Meditation und ihr philosophischer Gehalt

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jovis
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So 30. Aug 2020, 15:58

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 13:34
Es ist doch falsch zu sagen, dass der Atem innen ist, wenn er innen und außen und im Übergang ist.
Ich nehme an, du wendest dich gegen die Vorstellung, er sei NUR innen. Aber es ist doch auch falsch zu sagen, er sei NICHT innen, wenn er doch innen und außen und im Übergang ist.

Ich hake etwas penetrant nach, weil ich sicher gehen möchte, dass du nicht doch irgendetwas interessantes ANDERES als ich denkst. Denn deinen Einwand, dass Denken, Erinnern etc. nicht innen sind, fand ich spontan ziemlich spannend und einleuchtend. Nur mit deiner ausschließenden Formulierung tue ich mich schwer.




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Jörn Budesheim
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So 30. Aug 2020, 19:44

Jovis hat geschrieben :
So 30. Aug 2020, 15:58
Aber es ist doch auch falsch zu sagen, er sei NICHT innen, wenn er doch innen und außen und im Übergang ist.
Das finde ich nicht.

Nehmen wir ein anderes Beispiel: eine wellenartige Bewegung. Zu sagen, dass die Welle ein Wellental ist, ist synonym damit zu sagen, dass sie gar keine Welle ist. Oder: von etwas, dass die Richtung von A nach B ist, zu sagen, es befände sich bei A, heißt zu leugnen, dass es sich dabei um eine Richtung handelt. Zu sagen, dass Gefühle etwas Inneres sind, ist ganz ähnlich.

Es geht dabei keineswegs nur um eine andere Ausdrucksweise, sondern es geht um einem diametral entgegengesetztes Verständnis, von dem, was ein Gefühl ist. Zu sagen, dass Gefühle innen sind, ist für mich Synonym mit der Aussage, dass sie eine schiere Illusion sind. Gefühle sind nach meiner Einschätzung jedoch Wahrnehmungen und sie verbinden uns mit der Welt.




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Jovis
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Mo 31. Aug 2020, 09:43

Ah, jetzt habe ich verstanden! Das Wellenbeispiel war sehr hilfreich. Wir meinen also anscheinend tatsächlich dasselbe, nur hatte ich das nicht konsequent genug weitergedacht.

Ich glaube, der entscheidende Punkt ist das Prozesshafte. Wenn man aus einem Prozess einen bestimmten Punkt isoliert und absolut setzt, verliert man das Ganze. Gefühle, Gedanken, Körpervorgänge sind keine Substanzen, die man isolieren und verorten kann, sie sind nichts Statisches, sondern Prozesse, die nur in ihrer Gesamtheit sind.

Eng damit verknüpft ist der Punkt der Wechselwirkung. Auch in Bezug darauf verlieren wir mit der Isolierung alles. Und da kommen wir zurück zum Buddhismus, dessen Weltsicht ja gerade auf der wechselseitigen Bedingtheit von allem beruht.




herbert clemens
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Mo 31. Aug 2020, 10:47

(Ich hatte jetzt länger keine Zeit mich zu beteiligen. Und auf so eine vielzahl kluger Gedanken eingehen?)

Alethos phänomenologische Gedanken gefallen mir.

Der Hinweis auf die „Ent-Subjektivierung“ von Friederike finde ich plausibel.

Auch der Hinweis von Jörn das Denken immer auch körperlich/leiblich gebunden ist.

(An anderer Stelle gegen Naturalismus sich wendend nicht das Gehirn denkt)

Vielleicht setze ich noch einmal neu an?

Ohne uns als Subjekte keine Freiheit und kein gemeinsames Ringen um Wahrheit.

Als Subjekt bin abgegrenzt von einem außen.

Ich verfüge mehr oder weniger souverän über meine Gedanken, Gefühle, Handlungsimpulse.

Mir fällt der altmodische Begriff Seele ein.

Jeder Mensch lebt dieses je eigene Leben.

Vielleicht könnte man von einem seelenleib reden, der den körperlichen Leib mit seinen Lebensprozessen durchdringt, der aber doch eine eigene Qualität hat?

Eine Zeile aus einem Schlager: Ich bin verleibt in die Liebe, vielleicht auch in dich.

Bevor ich mein Mitgefühl auf eine andere konkrete Person richte, fühle ich mich geliebt.

Meine Freude oder meine Trauer sind meine subjektiven Prozesse, die sich gar nicht auf ein Objekt beziehen müssen.





Der alte Mann wird schon wieder müde.

Noch ein paar Gedanken der letzten Tage hierhin kopiert.

Mögen sie zur Erläuterung dienen.

29.8.20

Ich fühle mich im Kraftfelde der Liebe, in der Fülle des Lebens.

Es ist eine nicht beweisbare Annahme meines Seins.

Diese Annahme ist nicht irrational.

Liebe ist ein Zentralwert menschlichen Lebens: Nächstenliebe, Solidarität, Geschwisterlichkeit, …

Diese „Liebe“ ist vernünftig.

Bevor ich die Liebe auf ein Objekt richte, stelle ich mir vor, dass ich mich in ihrem Kraftfeld befinde, dass ich von der „göttlichen“ Liebe getragen bin, …

dass ich mein kleines biographisches Ich im Selbst für einen Nu transzendiere

und fühle mich dann aufgerufen,

die Liebe in der eigenen Lebensfreude zu leben

und sie konkret auf meinen Alltag zu richten.

Corona-Gedanken,

Kuchen backen,

Essen kochen



27.8.20

wie schwer oder leicht ist es inne zu halten?

sich auf die Position des Selbst zu begeben?

Im Nichts zu verweilen

das Ego wahrnehmen als lieben Bruder

die Fülle der individuellen (N)Ich-Punkte bestaunen

in die Liebe zu sich Selbst und zu den Anderen zu gehen

hilfreich: das Fenster zu öffnen

den frischen Atem zu genießen

die Farben und Formen der Welt

den Geschmack der rotwangigen Äpfel imaginieren

„Grips“ wartet





30.8.20

Ich freue mich über den frischen Morgen.

Wäsche aufgehängt

lebe mit den Gedanken, dass ich überflüssige Sorgen durch Gedanken an die Zukunft vermeiden kann und auch die Unbille der Vergangenheit nicht ändern kann.

Anhaften vermeiden, eine buddhistische Lehre, die mir gefällt

verzichte dennoch (?), aber (?) auf Zazen

sonne mich in dem Gefühl geleibt zu sein

interessanter Schreibfehler: geliebt zu sein

und diese Liebe durch die Erfordernisse des Alltags zu tragen

So sei es




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Friederike
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Mo 31. Aug 2020, 16:58

Du meine Güte @Herbert, wenn wir Deine Liste Punkt für Punkt "abarbeiten" würden, wir säßen in Monaten noch dran. :lol: Aber ich glaube, ich verstehe - es sind Erkenntnisse, die durch Lesen und Hören und aus der Erfahrung gewonnen hast und die Du zugleich versuchst, jetzt zu leben.




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Jörn Budesheim
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Di 1. Sep 2020, 07:03

herbert clemens hat geschrieben :
Mo 31. Aug 2020, 10:47
Als Subjekt bin [ich] abgegrenzt von einem außen.
Jovis hat geschrieben :
Mo 31. Aug 2020, 09:43
Gefühle, Gedanken, Körpervorgänge sind keine Substanzen, die man isolieren und verorten kann, sie sind nichts Statisches, sondern Prozesse, die nur in ihrer Gesamtheit sind.

Eng damit verknüpft ist der Punkt der Wechselwirkung. Auch in Bezug darauf verlieren wir mit der Isolierung alles.
Zu dem zweiten Zitat: Ja, so ungefähr sehe ich das auch. Hingegen: dass das Subjekt abgegrenzt ist von einem Außen, ist für mich der Grund-Irrtum der Moderne. Die Begriffe Prozess und Wechselwirkungen sind sehr gut, um diesen Gedanken in Frage zu stellen. Mir gefällt der Begriff der Offenheit auch sehr gut. Vielleicht so: Unsere Wahrnehmungen sind prozesshafte Wechselwirkungen, die uns auf die Welt hin öffnen.

Die Idee, dass wir als ("relativ souveräne" Subjekte) von einem Äußeren abgegrenzt sind, führt jedoch leider dazu, dass nahezu alles existenzielle in einem Innen verortet wird: "Meine Freude oder meine Trauer sind meine subjektiven Prozesse, die sich gar nicht auf ein Objekt beziehen müssen." In einem Ausdruck von Wolfgang Welsch: das macht uns zu Weltfremdlingen.




herbert clemens
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Mi 2. Sep 2020, 08:06

Natürlich rede ich nicht der Isolierung das Wort.

Wer sich vorgängig von Liebe umfangen wähnt, und sein Handeln auf Liebe ausrichtet, fühlt sich nicht isoliert und weiß von Wechselwirkungen.

Dennoch will ich im Kontext von Meditation daran festhalten, dass es hier einen subjektiven Faktor gibt und dies entscheidend zum Verständnis beiträgt.

Freiheit scheint mir ohne eine Vorstellung eines Subjekts, Individuums, Person nicht denkbar.

Unsere freien Äußerungen hier wären nicht möglich.

Durch Meditation/Kontemplation/ … stärke ich meine Freiheit gegenüber herumflanierenden Gedanken, Gefühlen, Handlungsimpulsen.

Freiheit ist für mich Sinn kontemplativer Handlungen, die in der achtsamen Alltagswahrnehmung sich auf den Alltag ausbreiten lassen

uns zur bewussten konkreten Liebe (Solidarität, Mitgefühl, …) führen (können).

(Mein biographisches melancholisches Ich findet den Ausdruck „Weltfremdling“ ja nicht so unsympathisch.)

"Meine Freude oder meine Trauer sind meine subjektiven Prozesse, die sich gar nicht auf ein Objekt beziehen müssen." Für mich ist dieser Satz einfach eine Beschreibung eines Phänomens: Kennt ihr diese ungerichteten Gefühle nicht?

Ich bleibe ja nicht bei dieser Aussage stehen.

...




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Jörn Budesheim
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Mi 2. Sep 2020, 13:27

herbert clemens hat geschrieben :
Mi 2. Sep 2020, 08:06
Wer sich vorgängig von Liebe umfangen wähnt, und sein Handeln auf Liebe ausrichtet, fühlt sich nicht isoliert und weiß von Wechselwirkungen
Es reicht ja nicht hin, zu sagen, dass man sich von Liebe umfangen fühlen kann, das muss sich auch in den (philosophischen) Konzepten, die man vertritt, zeigen und es muss sich in diese einfügen, gewissermaßen mit ihnen kompatibel sein oder besser noch, sich aus ihnen ergeben.

Wie jedoch soll das möglich sein, sich "von Liebe umfangen" fühlen, wenn Liebe bei jedem Einzelnen etwas Inneres ist? Das ist nicht möglich.

Das erinnert mich entfernt an Wittgensteins berühmtes Beispiel vom Käfer in der Schachtel, das ich für unsere Zwecke umformuliere „Angenommen, es hätte jeder eine Schachtel [sein Inneres], darin wäre etwas, was wir ‚Käfer‘ [Liebe] nennen. Niemand kann je in die Schachtel [das Innere] des Anderen schauen ..." dann gäbe es keine Lebensvollzüge der Liebe, sie wäre nur ein Käfer im Inneren, der für unser Leben keine Bedeutung hat.

Damit Liebe (und andere Emotionen ebenso) für uns die kaum zu überschätzende Bedeutung haben, die sie nun mal haben, können sie nicht etwas sein, was wesentlich innen ist. Wenn man stets nur den Aspekt "Innen" betont, kann keiner von Liebe umfangen sein. (Und unsere Gefühle wären letztlich sinn- und gehalt, weil bezugslos.) Hermann Schmitz, der Phänomenologe sagt passend: Gefühle sind keine Privatsache.

Ein einfaches Gegenbeispiel aus dem Leben wäre ein liebevoller Blick oder eine Berührung. Wie sollten ein Blick und eine Berührung innen sein? Das wäre wie eine Welle, die nur ein Tal hat.




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Jörn Budesheim
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Do 3. Sep 2020, 06:29

Jovis hat geschrieben :
Mo 31. Aug 2020, 09:43
Gefühle, Gedanken, Körpervorgänge sind keine Substanzen, die man isolieren und verorten kann, sie sind nichts Statisches, sondern Prozesse, die nur in ihrer Gesamtheit sind.
Gerald Dittel hat geschrieben : „nach Aristoteles ist der Geist thyrathen, das heißt er kommt ‚zur Tür herein’; aber wir wissen nicht, woher er kommt.“ (Frankl 1996, 117, zitiert nach Gerald Dittel)
W. Hogrebe hat geschrieben : „Geist ist außen, bricht aber innen durch“
Gefühle und Gedanken sind zwar keine Substanzen, die man verorten kann, wie du schreibst, aber dennoch finde ich die beiden Beobachtungen von Hogrebe und Aristoteles plausibel. Das entspricht auch gängigen Metaphern für die Meditationsübungen: man spricht von den Gedanken als Wolken, die vorbeiziehen. Oder, man sagt im alltäglichen Sprechen, dass man einen Einfall hat. Man spricht auch davon, dass man einen Gedanken ergreift oder erfasst. Bestimmte Gedanken liegen in der Luft.

Ein anderer Punkt, der dazu gehört, ist die Frage, wo und wie wir leben: wir sind ja ständig umgeben von Dingen, die wir selbst erschaffen haben, die Sinnen und Zwecken folgen und Ausdruck unserer geistigen Fähigkeiten sind. Wir befinden uns zumeist in von Menschen geschaffenen Ordnungen. Auch in diesem eher profanen Sinn ist Geist etwas "Äußeres".

Zudem sind wir ja unentwegt von Unseresgleichen umgeben. Doch die Anderen sind ja keine kalten Dinge. Ihr Gesichtsausdruck, ihre Gesten, ihre Körper, ihre Kleidungen, ihre Handlungen ... das alles sind ja Manifestationen des Geistes (in einem weiten Sinn von Geist). Man könnte vielleicht sagen, dass unsere Lebenswelt ein Ort des (vielfach verkörperten) Geistes ist. Das gleiche gilt für die damit verknüpfte (lebendige) Natur: auch sie kennt Sinne, Richtungen, Funktionen und Zwecke. Und insbesondere müssen wir uns aus dieser Natur ernähren:, müssen sie essen, trinken und atmen.

Unser eigener Leib, der erlebte Körper ist keine Hülle mit einem Inneren, sondern einen dauernd pulsierendes, räumlich ausgreifendes und Richtungen habendes Leben inmitten von anderem Leben und Sinnzusammenhängen. Also alles andere als ein von außen abgegrenztes Subjekt.

In vielfachen Hinsichten leben wir also ständig "im Geist". „Geist ist außen, bricht aber innen durch“ (W. Hogrebe)




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Alethos
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Do 3. Sep 2020, 07:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 3. Sep 2020, 06:29
Unser eigener Leib, der erlebte Körper ist keine Hülle mit einem Inneren,
Was mir nicht aufgeht: Wenn es kein Inneres gibt, wie kann es denn ein Aussen geben?
Was meint Hogrebe, das Aussen breche Innen durch, und wie passt das zur Vorstellung, dass es kein Inneres gibt?



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

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Jörn Budesheim
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Do 3. Sep 2020, 07:37

Wenn du den Thread verfolgt hast, kannst du nachlesen, dass ich diese Ansicht nicht vertrete. Weiter oben habe ich das an vielen Beispielen, z.b. mit der Welle erklärt.




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Jörn Budesheim
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Do 3. Sep 2020, 09:34

Alethos hat geschrieben :
Do 3. Sep 2020, 07:32
Was meint Hogrebe, das Aussen breche Innen durch, und wie passt das zur Vorstellung, dass es kein Inneres gibt?
Hogrebe hat geschrieben : Geist ist außen, bricht aber innen durch.
Diese Verschränkung ist der Grund dafür, dass wir keine Möglichkeit haben, bloß außen oder bloß innen zu beginnen. Wer eine Kathedrale betritt, gelangt in einen Innenraum, der zugleich ein bleiverglaster Außenraum ist. Wer geboren wird, gelangt in seinen Innenraum, der ineins sein Außenraum ist. Aber dieser ist nicht bleiverglast, sondern leibverglast. Diese Raumverschränkung bekundet sich schon und zuerst in unserem 'Grundgefühl' vor Ort zu sein.
Ich hab mal das Zitat von Hogrebe mit etwas Zusammenhang herausgesucht. Hogrebe spricht von einer Verschränkung von Innen und Außen. Mir ging es zugleich um die Richtungen. Bewusstsein hat diese Richtung, es handelt von etwas, ist auf etwas gerichtet. Intentionalität ist ein Grundmoment des Bewusstseins. Man verfehlt die Bewusstseinsinhalte ihrem Wesen nach, wenn man diesen zentralen Aspekt auslässt und stattdessen nur von einem Innen spricht.

Die Grenze der Kathedrale ist aus Stein. Unsere Körper hat als "Grenze" eine Haut, die selbst (auch) ein Organ des Austausches ist.

Herbert meint jedoch das Gegenteil: "Als Subjekt bin [ich] abgegrenzt von einem außen."

Hier noch zwei Ergänzungen, die in eine ähnliche Richtung weisen und die Trennung von Innen und Außen infrage stellen.

Bei Gernot Böhme spricht hingegen von einem "Sein bei", die Wahrnehmung ist ein sein bei etwas: "[Man kann] sagen, dass wir bei den Dingen sind, die wir sehen. Unser leibliches Spüren ihrer Anwesenheit vollzieht sich nicht im Auge, sondert dort, wo die Dinge sind. ..." "Das Sehen eines Dinges ist eben nicht einfach das konstatierende Gewahren eines Dinges am Ort. Vielmehr greift das Gesehene in meine leibliche Ökonomie ein. ..."

Thomas Fuchs schreibt in "Verteidigung des Menschen": "In diesen Funktionskreisen von Wahrnehmen und Handeln nimmt die Sensorik die Motorik vorweg und erhält andererseits über diese fortwährend Rückmeldungen von der Umwelt. Das heißt, Rezeptivität und Spontaneität, »Innen« und »Außen« lassen sich nicht länger voneinander trennen ... wenn wir also immer schon handelnd in der Welt sind, dann gibt es kein abtrennbares »Inneres« mehr ..."




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Jovis
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Do 3. Sep 2020, 10:25

Ich habe leider gerade nicht viel Zeit, aber beim Beispiel der Kathedrale möchte ich doch gern einhaken. Denn selbst die Steinwand ist ja durchlässig! Sie wird vom Regen feucht, vom Wechsel von Hitze und Kälte rissig, sie ist ein Lebensraum für Tiere und Pflanzen ...

Ich bastele zurzeit am Gedanken der Funktion im Unterschied zur Substanz herum. Wir leben in einer phänomenalen Welt der Grenzen, der Einheiten, der Objekte. All diese Grenzen, die wir dafür setzen, sind ja nicht aus der Luft gegriffen, sind ja nicht illusorisch. Aber es sind funktionale Grenzen, keine substantiellen.




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Jörn Budesheim
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Do 3. Sep 2020, 10:48

herbert clemens hat geschrieben :
Mi 2. Sep 2020, 08:06
(Mein biographisches melancholisches Ich findet den Ausdruck „Weltfremdling“ ja nicht so unsympathisch.)
Mal ein paar Zeilen, was Welsch damit meint. Das ist übrigens auch einer der Zusammenhänge, von denen der moderne Begriff des "Subjekts", den du einforderst, seinen Ausgang genommen hat. "Das neuzeitliche Denken hatte den Menschen aus dem Kontext der Welt herausgeschnitten, hatte ihn isoliert und als ein Wesen betrachtet, das von ganz anderer Art sein sollte als die Welt. Die Gegenstände der Welt sollten grundlegend räumlicher Natur, res extensa sein, der Mensch hingegen sollte von geistiger, von denkender Art, sollte res cogitans sein. Das war der berühmte Cartesische Dualismus. Der Mensch wurde nicht mehr, wie früher, als ein welthaft-körperliches Wesen aufgefaßt, das dann auch noch geistige Potenzen besitzt, sondern als ein im Kern geistiges Wesen, das dann - leider - auch noch einen Körper besitzt. Dabei sollte die Welterfahrung, welche der Körper und die Sinne vermitteln, ganz und gar trügerisch, allein die geistige Konstruktion der Welt sollte wahr sein." (Wolfgang Welsch)




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Jörn Budesheim
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Do 3. Sep 2020, 18:02

Jovis hat geschrieben :
Do 3. Sep 2020, 10:25
Substanz
Hier hängt natürlich alles davon ab, was man unter diesen schillernden Begriff versteht?! Unter einer Substanz verstehe ich etwas, was auch für sich allein genommen existieren könnte.

Bei Grenzen muss man sich wohl immer fragen: Grenze für was?




herbert clemens
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Sa 5. Sep 2020, 11:28

@Jörn

Ich sehe mich in meinem Denken durchaus nicht im Gegensatz zu Welsch.

Natürlich ist meine Seele mit meinem körperlichen Dasein verwoben.





Du hast einen Kontext von philosophischer Moderne, den ich nicht habe.

Den du mir unterstellst.

Wenn ich sage, dass ich Liebe in mir wach mache, unterstelle ich doch nicht, dass Liebe ein Phänomen nur des jeweiligen inneren Menschen sei. Im Gegenteil.





Es geht mit an dieser Stelle nur darum, Meditation zu verstehen.

Bist Du nicht ein Individuum, das Meditation auf deine persönliche Weise praktizierst

und in diesem Forum auf deine Weise deine Gedanken trägst?

Bist du natürlich unter bestimmten Bedingungen und Grenzen, frei dies auf deine Weise zu tun?





Ein Beispiel als Skizze in Stichworten:

Eine gute Freundin

von den zu alten Eltern nicht gewünscht

fühlt sich unerwünscht, dieses Gefühl taucht immer wieder auch in ihrem erwachsenen Leben auf

zeitweilig wird sie von leitenden Personen gemobbt

immer wieder erlebt sie Kränkungen

> das verstehe ich unter „biographisches Ich“

in der Biographie eines jeden sind eigene Befindlichkeiten und soziale Faktoren ineinander verschränkt.

> Ich verstehe unter Selbst den innersten Punkt (Nadelöhr), sich mit seinem biographischen Ich in ein Verhältnis zu setzen, und gleichzeitig im allgemeinen Geist der Wahrheit und Liebe aufgehoben zu sein.

In der Meditation gelingt es manchmal, sein Selbst zu berühren, den Freiheitsraum gegenüber biographischen und körperlichen Befindlichkeiten und gegenüber sozialen Anforderungen zu erweitern.




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Sa 5. Sep 2020, 11:54

herbert clemens hat geschrieben :
Sa 5. Sep 2020, 11:28
Ich sehe mich in meinem Denken durchaus nicht im Gegensatz zu Welsch.
Nur erst Mal kurz: An dieser Stelle skizziert Welsch den Begriff Weltfremdling. Das ist jedoch keine Position, die er bezieht, sondern eine Position, die er ablehnt.




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So 6. Sep 2020, 06:50

herbert clemens hat geschrieben :
Sa 5. Sep 2020, 11:28
Bist Du nicht ein Individuum, das Meditation auf deine persönliche Weise praktizierst und in diesem Forum auf deine Weise deine Gedanken trägst?

Bist du natürlich unter bestimmten Bedingungen und Grenzen, frei dies auf deine Weise zu tun?
Worauf willst du mit diesen beiden Fragen hinaus? Verstehst du sie als rhetorische Fragen? Für mich hört es sich so an, als gäbe nach deiner Auffassung einen Zusammenhang zu dem, was wir zuvor diskutiert haben. Aber welchen?

Danach erläuterst du dein Verständnis der Begriffe „biographisches Ich“ und "Selbst". Auch hier ist mir nicht klar, welcher Zusammenhang zu der vorhergehenden Diskussion besteht?!




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So 6. Sep 2020, 12:09

herbert clemens hat geschrieben :
Sa 5. Sep 2020, 11:28
Ich verstehe unter Selbst den innersten Punkt (Nadelöhr), sich mit seinem biographischen Ich in ein Verhältnis zu setzen, und gleichzeitig im allgemeinen Geist der Wahrheit und Liebe aufgehoben zu sein.

In der Meditation gelingt es manchmal, sein Selbst zu berühren, den Freiheitsraum gegenüber biographischen und körperlichen Befindlichkeiten und gegenüber sozialen Anforderungen zu erweitern.
Selbst, Ich, Geist, Liebe, Freiheit... Schreibt man diese Dinge groß, kann man schnell der Versuchung erliegen, sie zu verdinglichen. Das erlaubt einem, die Frage nach ihrem (raum-zeitlichen) Ort zu stellen. Hirnforscher erklären einem gelegentlich, dass es sowas wie ein Selbst oder ein Ich nicht gibt, weil man im Gehirn bisher keine entsprechende Schaltzentrale gefunden hat.

Ich kann mit der Idee, dass das Selbst ein innerer Punkt ist, nicht viel anfangen. Hat man die Begriffe Innen und Außen, hat man noch nicht viel. Es fehlt noch etwas, nämlich ich das entscheidende: das, was ein Innen gegenüber einem Außen aufweist. In einem einfachen Fall z.b. eine Hütte. Ich kann in der Hütte sein und außerhalb der Hütte. Wenn man sagt, dass das Selbst innen ist, was entspricht dann der Hütte? Der Körper? Das Bewusstsein? ...?

Wenn ich von mir sage, dass ich ganz ich selbst war, dann meine ich nichts Inneres. Ein Beispiel: Gestern war für mich ein schöner Tag, morgens war ich in unserer Galerie und habe ein paar Fotos von der Ausstellung gemacht, danach bin ich in den Kunstverein gegangen, dann im selben Haus in die Kunsthalle, danach zu einer Ausstellung eines Kollegen im Sepulkral-Museum und schließlich noch ein Abstecher in eine kleine temporäre Galerie ganz in der Nähe, wo ich wohne. Das ist mein Selbst oder mein Ich. Diese Episode ist auch nur ein Ausschnitt meines Selbst. Zu meinem Selbst gehören natürlich auch viele andere Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind und anderes mehr.

Das ist mit innen oder außen nicht gut beschrieben ... und das ist eigentlich auch nichts, zu dem ich erst finden muss, so bin ich eben. Ich habe nicht immer und durchgängig Gelegenheit, das in dieser Weise auszuleben, weil es naturgemäß gewisse Zwänge gibt, andere Dinge zu tun, z.b. meinen Lebensunterhalt zu bestreiten.




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Jörn Budesheim
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So 6. Sep 2020, 12:25

Der Ausdruck Selbst deutet ja auf einen Bezug hin: das Verhältnis, das ich zu mir selbst habe.

Bild

Und ungefähr in diese Richtung geht auch meine Vorstellung von dem, was ein biographisches Ich ist. Ich weiß gar nicht, ob man das sinnvoll von dem Begriff des Selbst trennen kann. Das biografische Ich besteht ja nicht darin, dass irgendetwas passiert ist, was man aufzählen kann. Sondern es besteht darin, dass man selbst sein Leben führen kann, muss oder darf. Und darin, dass man dieses Leben im Lichte dieses Wissens führt, insofern man die Freiräume, die man hat, erfüllt. Zum biographischen Ich gehören jedoch nicht nur die eigenen Entscheidungen, sondern auch die Zufälle, die die wir stets auch sind.




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