiete, und der sogenannten relationalen Interpretation der Quantenmechanik. Die wird in der Philosophie wenig diskutiert. Am ehesten noch von Carlo Rovelli, einem im Moment sehr populären Physiker, der, nebenbei gesagt, auch ein durchaus guter Philosoph ist. Carlo hat mir als Erster beibringen wollen, der Neue Realismus sei im Grunde eine Form von Quantenmechanik.




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Jörn Budesheim
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Sa 11. Apr 2020, 08:59

Bild

Bei Facebook kursieren zurzeit eine Reihe von sogenannten Challenges. Manchmal handelt es sich dabei um kleine mathematische Rätsel, bei denen man Rechenaufgaben anhand von Bilder lösen muss, wobei jedes Bild in der Regel für eine Zahl stehen soll.

Hier eine philosophische Challenge zu der Frage, wie eindeutig solche Challenges sind: stellen wir uns die einfache Frage, mit wie vielen Gegenständen wir es hier zu tun haben. Dann zeigt sich nämlich, dass die Frage gar nicht ohne weiteres zu beantworten ist. Wer den Thread gelesen hat, der kennt natürlich auch den zugrundeliegenden Gedanken.

Die erste mögliche Antwort mag vielleicht 3 sein. Wir zählen nämlich einfach die Kreuze. Dann könnte man jedoch einwenden, warum wollen wir nicht die einzelnen Striche zählen und kommen dann auf die Zahl 6?! Die nächste wird vielleicht folgendes vorschlagen: wir können schließlich auch kleine Grüppchen bilden: warum sollten nicht zwei oder auch drei Kreuze zusammen einen eigenständigen Gegenstand bilden? Dann kommen wir auf jeden Fall auf eine deutlich höhere Zahl. Ein Spaßvogel wird vielleicht vorschlagen, dass wir es hier mit einer Unterschrift zu tun haben. Dann tritt wieder jemand dazu und reklamiert: "die Kreuze sind doch bloß Augenschein" - wir müssen die Pixel zählen. Kürzen wir es ab, am Ende kommt ein Physiker und behauptet dort gäbe es nur Quarks. Und die zu zählen dürfte eine ziemliche Aufgabe sein :)

Wir stellen also fest, dass die Frage "wie viel Gegenstände sehen wir hier?" keineswegs eindeutig ist! Daher können wir auch nicht - so mir nichts dir nichts - entscheiden, welches die richtige Antwort ist. Denn die richtige Antwort hängt davon ab, was wir in diesem Rätsel überhaupt sinnvollerweise als Gegenstand bestimmen können.

Auch das Folgende ist nicht ausgemacht: die einen werden aus diesem kleinen Gedankenexperiment vielleicht einen fröhlichen Konstruktivismus/Relativismus machen, während andere (wie z.b. ich) geneigt sind, daraus eine realistische Ontologie abzuleiten.

Das Gedankenexperiment ist eine Variation über eine Idee von Hillary Putnam!




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Sa 11. Apr 2020, 13:21

Die Antwort lautet: Es sind indefinit viele Gegenstände. Ich wollte schon immer mal an einer Challenge mit realistischen Gewinnchancen teilnehmen :)



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:D




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Mo 13. Apr 2020, 05:39

Markus Gabriel hat geschrieben : »Das ist doch ganz konservative Quantenmechanik, was Sie da machen!« [...] relationalen Interpretation der Quantenmechanik




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Mo 13. Apr 2020, 05:39

Markus Gabriel hat geschrieben : »Das ist doch ganz konservative Quantenmechanik, was Sie da machen!« [...] relationalen Interpretation der Quantenmechanik
Das würde heißen, dass die begriffliche Nähe zur Quantenphysik kein Zufall ist. Denn hier wie da spricht man von Feldern; und Felder sind auch bei Gabriel etwas relationales.

Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, dass man das Beispiel oben rein quantenphysikalisch ausformulieren kann.




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