Sinnfelder etc.

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
Tosa Inu
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Di 21. Aug 2018, 13:24

Alethos hat geschrieben :
Di 21. Aug 2018, 12:48
Wir können gerne eine akribische Kant-Analyse durchführen und einen entsprechenden Thread starten, denn auch ich habe gewissen Nachholbedarf (und eine gewisse Lust darauf). Was man aber sicherlich jetzt schon sagen kann, ist, dass Kant einen subjektiven Idealismus vertreten hat, der es eben gar nicht denkbar werden lässt, über das die subjektiven Bedingungen Transzendierende etwas aussagen zu können.
Das ist nicht richtig.
Man kann nach Kant sehr wohl etwas über die objektive Welt aussagen, die Begründung liefert er selbst in er KdrV in der Fußnote zur Vorrede, in der auch vom Skandal die Rede ist, sowie dann im Haupttext unter B 274 und folenden, die Passagen habe ich im Original gelesen, darin eine so überschriebene "Widerlegung des Idealismus".
Alethos hat geschrieben :
Di 21. Aug 2018, 12:48
Ein Ding an sich zu postulieren, und darüber überhaupt etwas zu sagen, auch über seine Unerkennbarkeit, ist ein performativer Widerspruch.
Nur dann, wenn man behauptet, dass was man nicht erkennen kann, zu beschreiben.
Alethos hat geschrieben :
Di 21. Aug 2018, 12:48
Kant vermeidet es, wo immer möglich, etwas über dessen Bestimmungen auszusagen und beschränkt sich auf die transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis. Damit aber schliesst er das eigenste Wesen der Realität der Dinge aus, denn sie sind ihm nie an sich gegeben noch gelten seine Bestimmungen jemals für sich, sondern immer nur in der Form von Erscheinungen, Sinnesdaten und Urteilen.
Er sagt eigentlich nur, dass die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis bestimmte Folgen hat, nämlich nach ihm die, dass wir das Ding an sich nicht wahrnehmen können, unklar bleibt, was das Ding an sich ist. Dass der Baum, den man sieht aber nicht existiert oder nur ein Produkt meiner Einbildung sein könnte, weist er mit Nachdruck zurück, sein Argument ist die "Beharrlichkeit" der äußeren Eindrücke, im Gegensatz zu den inneren.
Alethos hat geschrieben :
Di 21. Aug 2018, 12:48
Was Kant aber nicht leistet, so scheint es mir nach jetzigem Kenntnisstand, ist, die Erscheinungen als eben genau das anzusehen: gegebene Dinge in ihrem Ansichsein für uns.
Doch exakt das tut er und leider hat Dich Gabriel hier auf eine falsche Fährte geführt.
Alethos hat geschrieben :
Di 21. Aug 2018, 12:48
Aber wir können die Parallelen und Lücken zwischen Kant und Gabriel wie gesagt gerne herausarbeiten. Schliesslich baut Gabriel einen deutlichen Kontrast zum Idealismus kantscher Prägung auf und vielleicht liessen sich seine Positionen entlang dieser Konturen besser darstellen.
Können wir von mir aus machen, nur was Gabriel im Zitat behauptet stimmt ganz einfach nicht.

Kant sagt, dass die Welt real ist, wir zu dieser Realität nur einen subjektiven, durch gewissen Erkenntnisbedingungen begrenzten Zugang haben, dies aber ein Zugang zur realen Welt ist, es darüber hinaus aber noch mehr gibt, als das, was wir wahrnehmen können. Die Beschaffenheit dieses Dings an sich ist nicht die pure Addition sämtlicher Wahrnehmungsweisen, sondern das Gedachte, zu dem man als Noumenon Zugang hat, in anderen Variationen dann wohl wieder keinen. Das läuft aber bei Kant unter Erkennntistheorie.

Descartes sagt, dass nicht zweifelsfrei belegt ist, dass die Welt eine Illusion, Phantasie, Täuschung sein könnte. Dairn folgt ihm im Grunde niemand mehr.

Die radikalen Konstruktivisten sind es, die in einer harten Variante sogar die Existenz einer unabhängigen Realität bezzweifeln, meistens jedoch sagen, dass wir nur die Wirklichkeit wahrnähmen und diese nicht identisch mit der dahinterliegenden Realität sei, die sich uns immer ins Unerreichbare entzieht.
Gegen diese Position wendet sich Gabriel und das völlig zurecht, u.a. weil die Konstruktivisten ihren ontologischen Quietismus nicht durchhalten.
Wenn man anführt, dass andere die Brücke doch auch sehen und entgegnet wird, die anderen seien ja auch nur ein Produkt der Wahrnehmung, ist die Grenze zum Solipsismus überschirtten.
Aber eigentlich führt diese Haltung zu vielen absurden Konsequenzen.

Einige Konstruktivisten würden sagen, das Fahrrad auf dem wir fahren, sei nicht real, Kant würde das nicht behaupten.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Mi 14. Aug 2019, 23:19

Habe nochmal über die 'Nichtexistenz der Welt'-Theorie nachgedacht und habe bei Kant gefunden, dass er diese bereits als nicht real vorkommend beschreibt. Gabriel bringt hier wohl einen markigen Slogan, aber nichts wirklich Neues.

Auch bei Kant ist die Welt (das Weltganze, dessen Existenz durch Gabriel in Abrede gestellt wird) bloss eine regulative Idee. Dies führt übrigens Gabriel gegen Kant ins Feld, wenn er ihm diese Idee der Welt als 'regulatives Prinzip' vorhält. Kant sei hier nicht konsequent gewesen, postuliere er
doch ein Weltganzes, wenigstens in der Idee, so Gabriel.

Aber sofern Gabriel ja selbst zugibt, dass alles exisiere, insofern es alles gebe (nur eben nicht die Totalität alles Seienden als Welt) bestreitet er mit Kant die Welt im Sinne eines Weltganzen. Es gebe wohl ein jedes, sofern es erscheine, nur eben nicht die Gesamtheit dieses jeden als die Gesamtheit dieses Alles unter dem Aspekt des Ganzen. Und genau dies hat Kant ausformuliert: Es gibt nach ihm dieses Ganze nicht als konstitutive Idee (so dass alles existiere in einem Sinn), sondern nur als regulative Idee (nach der Art und Weise, alles zu denken, insofern ein jedes nach der Idee gedacht wird), also als ob es diese Gesamtheit gäbe, ohne dass die Existenz dieser Gesamtheit behauptet würde. Und das meint auch Gabriel, wenn er meint, die Welt als Sinnfeld aller Sinnfelder gäbe es nicht: Es gibt alles im Sinne eines jeden, sofern es in einem Sinnfeld erscheint. Es gibt keine konstitutive Allheit für ein jedes, also ein Ganzes, woraus ein jedes seine Existenz schöpfe. Also nicht so, dass es die Totalität dieses Alles gäbe, aber doch so, dass es alles geben müsse, was es gibt, ein jedes also so zu denken sei, dass sei, was sei, sofern es erscheine in einem je spezifischen Sinn. Dieser spezifische Sinn zu sein ist die Regel oder die regulative Idee bei Kant: Dass alles
wie ein jedes gedacht werde, sofern es ist und zwar als ob es nach der Idee strebe, in diesem je spezifischen Sinn die Summe all dessen zu sein, was ist, ohne dass die Idee des Weltganzen jemals wirklich werden könne, sondern eben nur als Regel gelte, die Existenz von allem zu denken.. in einer infiniten oder indefiniten Reihe einer jeden Erscheinung.



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Fr 16. Aug 2019, 12:10

Dass die Welt nicht existiert, sondern nur eine regulative Idee ist, das verstehe ich so: die Welt ist ein Fixpunkt im Denken, etwas, woran man sich im Denken orientieren kann, so als ob es das gäbe, wie du sagst.

Ich verstehe jetzt jedoch nicht, warum du glaubst, es gebe bei Gabriel irgendeine Entsprechung dafür? Er sagt zwar tatsächlich, dass es alles gibt, außer der Welt. Aber "alles" ist bei ihm klein geschrieben und nicht groß :)




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Alethos
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Fr 16. Aug 2019, 20:20

Ich schätze, auch die Kleinschreibung ist nur Effekthascherei :) Die Welt als 'Sinnfeld aller Sinnfelder' kann es logisch gesehen nicht geben, weil sie eine ontologische Klammer im Nichts darstellen würde, die ja selbst umklammert sein müsste, damit sie erscheinen kann. Das ist ja die Definition von Existenz: Erscheinung in einem Sinnfeld. Wenn nun aber nach dieser Definition das 'Sinnfeld aller Sinnfelder' existieren können wollte, müsste es in einem Sinnfeld erscheinen können, das grösser wäre als das Sinnfeld aller Sinnfelder. Die Welt in diesem monistischen Sinne kann also unmöglich Erscheinung sein, wo wollte sie denn auch erscheinen?
Aber dies stellte Kant lange vor Gabriel fest, dass es Welt als ein Konstitutiv von allem nicht geben könne, denn es müsste jenseits dieser Welt den Grund für diese Welt legen. Eine Welt ausserhalb der Welt kann keine Erscheinung sein, mithin ist ihre Existenz (als realmögliche Erscheinung) sowohl empirisch als auch logisch (durch Anschauung oder Begriffe) nicht gegeben, und dies notwendig. Das hielt Kant fest und Gabriel hat hier nichts Neues gezeigt.

Bleibt somit nur Welt als Regulativ, wo sich Gabriel von Kant abheben könnte: Und ich meine, dass er dies nicht leistet. Denn eine regulative Idee bei Kant ist nun eben genau so etwas Inexistentes (eine nie realmögliche Erscheinung) wie eine konstitutive Idee mit dem Unterschied, dass die regulative Idee unserer Vernunft Regeln gibt, einen (idealen) Fluchtpunkt zu denken, als ob es ihn gäbe, nach dem sich unser Begriff der Totalität einordnen kann, wobei klar wird, dass diese Totalität nicht das abgeschlossene Ganze bedeuten kann, sondern als indefinite Menge von jedem Einzelnen zu begreifen ist. Diese nicht das Ganze meinende (sondern die Gesamtheit meinende) Totalität setzt Gabriel genauso voraus, wenn er sagt, dass alles existiere, das irgendwo erscheine. Er hat die Gleichzeitigkeit von allem, sofern es existiert, vor Augen, d.h. die Gemeinschaftlichkeit von allem in der Zeit. Es wäre auch für Gabriel unmöglich, Existenz überhaupt zu denken, wenn er bei den pluralen Erscheinungen nicht die Einheit in der Zeit voraussetzte. Und diese Einheit als 'Gemeinschaft von allem' ist nichts anderes als die regulative Idee, die Existenz von allem zu denken: alles nach der Regel zu denken, als ob es es gäbe, folglich in der Gemeinschaft des alles Existierenden und damit in der (indefiniten) Gesamtheit von allem.

Würde Gabriel Existenz nicht in der Gemeinsamkeit von allem in der Einheit der Zeit denken, so wären ihm gar kein Existenzbegriff gegeben, und erst ein solcher macht einen pluralen Existenzbegriff möglich: Denn nur insofern alles (ein jedes) in der Zeit vereinheitlicht ist, kann dessen Erscheinung die von der anderen Erscheinung verschiedene sein. Damit ist nicht gesagt, dass alles raumzeitlich sei noch, dass alles in einem singulären Jetzt (in einem präsentischen Zeitbegriff) gleichzeitig sei. Denn Zahlen oder ideale Dreiecke oder die Wahrheit des einmal Gewesenen und noch nicht Seienden, das ist ja nicht in diesem jetzigen Zeitabschnitt zugleich, sondern in der Zeit als der Bedingung von Erscheinung (Existenz) überhaupt zugleich. Sofern also Zahlen existieren, müssen sie eine Existenzform haben und es ist dies die Zeit, darin sie mit allem jemals Seienden zugleich sind. Das heisst also nicht, dass alles einen Seinsgrund hat in Zeit, sondern diese ist die Bedingung für den Sinn, in welchem ein jedes je ist und von dem ein jedes seinen Existenzsinn erhält



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Fr 16. Aug 2019, 20:52

In seinem Buch "Sinn und Existenz" erarbeitet Gabriel seinen Existenz- und Welt-Begriff insbesondere in Auseinandersetzung mit Kant und Frege. Dort kann man hingehen, um zu sehen, wo er diesen beiden Denkern folgt und wo er eigene Wege geht ;)

Die Welt als regulative Idee gibt es bei Gabriel natürlich nicht, dazu muss man nur sein Buch "warum es die Welt nicht gibt" von außen anschauen, es steht nämlich bereits im Titel :)

Den Titel versteht man schon, wenn man die Betonung auf das "die" legt. Es gibt nicht die Welt als einheitlichen Bereich. Seine "regulative" Idee ist, dass alle metaphysischen Versuche, die sich auf "Alles ist X" reimen, zum Scheitern verurteilt sind. Es gibt keinen einheitlichen Bereich für alles - sei es die Physik, sei es die Sprache, sei ist das Gehirn, sei Wasser, seien es Schwingungen oder was immer man nehmen möchte. Stattdessen haben wir es mit unendlich vielen nicht aufeinander reduzierbaren Bereiche tun. Diese Unendlichkeit, diese Pluralität ist sein Hauptgedanke. Seine "regulative Idee" ist, dass wir eine Welt weder brauchen noch haben können, auch nicht als regulative Idee.




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Alethos hat geschrieben : Er hat die Gleichzeitigkeit von allem, sofern es existiert, vor Augen, d.h. die Gemeinschaftlichkeit von allem in der Zeit.
Da es viele Dinge gibt, die gar nicht in der Zeit existieren (wie du selbst schreibst), z.b. Zahlen, ist das nicht der Fall.
Alethos hat geschrieben : und erst ein solcher macht einen pluralen Existenzbegriff
Es gibt keinen pluralen Existenzbegriff bei Gabriel. Das liegt er ja explizit dar, da es einige Denker gibt, die verschiedenartige Existenzbegriffe erwägen. (Ich meine, das gibt es sogar bei Frege) Es gibt bei Gabriel nur einen formalen Existenzbegriff und das ist Vorkommen in deinem Sinnfeld.




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Fr 16. Aug 2019, 22:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 16. Aug 2019, 21:25
Alethos hat geschrieben : Er hat die Gleichzeitigkeit von allem, sofern es existiert, vor Augen, d.h. die Gemeinschaftlichkeit von allem in der Zeit.
Da es viele Dinge gibt, die gar nicht in der Zeit existieren (wie du selbst schreibst), z.b. Zahlen, ist das nicht der Fall.
Nun mögest du mir verzeihen, Jörn, aber schlicht die Existenz (als Erscheinung) von allem ist bedingt durch die Zeit. Das heisst, dass auch Zahlen in der Ewigkeit vorkommen müssen.

Falls du einen alternativen Vorschlag hast, dann gerne. :)



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Fr 16. Aug 2019, 22:13

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 16. Aug 2019, 21:25
Es gibt keinen pluralen Existenzbegriff bei Gabriel. Das liegt er ja explizit dar, da es einige Denker gibt, die verschiedenartige Existenzbegriffe erwägen. (Ich meine, das gibt es sogar bei Frege) Es gibt bei Gabriel nur einen formalen Existenzbegriff und das ist Vorkommen in deinem Sinnfeld.
Damit meinte ich nicht, dass der Existenzbegriff an sich vielfältig wäre, sondern der Existenzsinn es sei. Existieren heisst in einem bestimmten Sinn sein, also in einem raumzeitlichen, einem politischen, als Quadrate, als Atome, als Bundeskanzlerin. Der Begriff gibt das Sein vor, in dessen Sinn etwas ist: Eine Hexe (da ist sie wieder :)) in MacBeth existiert in der Erzählung, als Wort auf der Buchseite, in meinem Gedanken als Idee, aber nicht im selben Sinn, wie der Baum, unter dem du gelegentlich deine Schachpartien spielst. Das Sein ist plural und darum brauchen wir epistemologische Differenzierungen, weil wir sonst immer auf einem Auge oder drei blind wären.



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Fr 16. Aug 2019, 22:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 16. Aug 2019, 20:52
Den Titel versteht man schon, wenn man die Betonung auf das "die" legt. Es gibt nicht die Welt als einheitlichen Bereich. Seine "regulative" Idee ist, dass alle metaphysischen Versuche, die sich auf "Alles ist X" reimen, zum Scheitern verurteilt sind. Es gibt keinen einheitlichen Bereich für alles - sei es die Physik, sei es die Sprache, sei ist das Gehirn, sei Wasser, seien es Schwingungen oder was immer man nehmen möchte. Stattdessen haben wir es mit unendlich vielen nicht aufeinander reduzierbaren Bereiche tun. Diese Unendlichkeit, diese Pluralität ist sein Hauptgedanke. Seine "regulative Idee" ist, dass wir eine Welt weder brauchen noch haben können, auch nicht als regulative Idee.
In Sinn und Existenz führt er seinen Gedanken aus und nimmt, sich von Kant abhebend, auf ihn Bezug. Diese Passagen sind interessant und ich habe sie mehrmals gelesen.

Wir gehen mit Kant und Gabriel einig, dass es DIE Welt nicht gibt, nicht als einheitlichen Bereich. Aber sofern Gabriel das Wort 'alles' in den Mund nimmt und eine formalisierende Existenzbedingung für dieses alles ausformuliert, meint er damit nun eben alles :) Wenn auch nicht in einem einheitlichen Sinn, aber doch in einer Totalität existiert alles: Denn für alles, ausser für Welt, gilt: dass es erscheine in Sinnfeldern. Wenn aber diese Definition von Sein auf alles Seiende angewendet werden sollen kann, dann kann dies nur unter Zuhilfenahme der Vorstellung gedacht werden, dass es diese alle tatsächlich gäbe, sofern es sie gibt. Und das ist die regulative Idee eines Weltganzen, welche nun eben nicht postuliert, dass alle Existenz aus einem Weltganzen hervorgehe und sich deshalb die Dinge in ihrer Existenz aufeinander reduzieren liessen. Das ist anders bei der konstitutiven Idee des Weltganzen: dass eben alles einen Sinn aus diesem Ganzen erhalte und somit subaltern existiere unter einem vorrangigen In-der-Welt-Sein. Das bestreitet Kant und das bestreitet Gabriel.



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Sa 17. Aug 2019, 07:54

Markus Gabriel hat geschrieben : Das vorliegende Buch will [...] ein neues Licht auf die traditionellen Fragen werfen, die unter den Oberbegriffen »Ontologie« und »Metaphysik« versammelt sind, indem es zwei Ideen aufgibt. Erstens die Assoziation von Ontologie und Metaphysik und zweitens die Idee, dass es eine vereinheitlichte Totalität dessen gibt, was existiert, ob man diese Totalität nun »die Welt«, »das Sein«, »die Realität«, »das Universum«, »den Kosmos« oder »die Wirklichkeit« nennt. Dagegen wird die positive Ontologie der Sinnfelder gesetzt, der zufolge es unzählige Sinnfelder gibt: bei einigen handelt es sich um objektiv bestehende Bereiche, in denen Gegenstände durch Regeln individuiert werden, unter denen sie stehen, sofern sie zu einem gegebenen Bereich gehören. Andere dagegen sind nicht von der Art, dass wir ihnen objektive Existenz zuschreiben, also derart, dass sie auch dann existiert hätten, wenn es niemals Begriffsverwender gegeben hätte.
Gabriel spricht von indefinit vielen Sinnfeldern. Es gibt bei ihm weder die Welt, noch das Sein, die Realität und auch nicht das All(es). Wenn er erklärt, warum es „alles gibt, nur eben nicht die Welt“, dann ist mit "alles" (kleingeschrieben) eben gerade nicht die Welt - als Sinnfeld aller Sinnfelder - gemeint und auch keine regulative Idee der Welt. Gemeint ist auch nicht, dass es eine bestimmte Zahl von Gegenständen in Sinnfeldern gibt. "Alles" - jedes einzelne - meint in dem Zitat z.b.: Was auch immer einem einfallen sollte - als Kandidat für Nichtexistenz (sehr beliebt: Einhörner) - in irgendeinem Bereich kommt es schließlich doch vor, und wenn es bloß der Gedanke ist, den man gerade gesponnen hat. Oder im Fall der Einhörner, ein Fantasie-Roman oder -Film.


Natürlich kommt auch der Begriff "Welt" irgendwo vor, z.b. in unserem philosophischen Vokabular. Was aber nicht vorkommt, ist ein einheitlicher Existenzbereich, in den sich alles einordnen ließe - damit ist z.b. gesagt, dass nicht alles, was es gibt, Physik ist.




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Zahlen haben weder eine räumliche noch eine zeitliche Ausdehnung. Es ist sinnlos, nach der Dauer der 7 zu fragen oder sie im Universum zu suchen.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 17. Aug 2019, 08:36
Zahlen haben weder eine räumliche noch eine zeitliche Ausdehnung. Es ist sinnlos, nach der Dauer der 7 zu fragen oder sie im Universum zu suchen.
Zeit ist aber nicht gleich Dauer, Jörn. Die 7 dauert nicht, sie ewigt.



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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 17. Aug 2019, 07:54
Markus Gabriel hat geschrieben : Das vorliegende Buch will [...] ein neues Licht auf die traditionellen Fragen werfen, die unter den Oberbegriffen »Ontologie« und »Metaphysik« versammelt sind, indem es zwei Ideen aufgibt. Erstens die Assoziation von Ontologie und Metaphysik und zweitens die Idee, dass es eine vereinheitlichte Totalität dessen gibt, was existiert, ob man diese Totalität nun »die Welt«, »das Sein«, »die Realität«, »das Universum«, »den Kosmos« oder »die Wirklichkeit« nennt. Dagegen wird die positive Ontologie der Sinnfelder gesetzt, der zufolge es unzählige Sinnfelder gibt: bei einigen handelt es sich um objektiv bestehende Bereiche, in denen Gegenstände durch Regeln individuiert werden, unter denen sie stehen, sofern sie zu einem gegebenen Bereich gehören. Andere dagegen sind nicht von der Art, dass wir ihnen objektive Existenz zuschreiben, also derart, dass sie auch dann existiert hätten, wenn es niemals Begriffsverwender gegeben hätte.
Gabriel spricht von indefinit vielen Sinnfeldern. Es gibt bei ihm weder die Welt, noch das Sein, die Realität und auch nicht das All(es). Wenn er erklärt, warum es „alles gibt, nur eben nicht die Welt“, dann ist mit "alles" (kleingeschrieben) eben gerade nicht die Welt - als Sinnfeld aller Sinnfelder - gemeint und auch keine regulative Idee der Welt.
Ich kenne das Gabrielsche Programm und ich befürworte den ontologischen Pluralismus. Ich halte jedoch den Slogan 'Es gibt die Welt nicht' eben genau für das: einen marketingtechnisch gewählten Aufhänger. Philosophisch-argumentativ ist an diesem Urteil nichts neu. Der Realismus will als neuer daherkommen, und insofern seine Sinnfeld-Ontologie nichts anderes sagt als: 'Dinge sind Dinge ihres Bereichs', auch selbst nicht neu. Der Neue Realismus ist zunächst selbst nur ein Slogan.



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Dann halten wir an dieser Stelle fest, dass du das glaubst und ich das Gegenteil :)




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Alethos hat geschrieben :
Sa 17. Aug 2019, 09:08
Die 7 dauert nicht, sie ewigt.
Was soll das heißen? Worin sollte der zeitliche Aspekt einer Zahl bestehen?




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 17. Aug 2019, 10:00
Alethos hat geschrieben :
Sa 17. Aug 2019, 09:08
Die 7 dauert nicht, sie ewigt.
Was soll das heißen? Worin sollte der zeitliche Aspekt einer Zahl bestehen?
Das ist eine falsch gestellte Frage, finde ich, weil sie Zeit im Sinne eines Aspekts denkt, quasi als eine Bestimmung der Dinge. Aber Zeit ist die Bedingung von Erscheinungen, mithin von allem Realen. Und darum geht es ja beim Realismus: um das Reale.



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Die Frage bleibt, was soll es bedeuten, dass die sieben ewig ist?




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Sa 17. Aug 2019, 10:31

Zahlen existieren, weil sie irgendwo erscheinen, sie existieren objektiv als Gegenstand der Logik. Und Logik existiert unabhängig vom Menschen als regelkonstituierte Abhängigkeiten von Beziehungen. Beziehungen aber sind in der Zeit, weil zu ihnen mindestens zwei Dinge gehören, die in Beziehung gesetzt sind, sie also zugleich sein müssen, um eine Beziehung zu sein.

Zeit ist dann die Bedingung von Logik, was aber nicht heisst, dass Zahlen zeitlich sind oder dass sie eine Dauer hätten. Sofern sie existieren, was wir annehmen müssen, sind sie in der Gleichzeitigkeit mit allem anderen.



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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 17. Aug 2019, 10:16
Die Frage bleibt, was soll es bedeuten, dass die sieben ewig ist?
Dass sie existieren mit allem anderen, aber nicht untergehen, wie das Ausgedehnte oder dasjenige von Dauer.



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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 17. Aug 2019, 10:16
Die Frage bleibt, was soll es bedeuten, dass die sieben ewig ist?
Gegenfrage: Was soll es denn mit Blick auf die Existenz von Zahlen bedeuten, dass sie existieren? Versuche bei deiner Antwort mit den Prämissen der Sinnfeld-Ontologie zu argumentieren.

Die Antwort, dass Zahlen z.B. im Bereich der Mathematik vorkommen, also im Sinnfeld Mathematik erscheinen, sehe ich kommen. Wo aber kommt das Sinnfeld Mathematik vor? Und die Antwort, sie komme als eigener Bereich unabhängig vor, kann ich nur gelten lassen, wenn du diesen Bereich selbst als existent darstellst, z.B. als aus sich selbst hervorgehend, emergierend etc.beschreibst. Aber emergieren kann etwas nur, wenn es in Zeit ist. Wenn du eine Alternative hast, bitte ich um Erläuterung deiner Argumente.



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